2 Ausgewählte psychische Störungen und spezifische Syndrome
Da bei manchen der hier aufgelisteten Störungen die Intelligenzminderung ein Symptom der zugrunde liegenden Schädigung ist, sie bei anderen psychiatrischen Krankheitsbildern jeweils „nur“ die Grundlage für das gehäufte Auftreten der Störung bildet, möchten wir eingangs darauf verweisen, dass die nachfolgend dargestellten Syndrome und psychiatrischen Störungsbilder in alphabetischer Reihenfolge geordnet sind, aber bei den psychiatrischen Störungsbildern vordergründig auf die Besonderheiten bei Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung eingegangen wird. Außerdem machen wir darauf aufmerksam, dass die hier dargestellten Störungen eine Auswahl darstellen, die sich besonders an den im Text vorgestellten Fallvignetten orientiert.
AD(H)S: Aufmerksamkeits-Defizit-(Hyperaktivitäts-) Syndrom
Die Vorkommenshäufigkeit dieser Störung liegt bei intelligenzgeminderten Kindern und Jugendlichen zwei- bis dreimal höher als in der Allgemeinbevölkerung (Emerson, 2003).
Allerdings herrscht Uneinigkeit darüber, ob die bei ADHS zu findenden Auffälligkeiten charakteristisch für Kinder mit Intelligenzminderung sind oder ob sie tatsächlich als eigene komorbide Störung auftreten.
„Für diese Kinder wird die Bezeichnung „verhaltensauffällig“ oder „verhaltensgestört“ verwendet, obwohl sie unter einem definierten Krankheitsbild leiden, der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS). [...] Wenn wir uns die ADHS in der frühen Kindheit anschauen, so kann sich eine Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Trotzverhalten entwickeln, ein bis ins Jugendalter reichendes aggressiv-dissoziales Verhalten resultieren,. Sich aus dem oppositionellen Verhalten eine Depression entwickeln, aus dem oppositionellen Verhalten auch ein aggressiv dissoziales Verhalten folgen, aus welchem sich schließlich im jungen Erwachsenenalter eine antisoziale Persönlichkeitsstörung entwickeln kann, aus aggressiv-dissozialem Verhalten und Depression, die sich auch gegenseitig bedingen können, kann ein Substanzmissbrauch entstehen“ (Ettrich & Ettrich, 2006b, S. 51).
Fest steht, dass mit abnehmendem IQ das Risiko für ADHS steigt. So kann eine medikamentöse Behandlung mit Methylphenidat oberhalb eines IQ von 50 zwar versucht werden, wird aber häufig nicht erfolgreich sein.
Angelman-Syndrom
Das Angelman-Syndrom ist die Folge einer seltenen genetischen Veränderung auf dem Chromosom 15. Sie geht oft einher mit psychischen und motorischen Entwicklungsverzögerungen, kognitiven Behinderungen, Hyperaktivität und einer stark reduzierten Lautsprachentwicklung. Diese ist zurückzuführen auf eine kraniofaziale Dysmorphie. Das ist eine von der Norm abweichende Fehlbildung von Kopf und Gesicht. Beim Angelman-Syndrom ist die Fehlbildung oft in der Mundregion zu finden (Waldschmidt, 2015).
Angststörungen
Es handelt sich hier um eine große Gruppe psychischer Störungen, bei denen entweder eine übertriebene unspezifische Angst oder eine konkrete Furcht vor einem Objekt bzw. einer Situation besteht. Bei Personen mit Intelligenzminderung treten alle denkbaren Formen von Ängsten auf, häufig wird aber ein darauffolgendes Verhalten nicht als angstmotiviert erkannt und deshalb an der eigentlichen Störung „vorbeitherapiert“. Auch bei diesen Patienten ist der Therapeut gut beraten, sich immer am spezifischen Entwicklungsstand des Patienten zu orientieren.
Eine Angststörung liegt vor, wenn bei Menschen die Furcht ein übersteigertes Ausmaß annimmt. Die wichtigsten Formen sind Panikstörung mit und ohne Agoraphobie, die generalisierte Angststörung, die soziale Angststörung und die spezifische Phobie. (F40.0, F40.1, F40.2, F40.8, ICD-10, Dilling et al., 2015).
Bei einer Panikstörung leidet man unter wiederkehrenden schweren Angstanfällen mit heftigen körperlichen und psychischen Symptomen, z. B. Herzrasen, Atemnot, Zittern, Schweißausbrüchen, Unwohlsein, Übelkeit usw.
Eine generalisierte Angststörung liegt vor, wenn anhaltende Sorgen und Ängste viele Lebensbereiche umfassen und nicht auf eine bestimmte Situation beschränkt sind. Die Angst kann ohne Grund auftreten.
Soziale Angststörung, auch soziale Phobie genannt, ist eine extreme Form von Schüchternheit. Menschen mit einer Sozialphobie haben in Situationen Angst, in denen sie sich von ihren Mitmenschen kritisch betrachtet oder beobachtet fühlen. Sie vermeiden Situationen, in denen sie anderen Menschen begegnen müssen.
Bei spezifischen Phobien wird die Furcht durch einzelne Objekte oder Situationen hervorgerufen, die in der Regel ungefährlich oder harmlos sind. Dazu gehört die Furcht vor Tieren wie Hunde, Pferde, Vögeln oder Insekten, die Höhenphobie oder auch die Schulangst bei Kindern.
Anorexia nervosa
Die Anorexia nervosa ist durch einen absichtlich selbst herbeigeführten Gewichtsverlust gekennzeichnet. Weitere Kardinalsymptome der Störung sind die Amenorrhoe (ein Ausbleiben der Menstruation), ein gestörtes Essverhalten und eine Störung der eigenen Körperwahrnehmung (Körperschemastörung) sowie die Leugnung des Krankheitswertes der Störung. Die Patienten (meist Mädchen) versuchen über die Instrumentalisierung des eigenen Körpers ihre psychischen Probleme wie mangelndes Selbstwerterleben, Ängste vor Zurückweisung und Ablehnung, Perfektionszwänge usw. zu lösen bzw. zumindest zu mildern. Sie geraten dabei in einen Teufelskreis, aus welchem sie sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien können, sondern therapeutischer Hilfe bedürfen. Das Störungsbild tritt zwar gehäuft bei Patienten mit normaler oder sogar hoher Intelligenz auf, ist aber durchaus auch bei solchen mit niedriger Intelligenz zu finden (vgl. Bsp. Josepha im Kap. 5.2 in diesem Buch).
Autismus
Der frühkindliche Autismus gehört zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen und zeigt folgende Hauptsymptome:
■ eine qualitative Abweichung der sozialen Kommunikation mit gestörtem nonverbalen Verhalten und ohne (oder zumindest sehr seltenen) Blickkontakten;
■ einem Mangel an sozialem Lächeln;
■ eine Unfähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen (Theory of Mind)
Dies führt zu mangelnden Freundschaften und überhaupt zu mangelnder sozialer Interaktion, die diese Kinder aber auch nicht zu brauchen und zu wollen scheinen, da sie „in ihrer eigenen Welt leben“, in der andere nur stören oder allenfalls wie Gegenstände „benutzt“ werden. Sie beschäftigen sich ausdauernd mit immer denselben Aktivitäten und Ritualen und beharren auf einer möglichst unveränderten äußeren Umgebung. Ihre Sprache ist, wenn vorhanden, von Stereotypien und Echolalie geprägt und dient nicht dem verbalen Informationsaustausch.
Zu den Autismus-Spektrum-Störungen werden in erster Linie der frühkindliche Autismus, das Asperger Syndrom und der Atypische Autismus gezählt.
Die Mehrzahl der Kinder mit Morbus Kanner hat eine deutliche Intelligenzminderung. Personen mit Asperger Syndrom haben in der Regel keine oder allenfalls geringfügige kognitive Defizite. Der Atypische Autismus findet sich am häufigsten bei schwerst intelligenzgeminderten Personen, deren sehr niedriges Funktionsniveau kaum spezifisch abweichendes Verhalten zulässt.
Der sogenannte High Functioning Autism“ (HFA) wird als Autismus mit hohem Entwicklungsniveau bezeichnet und weist keine geistige Behinderung auf (Domes, 2008).
Therapeutische Programme, wie das TEACCH-Programm (Schopler, 1972; s. auch Kap. 3.2.2), wurden ursprünglich für autistische Patienten entwickelt, eignen sich aber auch zur Nutzung bei aus anderer Ursache intelligenzgeminderten Patienten.
Bewegungsstörungen mit hirnorganischer Ursache
Hierunter zählen:
■ umschriebene Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen
■ Choreatiforme Syndrome (unregelmäßige, abrupte, drehende, schraubende, zufällig verteilte Bewegungen, schneller als Tics, langsamer als Dystonien)
■ Myokloniforme Syndrome (plötzliche, sehr kurz dauernde Muskelzuckungen)
■ Tics und Tourette-Syndrom (Tic: kurze, unwillkürliche, aber unterdrückbare Bewegungen; Tourette: Kombination mit vokalen Äußerungen)
■ Dystone Syndrome wie Athetosen (länger andauernde, komplexe Bewegungen und Haltungen)
■ Spastisch-dystone Syndrome (anhaltende Muskelkontraktionen, die häufig zu bizarren Haltungen führen)
■ Tremor (Muskelzittern)
■ Faszikulationen (Zittern einzelner Muskelfaserbündel, z. B. an der Zunge)
■ Spasmen (Muskelverkrampfungen)
■ Spastische Zerebralparese (hohe, eher starr wirkende Muskelspannung)
■ Dyskinetische Zerebralparese (eingeschränkte motorische Fähigkeiten infolge von Kleinhirnstörungen)
■ Ataktische Zerebralparese: kongenitale zerebelläre Ataxie (kleinhirnbedingte Gang- und Standunsicherheit)
Wir haben diese somatisch-neurologischen Störungsbilder hier mit aufgelistet, weil sie bei vielen, besonders schwerer intelligenzgeminderten Kindern und Jugendlichen vorkommen und die Entwicklung nachhaltig beeinträchtigen können.
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