1 | Grundlagen professioneller Beziehungsgestaltung
1.1 Inklusion
Der Artikel 24 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist in Deutschland im Jahr 2009 in Kraft getreten. Er geht auf die Beschulung von Schülern mit oder ohne Beeinträchtigungen ein. Inklusion fordert dazu auf, alle Schüler an einer Schulgemeinschaft teilhaben zu lassen. Hierfür muss die Schule ihre Strukturen, Haltungen und Praktiken durchdenken, eventuell überarbeiten, verändern und dann neu erproben.
Haltung
Schüler mit Verhaltensauffälligkeiten reagieren immer wieder sehr empfindsam auf die verbalen und nonverbalen Botschaften von Erwachsenen. Dies hängt auch damit zusammen, dass sie in ihrer Biografie bereits starken Stress und viele persönliche Kränkungen erfahren haben. Diese Schüler können mitunter sehr empfindsam sein, fühlen sich von Lehrkräften schnell unverstanden und abgewiesen und reagieren dann mit Rebellion oder Rückzug.
Hinderlich für die emotional-soziale Entwicklung dieser Schülergruppe ist das Leistungsmodell, das überwiegend in der Schule praktiziert wird. Unterstützt werden in diesem Modell eher Werte wie Anpassungsfähigkeit und Effizienz. Angestrebt wird die Etablierung von Gleichheitskulturen. Da dieses Modell auf den schnellen Wissenserwerb ausgelegt ist, braucht es den reibungslosen Unterricht; Konflikte stören den Prozess.
Max sitzt am Platz, jedoch ohne die erste Aufgabe zu den Bundesländern zu bearbeiten. Lehrkraft: „Komm’, Max, leg los!“ Max grinst. Lehrkraft (leicht genervt): „Du musst nur da die Länder eintragen, also los.“ Kurz nachdem sich die Lehrkraft von Max abgewendet hat, wendet er sich zu einem Sitznachbarn hin, schneidet eine Grimasse. Als der Mitschüler ihn ignoriert, lacht Max. Als die Lehrkraft dies sieht, ruft sie durch die Klasse: „Max, trag’ jetzt endlich deine Länder ein, die Zeit ist gleich vorbei, und lass ihn in Ruhe.“
Das Leistungsmodell ist kein hilfreicher Denkansatz für Schüler mit Verhaltensauffälligkeiten. Problematisch ist in diesem Modell die Tendenz zu folgender Störungsthese: Wer den Unterricht stört, will nicht teilnehmen.
Auch Schüler mit Verhaltensauffälligkeiten wollen lernen, sind aber besonders darauf angewiesen, in den Lernprozess behutsam und annehmend eingebunden zu werden.
Das Leistungsmodell unterstützt jedoch einseitig ein leistungsorientiertes Klima. Gefordert werden von den Schülern die leistungsbedingten Werte. Der hohe Bildungsdruck erschwert es den Lehrkräften, den zunächst häufig nicht angemessenen Verhaltensmustern dieser Schüler mit einer annehmenden Haltung begegnen zu können.
Fühlen sich Schüler mit Verhaltensauffälligkeiten von einer Lehrkraft jedoch nicht angenommen oder sogar abgewertet, greifen sie verstärkt auf ihre Muster zurück.
Dadurch kann sich zwischen ihnen und den Lehrkräften ein Interaktionsmodus entwickeln, der sich mithilfe des Spiels „Whac-A-Mole“ symbolisieren lässt: Aus einem Automaten mit Löchern kommen unvermittelt Maulwürfe hervor, die der Spieler mit einem Hammer wieder in die Löcher zurückschlagen muss. Im Verlauf des Spiels kommen die Maulwürfe schneller nach oben und der Spieler muss immer schneller „draufhämmern“. Der Fokus des Spielers wird während des Spiels zunehmend durch dessen Funktion (hämmern) geprägt. Im Verlauf des Spiels verengen sich Haltung und Reagieren des Spieler immer weiter auf das möglichst immer schnellere Hämmern. Die Funktion des Spiels verengt zunehmend die Wahrnehmung des Spielers.
So können sich durch zu viel Druck in Richtung eines einheitlichen Wissenserwerbs die Haltung, der Lehrerfokus auf das Schülerverhalten und die Interaktionen verengen.
Die Lehrkraft hat Max mittlerweile an einen Einzeltisch an die Wand gesetzt. Max hat nun einen „Smileyplan“ mit dem Ziel: „Ich arbeite zügig.“ Während in der Erdkundestunde der Smileyplan unter seinem Tisch liegt, dreht sich Max zum wiederholten Male zu seinen Mitschülern um. Stefanie ruft laut: „Frau Zwille, Max dreht sich die ganze Zeit um!“ Die Lehrkraft ruft vom Pult aus: „Max, fang jetzt an oder dein Punkt ist gestrichen.“ Während sich Max wieder umdreht, grunzt er und lacht. Die Lehrkraft geht zu Max (wütend): „Du arbeitest das in der Pause alles nach!“
Sich immer weiter aufschaukelnde Beziehungsdynamiken zwischen Lehrkräften und Schülern mit Verhaltensauffälligkeiten können ihren Ursprung in einer aufgrund des Leistungsprinzips verengten Haltung der Lehrkraft haben. Sie kann dadurch „schwierigen“ Schülern weniger mit Offenheit, Gelassenheit und Annahme begegnen.
Das neue Denkmodell der Inklusion verbindet Bildung und Erziehung gleichwertiger miteinander. Die Didaktik der Inklusion rückt dafür die Beziehungen im Schulhaus und Klassenraum in den Vordergrund. Unterschiede werden als Entwicklungspotenziale erkannt und akzeptiert. Die Gegensätze werden als real und wertvoll angesehen. Jeder soll mit seiner Individualität erfolgreich am Leben und Lernen der Schulgemeinschaft teilnehmen können. Konflikte werden nun als Chance postuliert. In den Spannungen (spannungsgeladene Emotionen, gegensätzliches Verhalten, usw.) liegen immer auch die Möglichkeiten für die Entwicklung der Persönlichkeiten der Schüler und dadurch für eine erfolgreiche Umsetzung des Erziehungsauftrags. Angestrebt wird in der Inklusion eine Verschiedenheitskultur: eine Einheit im Unterschied. Aus dem inklusiven Blickwinkel ergeben sich veränderte Fragen:
1. Wie können Schulsituationen mit einer aufbauenden Resonanz für einzelne Schüler gestaltet werden und ebenso mit einer die Klassengemeinschaft verbindenden Resonanz?
2. Wie kann mit unangenehmen Spannungen und auftretenden Konflikten im Schultag problemlösend umgegangen werden?
Praxis
Der erste und wichtigste Praxisansatz des inklusiven Modells ist die Gestaltung eines Klimas, in dem sich die Schüler angenommen und eingebunden fühlen. Damit Schüler und Lehrkräfte ein inklusives Wertegefühl entwickeln können, müssen die Werte erfahr- und spürbar gemacht werden. Dazu müssen sie zu Normen ausformuliert werden.
Erst über Normen entsteht ein Beziehungsrahmen, an dem sich alle orientieren können. Indem Normen eingeübt und Schwächen angenommen sowie für andere zu einem Signal der Unterstützung werden, kann sich allmählich ein Gefühl von Gemeinschaft entwickeln. In dieser Gemeinschaft können Schüler und Lehrkräfte – jeweils in ihren jeweiligen Aufgabenbereichen – immer verantwortungsbewusster handeln.
Inklusive Prozesse in einer Schule brauchen Zeit. Es ist eine Gemeinschaftsaufgabe, die von der Schulleitung geführt und von allen Kollegen getragen werden muss. Folgende Fragen können eine Gesprächsgrundlage bilden:
► Wie wollen wir mit unseren Schülern umgehen, wie nicht?
► Worauf legen wir Wert? Was soll für unsere Schule stehen?
► Wie verstehen wir einen Wert? Wie kommt dieser zum Tragen?
► Wie können wir Werte erfahr- und fühlbar machen?
► Wie praktizieren wir Werte im Schulhaus, wie in den Klassen?
► Wie können wir die Einzelaktivitäten wieder zusammenführen?
► Woran können wir erkennen, dass der Prozess erfolgreich ist?
► Wollen wir aus den Werten eigene Schulprinzipien gestalten?
Der offene Austausch im Kollegium über Werte kann Schritt für Schritt ein bei allen ähnliches Verständnis, Sprache und Blick auf die Situationen des Schultages anregen (Abb. 1). Schulprinzipien (Kap. 2.1) können einen öffentlichen Beziehungsrahmen anbieten.
Hier gilt das Credo: Was wir wollen, das Schüler tun, das tun wir selbst!
Ebenso kann ein inklusiver Prozess bei jeder einzelnen Lehrkraft beginnen. Dafür können folgende Fragen helfen:
► Welche Werte und Tugenden sind mir wichtig?
► Wie hebe ich die Tugenden meiner Schülern hervor?
► Wie binde ich Werte und Normen in den Unterricht ein?
► Kann ich das Thema im Kollegium eventuell ansprechen?
Abb. 1: Werte aus dem „Index für Inklusion“ (Beschreibung der Werte u. a. in Kersten 2012)
Fazit
Der Lehrerberuf ist im 21. Jahrhundert sehr komplex geworden. Durch das Zusammentreffen von Inklusion und Flüchtlingskrise hat sich die Schulrealität stark verändert. Großen Respekt verdient das Engagement der Lehrpersonen an den sogenannten Brennpunktschulen! Inklusion ist ein wertvolles Schulmodell, das aber die Verantwortungsübernahme auf der Ebene der Bildungspolitik braucht. Großer Bedarf herrscht auf der Ebene der Lehrerressourcen, insbesondere für die inklusive Grundschule. Inklusion braucht eine Weiterentwicklung von einer ausschließlich fachorientierten Ausrichtung in Richtung einer sozialen Lerngemeinschaft. Notwendig wäre eine Veränderung des Stundenplans. Die Einführung eines inklusiven Unterrichtsfaches, z. B. Soziales Lernen, könnte als eine „Wir-für-uns-Stunde“ umgesetzt werden, in der die Schulklasse anhand aktueller relevanter Themen gemeinsam lernt und es Raum für Gesprächsprozesse gibt.
Die Didaktik der Inklusion ist zwar keine spezifische Pädagogik für Verhaltensauffälligkeiten, bietet aber im Kern an, was diese...