1 Grammatikerwerb
1.1 Der ungestörte Grammatikerwerb in der frühen Kindheit
Schon in den ersten Lebensjahren erwerben Kinder in einem erstaunlich kurzen Zeitraum grundlegende kommunikative, phonetisch-phonologische und semantisch-lexikalische Fähigkeiten. Auf grammatischer Ebene entdecken, verstehen und verwenden sie nach und nach die wichtigsten morphologischen und syntaktischen Strukturen ihrer Erstsprache. Das erste Auftauchen grammatischer Formen ist jedoch keineswegs mit dem vollständigen Erwerb der zu Grunde liegenden Regeln gleichzusetzen. Die Ergebnisse der GED-Studie (Ulrich et al. 2016; Motsch 2017), in der der Grammatikerwerb sprachunauffälliger Kinder im Alter von vier bis neun Jahren untersucht wurde, verweist hingegen auf einen mehrjährigen Verlauf von der ersten Verwendung einer grammatischen Struktur bis zu deren abgeschlossenen Erwerb. Dieser wird erst bei einem Niveau von 90 % korrekter Produktion angenommen.
Clahsen (1986) hat in seinem Phasenmodell den eindrucksvollen grammatischen Entwicklungsverlauf in den ersten 3;6 Lebensjahren beschrieben. Seinen Angaben liegt das jeweilige beobachtete erste Auftauchen der grammatischen Formen zu Grunde, das also nicht mit dem Erwerb der Regel gleichgesetzt werden darf.
Während in Bezug auf die Altersangaben durchaus Abweichungen zu beobachten sind und die Geschwindigkeit variiert, ist doch festzustellen, dass die einzelnen Entwicklungsschritte von Kindern mit ungestörtem Spracherwerb tatsächlich in der von Clahsen beschriebenen Reihenfolge durchlaufen werden. Damit bietet das Modell eine geeignete Basis für die Analyse und Beschreibung der individuellen grammatischen Fähigkeiten. Zur Ableitung eines Therapiebedarfs muss ergänzend jedoch in den Blick genommen werden, in welchem Alter ein vollständiger Erwerb der jeweiligen grammatischen Regel zu erwarten wäre. Hierzu bieten die Ergebnisse der GED 4–9 Studie die erforderliche Orientierung (Motsch 2017).
Die wesentlichsten Entwicklungsschritte in Bezug auf die beginnende Verwendung morphologischer und syntaktischer Formen lassen sich wie folgt skizzieren:
Phase I (etwa 1;6 Jahre) hat eine Vorläuferfunktion für das Erlernen der Syntax und ist durch Einwortäußerungen gekennzeichnet. Es werden noch keine morphologischen Veränderungen der Wörter vorgenommen. Gegen Ende dieser Phase tauchen erste Reduplikationen oder Kombinationen von Einwortäußerungen mit Intonationseinschnitten auf.
In Phase II (etwa 2 Jahre) wird das syntaktische Prinzip entdeckt: Die Kinder kombinieren Wörter zu Zweiwortäußerungen mit variabler Wortstellung („Da Papa!“, „Papa da!“). Ist allerdings eines der Wörter ein Verb, so wird dieses bevorzugt an das Ende der Äußerung gestellt („Mama komm“). Zusammengesetzte verbale Elemente werden als Einheit behandelt und nicht getrennt. Morphologische Veränderungen der Wörter treten noch nicht auf: Verben erscheinen in der Infinitiv- oder Stammform. Ein gelegentliches Auftauchen der -t-Endung am Verb ist nicht als Entdeckung der 3. Person Singular zu bewerten, da es allenfalls unsystematisch genutzt wird. Vollkommen entwicklungsnormal ist in dieser Phase das Fehlen obligatorischer Satzglieder.
In Phase III (2;6 Jahre) sind dann bereits Vorläufer der einzelsprachlichen Grammatik zu beobachten. Die Kinder erweitern ihre Aussagen zu Mehrwortäußerungen, in denen die Auslassung obligatorischer Satzelemente jedoch nach wie vor phasennormal ist. Die ersten Hilfsverben werden verwendet. Einfache Verben nehmen zwar gelegentlich schon die Zweitposition im Satz ein, bevorzugt wird jedoch eindeutig die Endstellung des Verbs („Tine Auto malt“). Auch Verben mit Halbpräfixen finden sich zumeist als ungetrennte Einheit am Satzende („Da Band abschneiden.“). Infinitiv- und Stammformen der Verben kommen immer noch ausgesprochen häufig vor. Daneben werden nun jedoch die -t-Endung als Markierung der 3. Person Singular und die -e-Endung zur Kennzeichnung der 1. Person Singular genutzt und bisweilen übergeneralisiert, indem sie auch auf andere Personen angewandt werden.
Beeindruckende Entwicklungsschritte sowohl in der Syntax als auch in der Morphologie kennzeichnen die Phase IV (3;0 Jahre), in der einzelsprachliche syntaktische Besonderheiten entdeckt werden. Zunächst fällt auf, dass die Sätze vollständiger werden: Die Subjektauslassungen gehen rapide zurück, die Auslassungen anderer Wörter allmählich. Die Kinder verwenden mit der Verbzweitposition (V2) die zentrale syntaktische Regel des deutschen Hauptsatzes. Dabei muss keineswegs das Subjekt den Anfang des Satzes bilden. Diesen Platz können auch andere Konstituenten des Satzes (z. B. Objekte, Adverben, Fragewörter) einnehmen, die – in Abgrenzung von Subjekt (S) und Verb (V) – im Folgenden zusammenfassend als X gekennzeichnet werden. So gelingt häufig in dieser Phase die Verbzweitstellung nicht nur in einfachen SVX-Sätzen („Tine malt eine Blume.“), sondern auch in Sätzen, in denen das Subjekt nicht die Erstposition einnimmt, so dass eine Subjekt-Verb-Inversion (XVS) erforderlich wird, um das Verb in der Zweitstellung zu belassen. Dies betrifft Fragesätze („Was machst du?“), Sätze mit einer Voranstellung des Objekts (der so genannten Objekt-Topikalisierung: „Mehr Saft will ich!“) und Sätze mit vorangestellten Adverben („Da ist mein Teddy!“).
In Sätzen, die Verben mit Halbpräfixen enthalten, nehmen die Kinder bereits die erforderliche Trennung des Verbs vor („Tim malt die Wand an.“). Ebenso gelingt die Bildung von Sätzen mit mehrteiliger Verbalphrase, bei denen nur das finite Verbelement die Zweitposition besetzt, das infinite hingegen am Satzende steht („Ich will noch Kekse essen!“).
Neben diesen anspruchsvollen syntaktischen Merkmalen werden nun auch wichtige morphologische Markierungen vorgenommen. Der Grundsatz, dass die Verbform sich am Subjekt orientiert und an dieses anzupassen ist (Subjekt-Verb-Kongruenz/SVK), wird entdeckt und in vielen Sätzen korrekt angewandt. Als letzte Form tritt dabei die-st-Endung für die Markierung der 2. Person Singular auf, die damit auch diagnostisch besonders interessant ist. Auch Vergangenheitsformen sowie Partizipien werden bereits gebildet und weisen dabei gelegentlich phasennormale Übergeneralisierungen auf („Ich habe getrinkt“, „Teddy schlafte“).
Bei den Nomen steigt der Anteil korrekter Pluralformen allmählich an; es finden sich jedoch ebenfalls noch Übergeneralisierungen („Apfels“). Die Genusmarkierung ist hingegen im Nominativ nun schon häufig korrekt. Die Kinder formen schon Sätze mit Akkusativ- oder Dativkontexten. Eine morphologische Markierung des Kasus wird jedoch zunächst noch nicht vorgenommen. Stattdessen ist zu beobachten, dass der (eigentlich zu markierende) Artikel ganz ausgelassen wird („Ich esse Apfel“) oder eine Übergeneralisierung des Nominativs erfolgt („Ich esse der Apfel“).
In Phase V (3;6 Jahre) ist nicht nur eine Zunahme der Äußerungslänge zu beobachten, sondern auch die Verwendung einer stetig komplexer werdenden Syntax. Zunächst verbinden die Kinder zwei Hauptsätze durch „und“ sowie „oder“ zu Satzreihen. Bald darauf werden die ersten Satz gefüge aus Haupt- und Nebensatz produziert. Die ersten Konjunktionen werden erworben und als einleitendes Element des Nebensatzes genutzt. Übergeneralisierungen der Konjunktionen sind in diesem Alter als entwicklungsnormal anzusehen und deuten auf den Versuch des Kindes hin, mit seinen noch eingeschränkten lexikalischen Kompetenzen komplexe Inhalte auszudrücken. Zu den frühesten Nebensätzen zählen die Kausal- und Finalsätze, daneben finden sich erste Temporalsätze.
Im Bereich der Kasusmorphologie beginnt die morphologische Markierung des Akkusativs („Ich esse den Apfel“). Diese wird typischerweise zunächst auch auf Dativkontexte übergeneralisiert („mit den Hund“). Im Anschluss an dieses Übergangsphänomen steigt schließlich auch die Fähigkeit zur korrekten Dativmarkierung („mit dem Hund“). Die Sicherheit in der Zuweisung und Markierung des korrekten Kasus nimmt stetig zu.
Vor allem für die in Phase V beschriebenen Entwicklungsschritte liegen allerdings auch Untersuchungen vor, die auf ein abweichendes Erwerbs alter verweisen. So ist der Beginn der Nebensatzproduktion offenbar schon bei deutlich jüngeren Kindern zu beobachten (Berg 2007, 41 ff). Der Dativerwerb scheint hingegen auch vielen älteren Kindern noch Schwierigkeiten zu bereiten (Motsch/Riehemann 2008).
Neben der beschriebenen Entwicklung der grammatischen Fähigkeiten im Bereich der Sprachproduktion machen die spracherwerbenden Kinder aber auch Fortschritte in ihrer Verständnisfähigkeit (Hachul/Schönauer-Schneider 2012). So müssen die Kinder die früh eingesetzte Strategie, Sätze inhaltlich ausschließlich mit Hilfe einiger Schlüsselwörter zu interpretieren, aufgeben und zunehmend morphologische und syntaktische Merkmale als Mittel des Sprachverständnisses nutzen. Nur das Beherrschen des Kasussystems ermöglicht ihnen, etwa die Sätze „Der Kater jagt die Maus“ und „Den Kater jagt die Maus“ inhaltlich korrekt zu entschlüsseln. Das bereitet in der frühen Kindheit aufgrund der noch fehlenden linguistischen Kompetenzen zunächst...