„Sein Kind während der Pubertät zu lieben,
bedeutet regelmäßig einen Kaktus zu umarmen.“
(Sinnspruch des Monats in einer Hamburger Schule)
Die Prozesse der Pubertät werden zu einem bestimmten Zeitpunkt durch genetisch festgelegte Auslöser im Gehirn in Gang gesetzt, in jedem Kind mit unterschiedlicher Ausprägung und Intensität. Und so wie der Körper nacheinander oder manchmal auch gleichzeitig sichtbare neue Formen hervorbringt, so folgen die daran gekoppelten Reaktionen im emotionalen und geistigen Bereich. Die körperliche Möglichkeit, ein Kind zu zeugen oder zu gebären, reicht in unserer hoch spezialisierten Industriegesellschaft noch lange nicht aus, um ein Kind erfolgreich großzuziehen. Die geistige, emotionale und soziale Reifung schließt sich an und dauert viel länger als die körperliche Entwicklung.
In komplexen Systemen (Institutionen, Firmen, Staaten, Familien) durchlaufen alle daran beteiligten Personen bei tief greifenden Veränderungen typische Phasen. In Familien mit pubertierenden Kindern sind das in erster Linie natürlich die heranwachsenden Kinder selbst, aber auch deren Eltern und Erziehungspersonen, die ihren eigenen Wandlungsprozess durchmachen. Gerade wenn wir in engen Lebensgemeinschaften leben, bleibt niemand von diesem stürmischen Wachstumsprozess unberührt, da ja jeder mit dieser Zeit eigene Erfahrungen und Emotionen verbindet und sich auf seine neue Rolle vorbereitet. Wachstumsprozesse sind Veränderungsprozesse und lassen sich als solche beschreiben.
Die Psychiaterin und Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross hat 1969 fünf emotionale Phasen beschrieben, die Menschen angesichts des nahenden Todes durchlaufen – ebenso wie ihre nahen Angehörigen, die damit aus einer anderen Perspektive heraus fertigwerden müssen:
1. Nicht-wahrhaben-Wollen
2. Zorn
3. Verhandeln
4. Depression
5. Akzeptanz
Die Schweizer Psychologin Verena Kast unterscheidet 1989 vier ähnliche Phasen, die für Krisen typisch sind:
1. Nicht-wahrhaben-Wollen/Schock, Leugnung
2. Aufbrechende, chaotische Emotionen/Zweifel
3. Suchen, Finden und Sichtrennen/Akzeptieren
4. Neuer Selbst- und Weltbezug/Neuorientierung
In den letzten Jahrzehnten hat man diese Phasen auf Veränderungsprozesse übertragen, die sich in Familien abspielen oder auch in Unternehmen – und sogar in Staaten bei großen politischen Veränderungen.
Wir möchten diese Gefühlsphasen vorstellen, die sich bei Eltern während der Pubertät ihrer Kinder abspielen. Dabei unterscheiden wir – angelehnt an die beiden obigen Modelle – sieben Phasen, die in der Regel deutlich erkennbar sind. Wir beschreiben detailliert, woran man die einzelnen Phasen erkennt. Wir beleuchten Fragen, die sich für die Erwachsenen dabei ergeben, ebenso wie Fragen, die sich die Jugendlichen in dieser Zeit stellen. Wir machen auch Vorschläge, wie Sie in welcher Phase gut reagieren können, um Eskalationen zu vermeiden und sich gelassener und bewusster um die eigene Entwicklung zu kümmern. Denn im Lauf der Pubertät Ihres Kindes gewinnen Sie wieder zunehmend Zeit für sich selbst und Ihre eigenen Ziele und Wünsche – eine große Chance, die Sie unbedingt nutzen sollten!
Wie lange diese Phasen jeweils dauern, kann sehr unterschiedlich sein. Manchmal hat man den Eindruck, eine Phase hört nie auf, dann wiederum scheint eine andere Phase kaum stattgefunden zu haben. In jedem Fall gilt: Nehmen Sie sich Zeit, in Ruhe darüber nachzudenken, was gerade geschieht und was der mögliche Gewinn daraus sein kann.
Haben Sie dieses Buch gekauft, noch bevor sich bei Ihrem Kind die ersten Anzeichen einer Veränderung zeigen? Dann liegen noch alle sieben Phasen – von der noch etwas vagen Vorahnung bis zur geglückten Integration – vor Ihnen. Doch auch wenn Sie später „einsteigen“, in der schwierigen Phase der Abwehr etwa, kann es nicht schaden, wenn Sie sich auch die Phasen bewusst machen, die Sie bereits durchlebt und hinter sich gelassen haben.
In der folgenden Tabelle veranschaulichen wir unsere Reaktionen im Zusammenleben mit einem pubertierenden Jugendlichen durch einige typische Sätze, die so oder ähnlich in der jeweiligen Phase gesagt werden. Überlegen Sie doch einmal, welches Ihre typischen Sätze sind!
1. Vorahnung | Vater: „Ich müsste jetzt schon mit meinem Sohn über das Rauchen reden.“ Mutter: „Ich sollte jetzt mit meiner Tochter über ihre sexuelle Entwicklung sprechen.“ |
2. Schock | „Mich hat der Schlag getroffen, als ich ihn mit seiner neuen Frisur sah!“ „Ich erstarrte, als meine Tochter mich plötzlich anschnauzte!“ |
3. Abwehr und Widerstand | „Sonst hast du immer sonntags mit uns gefrühstückt – ich will, dass das so bleibt.“ „Früher hast du auch nicht zweimal am Tag geduscht – wer soll das bezahlen?“ „Seitdem du mit dieser Janine zusammen bist, haben wir überhaupt kein Familienleben mehr!“ |
4. Kapitulation | „Sie fährt jetzt allein nach Amsterdam – nun kann ich auch nicht mehr verhindern, dass sie Haschisch raucht.“ „Wenn du nichts mehr für die Schule machst, bleibst du eben sitzen – ich kann dir nicht mehr helfen.“ |
5. Abschied und Trauer | „Sie kommt nicht mal mehr zu Omas Geburtstag mit – das macht mich richtig traurig.“ „Ich bin so gern mit ihm schwimmen gegangen – jetzt ist er nur noch mit seiner Clique unterwegs.“ |
6. Öffnung | „Lass uns doch mal gemeinsam überlegen, wie wir das mit dem Weggehen regeln können.“ „Weißt du, ich würde gern mal mit dir in Ruhe darüber sprechen, wie es mit dem Taschengeld weitergehen soll.“ |
7. Integration | „Wie wär’s, wenn wir uns an jedem ersten Sonntag im Monat zum Essen treffen?“ „Ich finde es toll, wie du dich um die Einkäufe kümmerst, seitdem ich wieder ganztags arbeite!“ |
Haben Sie etwas wiedererkannt? Ist Ihnen ein eigener typischer Satz eingefallen? Natürlich sind diese Phasen nicht immer ganz genau voneinander zu trennen – schauen wir einmal etwas genauer hin.
Wenn unsere 9-jährige Tochter auf einmal ihren kindlichen Körper mit einem bauchfreien Top betonen will oder ihre Jeans mit der Schere traktiert, um den mageren, hohläugigen Models in der „Bravo“ zu ähneln, dann beschleicht uns die Ahnung, dass jetzt bald etwas Unumkehrbares mit ihr passieren wird – und damit auch mit uns, als Vater, Mutter oder andere Person, die ihr nahesteht. Diese Gedanken über das passende Outfit werden stark durch die entsprechenden Medien gefördert, das ist klar, und natürlich wird unsere Tochter wieder ihre Pferdeposter aufhängen und mit ihren Freundinnen Weihnachtskekse backen. Aber wir fühlen es im Inneren: Es ist bereits im Gange, in ihr geschieht die noch unsichtbare Vorbereitung auf den nächsten großen Entwicklungsschritt. Es ist mehr ein Fühlen als eine Gewissheit, und neben der Überraschung halten dann auch die Sorgen Einzug in unsere fürsorglichen Überlegungen: Ist sie in der Schule schon genug aufgeklärt worden? Weiß sie, dass sie ihre Regel bekommen wird, und wie wird sie das verkraften? Worauf muss ich sie vorbereiten? Und wie? Nicht zu viel für ihr kindliches Gemüt und nicht zu wenig für die werdende junge Frau? Wie wird mein Sohn sich verändern? Wird er seinen Sport weitermachen und weiter Gitarre spielen? Stimmt es, dass alle Jugendlichen in der Pubertät unausstehlich werden? Sie und er etwa auch? Wird sie so wütend werden, wie ich damals war? So schweigsam und verschlossen? Wird sie vielleicht auch mit 16 alleine verreisen oder gar ausziehen wollen?
Wir fühlen es im Innern: In unserem Kind geschieht die Vorbereitung auf den nächsten großen Entwicklungsschritt.
Der Nährboden für die positive oder sorgenvolle Färbung der Gedanken, die wir uns um unser Kind machen, sind – ohne dass wir das gewöhnlich realisieren – unsere eigenen Pubertätserfahrungen, die wir lange vergessen glaubten und die nun mit aller Macht ein bedrückendes Comeback feiern.
Ist bei uns damals alles ganz gut abgelaufen, ohne größere Krisen oder heftige Erlebnisse, dann haben wir innerlich eine ganz gelassene Haltung, etwa so: „Das wird schon alles gut gehen, ihr geht es ja gut und wir haben ein schönes Verhältnis...