Kapitel 2
Was Sie wissen müssen, bevor die Pubertät zuschlägt
Mia, 11, meinte es todernst: „Wenn ich eine eigene Wohnung und eine Kreditkarte hätte, könnte ich allein leben. Ich brauche euch wirklich nicht mehr.“ Wir kannten Mia, seit sie ein Baby war. Was war mit diesem süßen, verschmusten Mädchen passiert, dass sie jetzt ihre Eltern loswerden wollte? Nichts Ungewöhnliches. Sie kommt allmählich in die Kaktusjahre. Mit Mama kuscheln? Brauche ich nicht mehr. Zum Glück ist Mia noch kein ausgewachsener Kaktus und ihrer Mutter bleibt noch ein wenig Zeit, sich ihren eigenen Spielplan zurechtzulegen und Mia auf die nahende Teenagerzeit vorzubereiten.
Wenn sich die ersten Anzeichen der nahenden Pubertät zeigen, müssen Eltern vor allem eines wissen: Kinder sind auf Unabhängigkeit programmiert. Das Kind hat die Aufgabe, sich von den Eltern zu lösen und eine eigenständige Persönlichkeit zu werden. Wir wollen ja nicht, dass sie mit 30 oder 35 immer noch im Keller wohnen und keinen Job haben, oder? Als Eltern haben wir die Aufgabe, die Kinder loszulassen und sie auf dem Weg in ihr eigenes Leben so zu begleiten, dass sie keinen Schaden nehmen. Eine Mutter klagte mir (Claudia) frustriert: „Ich habe das Gefühl, dass ich die Kontrolle verliere.“ Und ich habe ihr geantwortet: „Genauso ist es. Aber wie du das tust, hast du selbst in der Hand. Du musst dich darauf einstellen, was kommt, und dir überlegen, wie du anfangen kannst, deine Tochter loszulassen.“
Es ist wirklich eine paradoxe Situation: Wir müssen mehr und mehr Kontrolle abgeben, aber das sollten wir so kontrolliert wie möglich tun! Kein Wunder, dass Eltern gestresst sind. Wie findet man denn dieses Gleichgewicht zwischen zu viel Kontrolle und zu wenig Begleitung? Alle Eltern, die ihr Kind lieben, suchen eine Antwort auf diese Frage.
Wir haben eine Zeit lang in Inzlingen gelebt, einer Kleinstadt an der deutsch-schweizerischen Grenze. Freunde hatten uns für ein Wochenende eine Ferienwohnung in Engelberg zur Verfügung gestellt. Der Winter war lang und eisig gewesen, aber jetzt zeigten sich erste Anzeichen von Frühling. Wir freuten uns auf diesen Kurzurlaub und darauf, die ersten Frühlingssonnenstrahlen zu genießen. Wir beluden den Wagen mit Lebensmitteln, dem nötigen Krimskrams und unseren drei Söhnen und fuhren in die Schweizer Alpen.
Am ersten Morgen brachen wir alle fünf auf zu einer Tageswanderung. Die Kulisse war faszinierend. Majestätische, schneebedeckte Berge umgaben das enge Tal, durch das wir liefen. Der Weg schlängelte sich an einem Bergbach entlang. Die ersten Frühlingsblumen steckten die Köpfe aus dem tauenden Schnee. Nirgendwo plärrte ein Gettoblaster. Das Smartphone musste erst noch erfunden werden. Kein Lärm von Autos oder Eisenbahn, einfach paradiesische Stille. Nur unsere lebhaften Jungs konnte man natürlich hören. Es war einer dieser Bilderbuchmomente in unserer Familiengeschichte.
Dann geschah das Unwahrscheinliche. Wir hörten ein Grollen, etwas wie einen Donner. Aber es war kein Gewitter. Es war … eine Lawine. Im ersten Moment waren wir starr vor Schreck. Wir kannten genügend Geschichten von Lawinenunfällen in den Alpen. Aber es war das erste Mal, dass wir selbst einen erlebten. Dann schnappten wir unsere Jungs und kletterten in Höchstgeschwindigkeit den Berghang hinauf. Okay, nicht gerade die beste Idee, werden Sie sagen – wir würden nur früher und weiter oben unter den Schneemassen begraben werden. Aber wir mussten einfach etwas tun. Dann beobachteten wir höchst erleichtert, wie die Lawine auf der anderen Seite des Tals hinabdonnerte.
Kinder zu erziehen ähnelt dieser Lawinenerfahrung. Lange Zeit läuft alles reibungslos und man genießt die gemeinsame Wanderung, aber plötzlich bricht die Katastrophe los. Ihre Tochter hat nur noch Widerworte, schleudert Ihnen ins Gesicht, dass Sie ihr Leben ruinieren und endet mit: „Ich hasse dich!“ Oder Ihr Sohn schafft die Versetzung nicht oder Sie müssen feststellen, dass er im Internet auf Pornoseiten herumsurft. Wenn die Pubertät sich ankündigt, können Eltern leicht den Eindruck bekommen, dass auf allen Seiten Lawinen lauern, die nur darauf warten, sich auf sie zu stürzen.
Aber wir müssen nicht tatenlos warten, ob die nächste Lawine uns trifft. Von der Lawinenforschung können wir etwas lernen. Die Lawinenforscher beobachten die Wetterlage und erzeugen, wenn nötig, durch kleine kontrollierte Sprengungen überschaubare Lawinen, damit sich die Schneemassen gar nicht erst auf ein Level aufhäufen, das zu einem unkontrollierten Lawinenabgang führen könnte.
Als Eltern von vorpubertären Kindern haben wir eine ähnliche Aufgabe. Wir müssen Wege finden, unseren Kindern nach und nach immer mehr eigene Verantwortung zu geben, und wir müssen dafür sorgen, dass sie sicher und in die richtige Richtung unterwegs sind. Es leuchtet ein: Kinder, denen ein gewisses Maß an Unabhängigkeit und Freiheit zugestanden wird, werden sich weniger gedrängt fühlen, gegen die Eltern zu rebellieren. Überlegen Sie sich also: In welchen Bereichen kann ich meinem Kind Freiheit geben, damit es erlebt, dass es ein eigener Mensch ist, der selbst entscheiden kann und darin erfolgreich ist? Natürlich wird es auch Fehlschläge geben. Aber wenn es dabei nicht um Lebensentscheidendes geht, ist das eine wichtige Lernerfahrung. Scheitern kann etwas Gutes haben. Und es ist besser, jetzt aus kleinen Fehlern zu lernen als später aus großen. Jetzt, wenn die Kindheit zu Ende geht, können Sie Ihrem Kind helfen, gute Entscheidungen zu treffen – eine Fähigkeit, die für das ganze weitere Leben unentbehrlich ist.
Was Experten sagen
Erinnern Sie sich an das alte Sprichwort: Wenn sie klein sind, gib ihnen Wurzeln, wenn sie größer werden, gib ihnen Flügel. Will sagen: Geben Sie Ihrem Kind Schritt für Schritt immer mehr Verantwortung für das, was es tut. Und behalten Sie dabei eines im Blick: Ihr Kind muss immer wissen, dass es zu Hause immer sicher ist – egal, was passiert.
Die fünf Phasen der Adoleszenz
Dieses Buch befasst sich zwar im Wesentlichen nur mit der Vorpubertät. Dennoch ist es wichtig, einen Überblick über die gesamte Adoleszenz zu haben, um zu wissen, auf welche Herausforderungen wir unsere Kinder vorbereiten. Vier Aspekte dabei wollen wir näher betrachten, und zwar die körperliche, die emotionale, die geistige und die soziale Entwicklung während der Adoleszenz.
Altersstufe 8 bis 10 – Vorpubertät (bevor die Hormone verrücktspielen)
Das Alter zwischen acht und zehn ist meist eine ruhige Zeit, die Eltern genießen. Endlich haben Sie den Eindruck, Sie hätten die Sache mit der Erziehung jetzt im Griff. Die geistigen Fähigkeiten von Kindern in diesem Alter sind so weit entwickelt, dass sie logisch und konkret argumentieren können. Der Wissensdurst in diesem Alter ist sprichwörtlich; das kognitive Denken ist spürbar weiter entwickelt als bei jüngeren Kindern. Mädchen sind den Jungen in diesem Alter meist ein wenig voraus.
Bereits in diesem Alter kann die Hormonumstellung beginnen, die bei Mädchen meist einen Wachstumsschub auslöst. Bei Jungen erfolgt dieser in der Regel später. Die meisten Kinder in diesem Alter wollen sich selbst ausprobieren und orientieren sich an ihren Eltern – eine gute Zeit für Eltern, ihre Kinder in gelassener Atmosphäre auf die Pubertät vorzubereiten.
Altersstufe 10 bis 12 – Präadoleszenz (Lückenjahre)
Die Hormonumstellung macht sich deutlicher körperlich bemerkbar. Bei manchen Kindern geschieht die Veränderung scheinbar über Nacht, bei anderen vollzieht sie sich langsamer. Das körperliche Wachstum und die körperliche Entwicklung der einzelnen Kinder und auch zwischen Mädchen und Jungen sind extrem unterschiedlich und individuell.
Mädchen dieses Alters haben fast ihre endgültige Körper- und Schuhgröße erreicht, Jungen sehen oft noch aus wie Drittklässler. Mädchen wachsen in dieser Zeit am stärksten.
Altersstufe 12 bis 14 – Frühadoleszenz
In der Frühadoleszenz sollten Sie sich darauf gefasst machen, dass die Hormone verrücktspielen. Die Emotionen liegen blank. Besonders Mädchen können launisch und extrem empfindlich sein – schon die kleinste Unstimmigkeit verletzt sie. Jetzt wird für Mädchen das eigene Äußere wichtig. Jungen wachsen in dieser Zeit am stärksten – im Durchschnitt zehn Zentimeter im Jahr.
Das soziale Umfeld spielt eine enorm große Rolle, Gleichaltrige, Freunde und Mitschüler haben maßgeblichen Einfluss auf Jugendliche dieses Alters; Eltern, Lehrer und andere Autoritätsfiguren werden dagegen infrage gestellt. Die gute Nachricht ist: Eine gute Freundesclique kann unsere Kinder sehr positiv beeinflussen.
Altersstufe 14 bis 18 – mittlere Adoleszenz
Etwa mit 14 Jahren erreicht die geistige Entwicklung ihren Höhepunkt. Jugendliche können in diesem Alter rational denken, wenn auch nicht unbedingt rational handeln. Wie erklärt sich das? Bei Erwachsenen, die Emotionen verarbeiten, ist die Aktivität im Frontallappen des Gehirns größer als bei Jugendlichen, die Aktivität der Amygdala dagegen geringer. (Im Frontallappen des Hirns erfolgt die Impulskontrolle – erst denken, dann handeln; die Amygdala steuert unser impulsives Handeln – erst handeln, dann denken.) In diesen Jahren experimentieren Jugendliche mit allem Möglichen – was Eltern durchaus schlaflose Nächte bereiten kann!
Altersstufe 18 bis ca. 25 – Spätadoleszenz
Körperlich sind Jugendliche jetzt erwachsen; aber nicht unbedingt schon auf das Erwachsenenleben vorbereitet. Sie wollen eigene Entscheidungen treffen, brauchen aber noch hin...