DAS SYSTEM
Putin verstehen
Solange es Putin gibt, gibt es auch Russland.
Ohne Putin – kein Russland.
Wjatscheslaw Wolodin,
Erster Stellvertretender Leiter
der Präsidialverwaltung, 20141
Abb. 1: Er spricht. Internationales Wirtschaftsforum
Sankt Petersburg, Juni 2015
Vielleicht war es das Protokoll, das zeremonielle Gehabe, dieses Gefühl, immer unter Beobachtung zu stehen. Vielleicht war es die pompöse Leere dieser Residenz, seine Welt, viel zu gewaltig, um ein Zuhause zu sein. Vielleicht waren es aber auch nur die gelernten Verhaltensmuster eines Geheimdienstoffiziers. Stets blieb er leise, auf merkwürdige Weise gebremst, so verkantet freundlich. Seine Zurückhaltung schien etwas Lauerndes zu haben. Er wirkte misstrauisch, dabei war er durchaus selbstbewusst. »Er musste lange an sich arbeiten, um unbefangen zu wirken«, hatte seine damalige Frau einmal gesagt.
Wir waren zu Besuch bei Wladimir Putin, dem Präsidenten Russlands, der renommierte Kanzler-Fotograf Konrad R. Müller und ich, langjährige Moskau-Korrespondentin des Stern. Eine Reportage über sein Leben und seine Arbeit sollte es werden, für die wir den Präsidenten über Monate begleiteten. Nach langem Hin und Her hatte er sich Anfang 2002 schließlich überzeugen lassen. Wahrscheinlich hatte sein Einverständnis auch einen politischen Hintergrund: Im Herbst 2001 war Wladimir Putin im Deutschen Bundestag zu Gast. Er war der erste russische Präsident, der vor den deutschen Abgeordneten sprechen durfte. Es ging um Zusammenarbeit und Sicherheit, eine gemeinsame Zukunft in Europa. Als Zeichen seines Respekts vor dem Land Goethes und Schillers hielt er seine Rede auf Deutsch. Er sprach von der Freiheit der russischen Bürger. »Von unserer Seite aus existiert die Berliner Mauer nicht mehr«, sagte er. »Russland ist ein freundliches europäisches Land. Der Kalte Krieg ist vorbei.« Im allgemeinen Wohlwollen gingen seine Mahnungen unter. Schärfer wurde sein Ton, als er über die USA und die Nato sprach: »In Wirklichkeit haben wir aber immer noch nicht gelernt, einander zu vertrauen.«2
Vielleicht war seine Zusage an die deutschen Journalisten das: ein Vertrauensversuch.
Im Laufe der Monate trafen wir uns immer wieder, mal in seinem Amtszimmer im Kreml, mal bei ihm zu Hause in seiner Residenz Nowo-Ogarjowo an der Rubljow-Chaussee vor den Toren Moskaus. Zwei mächtige, beigefarbene Ziegelbauten mit hochgeschwungenem Dach, Anklänge an Türme und Zinnen, an der Terrasse wachten große, steinerne Löwen. Darum der makellos gepflegte Park entlang des Moskwa-Flusses, darin asphaltierte Spazierwege. Ein angemessener Ort für den Präsidenten einer Großmacht, vergleichsweise bescheiden gar im Vergleich zu den anderen Anwesen der Gegend hier, den Villen der Oligarchen. Es hieß, wir könnten seine Frau Ljudmilla kennenlernen, aber nie bekamen wir sie zu Gesicht. Dafür durften wir seiner Tochter Marija beim Klavierspiel zuhören. Wir hatten dem Präsidenten beim frühmorgendlichen einsamen Schwimmen zugesehen, beim einsamen Ritt auf dem eigens angelegten Reitweg, auch beim Judo-Training. Sein Gegner war Gewinner der russischen Meisterschaft, eigens aus Sankt Petersburg herbeigebeten. Schweigend gingen sie einander an, zwei Männer in einem leeren Saal, zu hören allein ihr angestrengtes Atmen.3
Er schien besessen von Sport, von einem Bild versammelter Kraft und Stärke, einer, nun ja, breitbeinigen Männlichkeit. So wollte er das Gesicht eines neuen Russlands werden – ganz anders als sein alkoholkranker Vorgänger Boris Jelzin. Einmal hatte er US-Präsident Bill Clinton zu Besuch in Moskau. Clinton war am Ende seiner zweiten Amtszeit auf Abschiedstour. Putin führte seinen Gast durch den Kreml, zeigte ihm das moderne Fitnessstudio, das er einrichten ließ. »Hier verbringe ich viel Zeit«, sagte er. Dann führte er ihn in einen anderen Raum, ein Krankenbett darin, ein Beatmungsgerät. »Und hier verbrachte der letzte Präsident viel Zeit.«4
Wie alle hatten auch wir in den Vorzimmern auf ihn gewartet. Wir lümmelten in Sesseln mit viel zu weichen Polstern, wir warteten, wie alle, manchmal stundenlang. Immer kam er zu spät. Warum? Niemand wusste es genau. Weil er es sich leisten konnte, alle warten zu lassen. Weil sich die russische Welt – und nicht nur die – um ihn drehte, nur um ihn. Längst arbeiteten die »Putinisierer« an seinem Image. Es ging dabei von Anfang an um die großen, historischen Linien: Wladmir Putin wollte – und sollte – zum Gründer einer neuen russischen Staatlichkeit werden. Der »Putinomanija« schien das ganze Land zu verfallen: Nach zaristischer Tradition wurde zwei neuen Glocken in einem berühmten Kloster sein Name eingraviert. Zu seinem 50. Geburtstag am 7. Oktober 2002 schenkte man ihm die Kopie einer Zarenkrone, benannte ein Kavallerieregiment nach ihm. Selbst dem Moskauer Maler Dmitrij Wrubel, ein in der Sowjetunion verfolgter Untergrundkünstler, erschien Putin als »Pop-Ikone«, »unser erster echter Superstar«, wie er sagte: »Wir haben doch jahrzehntelang wider besseres Wissen auf einen guten Helden gewartet. Und jetzt ist er da!«5
Das war Wladimir Putin bereits im dritten Jahr seiner ersten Amtszeit: Feldherr eines sich erhebenden Landes, eines neuen Russland. Ein Mann, dem alles glücken sollte, auf fast surreale Weise.
Einmal nahm er uns zu einem Angelausflug mit nach Astrachan, in die staubige Stadt im Süden des russischen Reiches. Hinter Astrachan wälzt sich die Wolga in einem verwunschenen Delta ins Kaspische Meer. Zum Angelausflug starteten zwei Hubschrauber. Sechs Leibwächter begleiteten den Präsidenten, zwei Kommunikationsspezialisten und zwei Offiziere der nuklearen Streitkräfte, verantwortlich für den Atomkoffer. Zwei Ärzte sowie sein persönlicher Adjutant waren dabei, daneben der Pressechef mit drei Mitarbeitern, auch ein Team des russischen Staatsfernsehens. Natürlich war dieser spontane Besuch auf einer abgelegenen »Erholungsbasis« des mächtigen Gaskonzerns Gazprom über Wochen vorbereitet worden. Man hatte einen zweiten Hubschrauberlandeplatz in der Sumpflandschaft angelegt, Sicherheitsoffiziere abkommandiert, Boote herbeigeschafft, auch Freizeitkleidung mit militärischem Tarnmotiv bereitgestellt.
Die Möwen schrien, Schwalben zwitscherten, zartblau gepinselt war der Himmel, ein perfekter Tag. Wladimir Putin schlenderte in freizeitlicher Tarnkleidung umher, 15 Männer verfolgten jeden Schritt. Er besuchte den Pferdestall, streichelte Nüstern und fütterte Zucker, später ritt er ein paar Runden im engen Gatter, 15 Männer warteten. Er sprang aus dem Stand über den menschenhohen Metallzaun, 15 Männer schauten schweigend zu.
Dann röhrten fünf Rennboote amerikanischer Herkunft mit 80 Stundenkilometern die Wolga entlang. Unterwegs warteten Fischer an ihren Netzen. Forschen Schritts stieg Putin zu ihnen in den Kahn. Die Fischer zogen die Netze aus dem Wasser, der Präsident erkundigte sich nach ihrem Leben. Das Boot mit dem Kamerateam des Kreml-Pools kreiste um die Fischer – es entstand ein herrliches, symbolträchtiges Bild: der Präsident und die Wolgafischer. Am Abend wurde es im staatlichen Fernsehen gezeigt.
Zum Angeln war ein Stück Ufer »vorbereitet« worden, wie es hieß, das Schilf war weitflächig abgeflämmt. Leibwächter postierten sich, die Maschinenpistole schussbereit. Der Präsident warf die Angel, die Umstehenden schauten schweigend zu. Dann bissen die Fische an, einer nach dem anderen, am Ende holte er mehr als ein Dutzend aus der gleichen Stelle im Fluss. Zufall oder nicht – Wladimir Putin schien sich zu freuen. Er sagte: »Wer Suppe essen will, muss seine Fische selbst fangen.« Das sollte man wohl programmatisch verstehen.
Denn mit einer Steuer- sowie einer Landreform hatte Putin damals ein durchaus liberales Wirtschaftsreformprogramm initiiert. Sein Ministerpräsident Michail Kassjanow galt ebenso als »Liberaler« wie Finanzminister Alexej Kudrin und der Minister für Wirtschaftsreformen, German Gref.6 Beamtengehälter und Renten wurden nun regelmäßig ausgezahlt, gar schrittweise erhöht. Firmengründungen wurden erleichtert, die Gewerbesteuer gesenkt. Die Mehrheit seiner Wähler durfte zum ersten Mal seit Jahren auf Stabilität und einen bescheidenen Wohlstand hoffen. Sie wurden: Konsumenten. Dafür waren sie offenbar bereit, auf politische Mitwirkung oder den Aufbau eines Rechtsstaates zu verzichten. Die »Demokratija« der Jelzin-Jahre war ohnehin zu »Dermokratija« verkommen, zur »Scheißokratie«.7
Es bildete sich der »Putin-Konsens«.
Er hatte zu sich nach Hause eingeladen, nach Nowo-Ogarjowo. Hatte Tee gekocht und Butterbrote mit Kaviar zubereitet, er war ein aufmerksamer, ja, charmanter Gastgeber. Er hatte – auf Deutsch – über sein Faible für Romy Schneider geplaudert, aber auch von der »historischen Mission« seines Amtes gesprochen. Er hatte mit seiner oft so leisen Stimme die Reformen erwähnt, die er in seinem Land durchführte. In unseren Gesprächen fielen Worte wie Demokratie und Marktwirtschaft und »Modernisazija«, Modernisierung.Es hörte sich alles so – »westlich« an. »Ich will echte Marktwirtschaft. Ich will ein echtes Mehrparteiensystem für Russland«, sagte Putin.
Zugleich klangen diese Worte merkwürdig hohl, gestanzt. Irgendetwas stimmte nicht. Als ob er, langjähriger KGB-Offizier im Auslandseinsatz, einem sicheren Gespür folgend nur sagte, was wir – womöglich – hören wollten. Putin propagierte Russland als »demokratisches Land«. Doch für das Räderwerk demokratischer Gesellschaften...