2 Überlegungen zum Arbeitsfeld
2.1 Spiritualität
2.1.1 Begriffsbestimmung
Für den Begriff Spiritualität unterscheidet man eine französische und eine angelsächsische Traditionslinie. Das französische spiritualité leitet sich ab von der katholischen Ordenstheologie in Frankreich um 1900 als „Lehre vom religiösgeistlichen Leben“4. Seit dem 17. Jahrhundert bezeichnete spiritualité die „persönliche Beziehung des Menschen zu Gott“. Diese Linie nimmt Motive von „Frömmigkeit“ und „Leben aus dem Geist Gottes“ in sich auf. Spiritualität vollzieht sich hier in geprägten Praxisformen und Übungen in enger Anlehnung an die Tradition kirchlicher Lehre und kirchlicher Gemeinschaftspraxis.
Die angelsächsische Traditionslinie versteht unter spirituality in einem weiteren Sinn „Religiosität, die auf direkter, unmittelbarer, persönlicher Erfahrung von Transzendenz beruht“5. Spirituality steht seither für die subjektive und individuelle Verinnerlichung von Religion, in selbst gewählter Verhältnisbestimmung zur Religionsgemeinschaft, meist als Unabhängigkeit und Distanznahme.
Beide Traditionslinien verbindet die Achtung vor dem Individuum und seiner religiösen Erfahrung. Sie unterscheiden sich in der Bezugnahme auf bestehende Traditionen.
Für die Palliativversorgung ist es somit wichtig, beide historischen Stränge und ihre gemeinsame Basis in der persönlichen Beziehung eines Menschen zur Transzendenz zu kennen.
Palliative Care fokussiert die individuelle Lebensqualität und subjektive Befindlichkeit des Patienten. Spirituelle Begleitung gilt darum individueller spiritueller Not, spirituellem Wohlbefinden und dem Zugang der „Unit of Care“ zu spirituellen Ressourcen6.
Der Arbeitskreis Spirituelle Begleitung in der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin versteht Spiritualität als die innere Einstellung, den inneren Geist wie auch das persönliche Suchen nach Sinngebung eines Menschen, mit dem er Erfahrungen des Lebens und insbesondere auch existenziellen Bedrohungen zu begegnen versucht7. Diese Beschreibung erfordert eine grundsätzliche Offenheit gegenüber individuellen Formen von Spiritualität.
Die Haltung der Achtung vor der individuellen Spiritualität in einer hospizlichen oder palliativmedizinischen Einrichtung entspricht dem Geist der romanischen Traditionslinie. Davon lässt sich ableiten, dass Achtung als gemeinsame Haltung das Betreuungsteam prägt, gelehrt und in Praxisformen umgesetzt werden kann.
Spiritualität ist zu unterscheiden, aber nicht zu trennen von Religion, Glaube und Frömmigkeit. Sie gehören in ein gemeinsames Begriffsfeld und zum Aufgabenfeld spiritueller Begleitung. Erhard Weiher unterscheidet zudem zwischen der existenziellen und der spirituellen Dimension: Die Bedrohung der eigenen Existenz führt zur „Erfahrung, dass das Selbst ungesichert, in seinem Dasein begrenzt und vom Tod bedroht ist. Die spirituelle Dimension meint im Unterschied zur existentiellen eher die persönliche innere Ausrichtung des Menschen.“ Spiritualität ist der deutende Umgang: „die innere Lebenseinstellung und das ganz persönliche Ringen um Sinngebung und Hoffnung, mit dem der Patient auf die existentielle Herausforderung ein hilfreiches Gegengewicht sucht.“8
Sinnsuche und Sinnerfahrung sowie ein In-Beziehung-Sein stehen auch im Vordergrund der Definition von Spiritualität, die 2009 als Ergebnis eines US-weiten Beratungsprozesses zwischen Vertretern verschiedener Religionen und Berufsgruppen im Feld Palliative Care vorgestellt wurde: „Spirituality is the aspect of humanity that refers to the way individuals seek and express meaning and purpose and the way they experience their connectedness to the moment, to self, to others, to nature, and to the significant or sacred.“9
Es geht um ein In-Beziehung-Sein mit individuellen Kraftquellen, ein gemeinsames Arbeiten an der eigenen Haltung im Umgang mit Patienten und ihren Angehörigen. Das Aushalten von Leid, Sterben und Trauer ist somit Aufgabe des Einzelnen und des Teams. Seelsorge in ihrer pastoral-psychologischen Ausrichtung auf das Gespräch und in ihrer liturgischen Kompetenz für rituelle Praxis leistet dazu einen zentralen Beitrag.
2.1.2 Differenzierung der Kompetenzbereiche
Die pastorale Ausbildung durch die beiden großen Kirchen macht theologische und pastoralpsychologische Kompetenz zur Voraussetzung einer Tätigkeit als Seelsorger. Die Ausbildung umfasst ein theologisch-geisteswissenschaftliches Studium, eine mehrjährige praktische Ausbildung in der Pfarrei sowie Einzel- und Gruppensupervision. Seelsorgende, die in die Krankenhausseelsorge gehen, werden in einer pastoralpsychologischen Weiterbildung (z. B. Klinische Seelsorge-Ausbildung) auf ihre Aufgabe vorbereitet.
Der Qualifizierungskurs Palliative Care für Seelsorgende dient neben der Kompetenzentfaltung in den Bereichen spiritueller, pastoralpsychologischer, ritueller und organisationaler Handlungsfähigkeit der Reflexion der eigenen Einstellung zum Leben und Sterben.
Spirituelle Kompetenz
Seelsorgende nehmen in der Begegnung mit kranken Menschen und ihren Angehörigen im ambulanten oder stationären Bereich sowie den dort arbeitenden Menschen die spirituellen Ressourcen der Menschen wahr und erschließen diese mit ihnen für ihre Lebenssituation.
Grundlegende Basis allen seelsorglichen Handelns ist Offenheit und die Bereitschaft, in der Begegnung präsent und klar zu sein. Das Angebot seelsorglicher Begleitung gilt Patient, Angehörigem oder Teammitglied, unabhängig von deren Religionszugehörigkeit10. Begleitung geschieht im Gespräch und durch Beratung sowie Vermittlung oder Feier liturgisch-ritueller Handlungen.
Die Reflexion eigener Erfahrungen und Wertvorstellungen sowie der eigenen Spiritualität11 (vgl. Abb. 3)12 ist Voraussetzung, um mit anderen über existenzielle Erfahrungen kommunizieren zu können.
„Krankenhausseelsorger bedürfen einer menschlichen und spirituellen Stabilität [...] In der Begleitung von Patienten werden die Seelsorger mit Schicksalen und biographischen Höhe- und Tiefpunkten konfrontiert – wie gut, wenn sie da aus dem Glauben Zusammenhänge sehen und konkretes Leben deuten können“13.
Abbildung 3: Ebenen spiritueller Erfahrung
Rituelle Kompetenz
Am Lebensende eröffnen und gestalten „rites de passage“ die Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen an der Schwelle zum Tod. Bei vielen Menschen wächst in dieser Lebenssituation das Bedürfnis nach Ritualen, die sich aus Wort und Zeichenhandlung zusammensetzen. Verbindet der Sterbende mit dem Zeichen eine bedeutsame biographische Erfahrung, so wird es ihm einen Weg öffnen können. Ressourcen in der eigenen Lebensgeschichte zu entdecken und in der existenziellen Bedrohung zugänglich machen zu können, ist eine herausfordernde und lohnende Aufgabe in der geistlichen Begleitung, da sie die existenzielle und die spirituelle Dimension unmittelbar aufeinander bezieht.14
Spirituelle Begleitung kann der Sprachlosigkeit in existenziellen Situationen durch den kultursensiblen Einsatz von Zeichen (Ritual) Ausdruck verleihen und so Patienten und Angehörige unterstützen, sich mit ihren Wurzeln zu verbinden.
Organisationale Kompetenz
Im Feld Palliative Care müssen organisationale, ethische und kontextuale Kompetenzen gestärkt werden. Andreas Heller fasst die Fähigkeit zu multiprofessioneller Zusammenarbeit sowie Organisation und Vernetzung als Interkompetenz zusammen15. Es geht darum, die Übergänge von einer Versorgungsstruktur in die andere (z. B. Palliativstation, Zuhause, Ortsgemeinde) zu gestalten und eine kontinuierliche seelsorgliche Begleitung anzubahnen.
Darüber hinaus ist spirituelle Begleitung bzw. Seelsorge ein Angebot für die Mitarbeitenden der Palliativversorgung bei Fragen, die sich aus der spezifischen Tätigkeit im Umgang mit kranken und sterbenden Menschen ergeben. Sie umfasst individuelle Gespräche und Angebote für das Team und geschieht durch gemeinsames Gestalten von Raum und Zeit bei Ritualen oder Gedenkfeiern und im Mitdenken in Entscheidungsprozessen sowie bei ethischen Fragestellungen.
2.2 Das Zusammenwirken der beteiligten Berufsgruppen
2.2.1 Berufsspezifische Handlungsfelder
Palliative Care kann ihrem Ansatz entsprechend nur gelingen, wenn die Berufsgruppen (Pflege, Medizin, Sozialarbeit, Seelsorge, Physiotherapie, Psychologie, weitere Therapien, Ehrenamt, etc.) konstruktiv zusammenarbeiten. Das beinhaltet zunächst die Gestaltung einer effektiven Kommunikationsstruktur in Form von Patientenübergaben, Stationskonferenzen, Teamgesprächen, Supervision und eines ethischen Diskurses. Patientenorientierung braucht notwendig dichten Austausch und Abgleich von Versorgungszielen im multiprofessionellen Team. Widersprüche und Unterschiede in der Einschätzung gilt es dabei für den Kranken auszubalancieren. Kooperation heißt dabei, als gleichberechtigter Partner mit anderen zu arbeiten und die speziellen Kompetenzen der Berufsgruppen zu kennen und einzubinden. Nicht zuletzt gehört im Sinne der Hospizidee die Integration von ehrenamtlich Begleitenden und freiwillig Helfenden dazu. Dies ist für jede der beteiligten Berufsgruppen eine große Herausforderung. Kein einzelner Mensch und keine singuläre Profession sind allein in der Lage, die vielfältigen Probleme des Patienten und seiner Angehörigen zu sehen und ihnen in der erforderlichen Breite kompetent zu begegnen.
Multiprofessionelles...