Russland
Die Einreise nach Russland ist der erste „echte“ Grenzübertritt, nachdem wir bisher ja nur in EU-Ländern unterwegs waren, ohne jegliche Kontrollen an den Grenzen. Doch auch hier kommen wir problemlos und schnell durch, denn die Offiziellen geben sich gelassen.
Nach zwei Tagen in St. Petersburg führt die weitere Route nach Osten und um den Rybinsksee herum. Den Großraum Moskau zu meiden, hatten wir schon bei unserer Planung zu Hause beschlossen. Und nach den aufreibenden 45 Kilometern durch St. Petersburg mit dem unglaublich dichten Verkehr und den vielen rücksichtslosen Motorisierten wissen wir, dass diese Entscheidung gut war. Gertrud wurde in der Stadt von einem Auto gestreift.
Da nun der Boden nicht mehr überall aufgeweicht ist, zelten wir meistens irgendwo abseits der Straße. Vor allem die Nächte sind aber weiterhin kalt. Nahe dem Ort Sazonovo sinkt das Thermometer in der Nacht zum 29. April auf minus acht Grad.
Unser erster Frühlingstag ist der 2. Mai, als es tagsüber ungewohnte zehn Grad warm wird. An diesem Nachmittag erreichen wir Jaroslawl, eine der ältesten Städte in Zentralrussland. Wir stellen die Zelte auf dem idyllischen Campingplatz eines Rudervereins am linken Ufer der Wolga auf. Von hier haben wir über den Fluss hinweg einen Blick auf die Altstadt, als würden wir in Theaterstühlen sitzen. Die feine Skyline wird von den Zwiebeltürmen der russischorthodoxen Mariä-Entschlafens-Kathedrale dominiert. An unserem zweiten Abend in Jaroslawl geht mit dem Sonnenuntergang der Himmel über der Wolga in Flammen auf.
Zwei Tagesetappen bringen uns nach Wladimir. Nachdem wir am Ortseingangsschild ein Erinnerungsfoto gemacht haben, fahren wir direkt zum Erlangen-Haus, das in russisch-deutscher Zusammenarbeit aufgebaut und 1995 eröffnet wurde. Es wird jetzt gern als „Botschaftsgebäude der Wladimir-Erlangen-Partnerschaft“ oder kurz als „Erlanger Botschaft“ bezeichnet. Die Leiterin des Hauses, Irina Chasowa, erwartet uns schon. Peter Steger aus dem Erlanger Rathaus hat uns angekündigt, er wird auch in den kommenden Jahren meine Partnerstadt-Besuche koordinieren.
Morgens an der Wolga bei Jaroslawl
Noch am selben Nachmittag gibt es ein Treffen mit dem Oberbürgermeister von Wladimir. Es entwickelt sich ein angeregtes Gespräch mit Sergej Sacharow, wobei es vor allem um unsere Reise geht, aber auch um die Zukunft des Fahrrades als Verkehrsmittel in Wladimir allgemein. Die sieht so rosig nicht aus. Zunächst will man den Autoverkehr mit Ringstraßen aus der Stadt herauslocken, dann erst sei an Radwege zu denken. Aber für die Ringstraßen ist kein Geld da. Dem Radler in Wladimir wird es noch einige Jahre so gehen wie den Radlern in den anderen russischen Städten: Er wird sich seinen Freiraum irgendwo zwischen den starken Motorisierten und den schwächeren Fußgängern suchen müssen.
Von unserer Reise ist der Herr Sacharow derart begeistert, dass er spontan für den folgenden Tag eine gemeinsame Radtour durch die Stadt organisiert. Für 18 Uhr, mitten durch den Feierabendverkehr. Der Oberbürgermeister fährt an der Spitze, zwei weitere Radler aus Wladimir sind mit dabei. Wir fahren zweireihig, den Rücken hält uns ein Offizieller in seinem Auto mit Warnblinklicht frei.
Der Abschied von meinen Erlanger Begleitern steht nun unmittelbar bevor. Den Stress, die 190 Kilometer auf der stark befahrenen M7 von Wladimir nach Moskau zu radeln, will sich keiner von uns antun. Walter, Jörg und Gertrud werden einen Shuttle-Bus nehmen. So bleiben ihnen vor ihrem Heimflug auch noch eineinhalb Tage für die Besichtigung der russischen Hauptstadt. Ich will ganz auf Moskau verzichten und direkt nach Osten in Richtung Kasachstan durchstarten.
Sergej Sacharow ist es, der mich dazu bringt, die Reiseroute zu ändern. Eine Stadt wie Moskau dürfe man doch nicht auslassen, sagt er – lächelnd, aber doch mit Ernst –, als er von meinen weiteren Plänen erfährt. Und gerade jetzt, an dem verlängerten Wochenende um die Feierlichkeiten zum 9. Mai*), sei die Stadt relativ leer, weil alle zu ihren Datschen aufs Land hinausgefahren seien.
Moskau – zweifellos eine ganz besondere Stadt. Wann werde ich wieder die Gelegenheit haben, sie zu besuchen? Ich folge schließlich Sacharows Rat und setze die Reise in die falsche Richtung fort, Richtung Westen. Und ich fahre nicht allein. Denn Anton vom VeloTourklub Veles hat, etwas schüchtern, gefragt, ob er mich mit dem Rad in die Hauptstadt begleiten darf. Oder vielleicht auch noch ein paar Tage länger über Moskau hinaus. – Na klar! Sehr gern. Willkommen bei der Tour de Friends!
Anton hat uns an den vergangenen zwei Tagen in Wladimir begleitet, uns zu den Sehenswürdigkeiten geführt und viel über sein Land erzählt. Er ist ein ruhiger und bescheidener Mensch, 26 Jahre jung. Kennengelernt haben wir uns bereits vor einem Jahr in Erlangen, als er mit vier Tourklub-Kollegen nach Deutschland geflogen ist, um von Erlangen aus zu einer Radtour durch Bayern, Tschechien und Österreich zu starten. Am ersten Tag fuhr ich mit ihnen bis zum Monte Kaolino in Hirschau.
Damals fiel mir auf, dass die Truppe offenbar ein ganz anderes Verkehrsaufkommen gewöhnt ist als wir in Deutschland. Wenn ich versuchte, die B14 zu meiden und den Schleifen der ausgeschilderten Fahrradroute zu folgen, schauten sie mich verwundert an: „Warum dauernd diese Umwege? Die B14 ist doch gut genug als Radweg.”
Oh ja! Jetzt – hier in Russland – erkenne ich es auch: Unsere B14 ist eigentlich ein Radweg!
Anton und ich starten nach Moskau. Wir schmeißen uns auf die vierspurige M7. Bezeichnenderweise sind selbst die unerschrockenen Radler vom VeloTourklub diese Strecke noch nie gefahren. „Gibt es denn keine Ausweichroute, Anton?“ – „Nein, wir können nur auf der M7 fahren.“
Der Verkehr ist wie ein reißender Fluss. Ein Auto dicht nach dem anderen rast an uns vorbei, es gibt keine Pausen, der Strom ist unaufhörlich – als würden sie alle in einem riesengroßen Kreis fahren.
„Obst und Gemüse von Niederrhein“ überholt uns. So steht es auf einem der Lastwagen. Auch die Spedition Altmeyer ist unterwegs. Und gleich mehrere LKW der bankrotten Firma Pfleiderer aus der Oberpfalz fahren Richtung Hauptstadt. Alle natürlich mit russischen Kennzeichen. Die Lastwagen aus Deutschland sind beliebt und werden gar nicht erst umetikettiert.
Mit Anton auf dem Weg nach Moskau
60 Kilometer vor dem Moskauer Zentrum und nur noch zehn Kilometer vom Stadtrand entfernt finden wir an einem Fluss einen geeigneten Platz zum Zelten. Ein kleines Wäldchen bietet Sichtschutz gegen das nahe Dorf, zu schaffen machen uns allerdings Wolken kleiner schwarzer, aufdringlicher Fliegen. Das war wirklich ein Vorteil der Kälte auf dem bisherigen Weg: Es gab keine Belästigung durch Insekten.
Bevor wir uns am nächsten Tag mit den Erlanger Freunden an der Basilius-Kathedrale treffen, machen wir eine ausgedehnte Besichtigungstour durch Moskau. Insgesamt sind wir 110 Kilometer mit den Rädern in der Stadt unterwegs, oft auch auf Gehsteigen, wie das in Russlands Großstädten üblich ist. Die Fußgänger regen sich nicht darüber auf, lassen sich sogar beiseiteklingeln. Dafür werde ich von einem Polizisten gestoppt, weil ich eine achtspurige Straße nicht auf dem Zebrastreifen überquere. Meine russische Erklärung „Ich verstehe nicht“ tut der Polizist mit einem „Ja, ja …“ ab – bis Anton zu Hilfe eilt und ihm versichert, dass er wirklich einen Ausländer vor sich hat.
Unser Übernachtungsproblem im sündhaft teuren Moskau löst sich, als wir am Roten Platz die Erlanger Freunde treffen. Um schon möglichst nahe am Domodedovo-Flughafen zu sein, hatten sie ihre Zelte auf dem Campingplatz des Rus-Hotels im Süden Moskaus aufstellen wollen. Aber mit „Campingplatz“ ist nur der bewachte Parkplatz des Hotels gemeint, auf dem man sein Wohnmobil parken darf. Für wirkliches Camping fehlt jegliche Infrastruktur. In den Doppelzimmern, die sie daraufhin nehmen mussten, ist noch ein Bett frei.
Das zweite Bett findet sich bei Antons Bruder, ebenfalls im Moskauer Süden. Anton hatte seinen Bruder eigentlich nicht behelligen wollen, weil er recht beengt wohnt. Trotz guten Einkommens kann er sich zusammen mit seiner Freundin nicht mehr als eine Einzimmerwohnung leisten. Die nämlich kostet schon fast 1000 Euro Miete im Monat. Moskau gilt als eine der teuersten Städte der Welt. Forbes will herausgefunden haben, dass es nirgendwo so viele Milliardäre gibt wie in dieser Metropole.
Am nächsten Morgen endet, was vor über sechs Wochen am Rathaus in Erlangen begann: die lange Reise mit Jörg, Walter und Gertrud nach Russland. Wir verabschieden uns vordem Hotel. Von Domodedovo werden sie sich in die Luft erheben und nur zwei Stunden...