DIE STILLE DES
CENTRE COURT
KAPITEL 1
Die Stille ist das Auffallendste, wenn man auf dem Centre Court in Wimbledon spielt. Geräuschlos lässt du den Ball von dem weichen Rasen hochschnellen, wirfst ihn zum Aufschlag hoch, spielst, hörst das Echo deines Schlages und jeden weiteren Schlages. Klack, klack, klack, klack. Das kurz geschnittene Gras, die lange Geschichte, das alte Stadion, die weiß gekleideten Spieler, die respektvollen Zuschauer, die altehrwürdige Tradition – das Fehlen jeglicher Werbung –, das alles hüllt dich ein und schirmt dich von der Außenwelt ab. Diese Stimmung kommt mir entgegen; die andächtige Stille des Centre Court tut meinem Spiel gut. Denn während eines Tennismatchs ringe ich vor allem darum, die Stimmen in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen, sämtliche Gedanken auszuschalten, nur an den Wettkampf zu denken und mich mit jeder Faser meines Körpers voll und ganz auf den Ballwechsel zu konzentrieren, den ich gerade spiele. Wenn ich beim vorherigen Ballwechsel einen Fehler gemacht haben sollte, vergiss es; sollte sich der Gedanke an einen Sieg aufdrängen, schiebe ihn beiseite.
Sobald du einen Punkt erzielst, einen guten Punkt – denn das Wimbledon Publikum erkennt den Unterschied – weicht die Stille des Centre Court abrupt einem ohrenbetäubenden Lärm: Applaus, Jubel, dein Name wird gerufen. Ich höre es zwar, aber nur wie aus weiter Ferne. Ich registriere nicht, dass 15000 Zuschauer im Stadion sitzen und jede Bewegung verfolgen, die mein Gegner und ich machen. Ich bin so fokussiert auf mein Spiel, dass mir überhaupt nicht in den Sinn kommt, dass Millionen Menschen auf der ganzen Welt mir zuschauen – das wird mir erst klar, wenn ich etwa an das Wimbledonfinale 2008 gegen Roger Federer, das größte Match meines Lebens, zurückdenke.
Schon immer hatte ich davon geträumt, in Wimbledon zu spielen. Mein Onkel Toni, der mich zeit meines Lebens trainiert hat, hatte mir von klein auf eingehämmert, dass es das größte Turnier von allen sei. Schon mit 14 Jahren erzählte ich meinen Freunden von meinem Traum, eines Tages dort zu spielen und zu gewinnen. Bis 2008 stand ich zwei Mal im Wimbledonfinale und hatte beide Male gegen Roger Federer verloren – das war 2006 und 2007. Die erste dieser beiden Niederlagen hatte mich nicht sonderlich schwer getroffen. Als ich damals auf den Platz ging, war ich nur froh und dankbar, dass ich es mit Anfang 20 überhaupt so weit gebracht hatte. Federer schlug mich relativ mühelos, problemloser, als wenn ich mit mehr Selbstbewusstsein gegen ihn angetreten wäre. Doch als ich das Endspiel 2007, das über fünf Sätze ging, gegen ihn verlor, war ich am Boden zerstört. Mir war klar, dass ich besser hätte sein können, dass ich nicht an mangelndem Können oder Spielqualität, sondern mental gescheitert war. Nach dieser Niederlage weinte ich in meiner Garderobe eine halbe Stunde lang. Es waren Tränen der Enttäuschung und es waren Selbstvorwürfe. Zu verlieren tut immer weh, schmerzt aber besonders, wenn man seine Chance bekommen und nicht genutzt hat. Ich war an mir selbst mindestens ebenso gescheitert wie an Federer, ich war von mir enttäuscht, und das konnte ich nicht ertragen. Ich hatte mental versagt und mich ablenken lassen; ich hatte mich von meiner Strategie abbringen lassen. Es war so dumm, so unnötig und ganz offenkundig genau das, was man in einem großen Match auf keinen Fall hätte tun dürfen.
Mein Onkel Toni, der unerbittlichste Tenniscoach, ist gewöhnlich der Letzte, der mich tröstet. Im Gegenteil, er kritisiert mich sogar, wenn ich gewinne. Was für ein Wrack ich war, lässt sich daran ermessen, dass er von dieser ehernen Gewohnheit einmal abwich und mir erklärte, es gäbe keinen Grund zu weinen, es kämen noch weitere Wimbledonturniere und Wimbledonfinale. Ich erwiderte, er begreife nicht, dass dies vermutlich mein letztes Mal, meine letzte Chance auf einen Sieg hier gewesen sei. Mir ist sehr bewusst, wie kurz das Leben eines Profisportlers ist, und ich kann den Gedanken nicht ertragen, eine Gelegenheit zu verschenken, die sich vielleicht nie wieder bieten wird. Ich weiß, dass ich nicht glücklich sein werde, wenn meine Karriere vorbei ist, und solange sie dauert, möchte ich das Beste daraus machen. Jeder Augenblick zählt – deshalb habe ich immer hart trainiert –, aber manche Momente zählen mehr als andere, und 2007 hatte ich einen großen Augenblick vertan. Ich hatte eine Chance verpasst, die ich vielleicht nie wieder bekommen würde. Hätte ich konzentrierter gespielt und hier und da zwei oder drei Punkte mehr gemacht, hätte es ganz anders ausgehen können. Denn im Tennis hängt der Sieg von winzigen Kleinigkeiten ab. Den fünften und letzten Satz hatte ich 2:6 gegen Federer verloren. Aber hätte ich einen etwas klareren Kopf bewahrt, als ich 2:4 oder sogar 2:5 zurücklag und frühzeitig in diesem Satz meine vier Chancen genutzt, ihm seinen Aufschlag abzunehmen (statt mich festzufressen, wie ich es tat), oder hätte ich gespielt, als ob es der erste, nicht der letzte Satz wäre, dann hätte ich gewinnen können.
Toni konnte meinen Kummer durch nichts lindern. Aber letztlich sollte er Recht behalten. Ich bekam eine weitere Chance. Nur ein Jahr später stand ich wieder im Wimbledonfinale. Dieses Mal war ich fest entschlossen, meine Lehren aus der Niederlage im Vorjahr zu ziehen und mental nicht zu versagen, was immer auch passieren mochte. Das beste Zeichen, dass vom Kopf her bei mir alles in Ordnung war, zeigte sich in meiner festen Überzeugung, dass ich trotz aller Nervosität gewinnen würde.
Am Abend vor dem Match saß ich mit Verwandten und Freunden in dem Haus, das wir während des Wimbledonturniers gegenüber vom All England Club gemietet hatten, beim Abendessen. Jede Erwähnung des Endspiels war tabu. Ich brauchte es ihnen gar nicht ausdrücklich verbieten, dieses Thema anzusprechen, denn allen war völlig klar, dass ich innerlich bereits das Match durchspielte, ganz gleich, worüber ich ansonsten auch reden mochte, und dass ich dabei bis zum Beginn des Spiels ungestört bleiben musste. Wie an den meisten Abenden während des 14tägigen Turniers kochte ich. Kochen macht mir Spaß, und meine Familie ist der Ansicht, dass mir dies gut tut und mich beruhigt. An diesem Abend grillte ich Fisch und machte Pasta mit Shrimps. Nach dem Essen spielte ich mit meinen Onkeln Toni und Rafael Darts, so als wäre es ein ganz normaler Abend zu Hause in Manacor, meiner Heimatstadt auf Mallorca. Ich gewann. Später behauptete Rafael, er habe mich absichtlich gewinnen lassen, damit ich für das Finale in besserer Stimmung sei, aber das glaube ich ihm nicht. Für mich ist es wichtig, zu gewinnen, in allem. Was das Verlieren angeht, habe ich überhaupt keinen Humor.
Gegen 00.45 Uhr ging ich zu Bett, konnte aber nicht schlafen. Ich hatte nur das eine Thema im Kopf, das wir ausdrücklich gemieden hatten. Ich schaute mir Filme im Fernsehen an und schlief erst gegen 4 Uhr morgens ein. Um 9 Uhr stand ich auf. Es wäre besser gewesen, wenn ich ein paar Stunden länger geschlafen hätte, aber ich fühlte mich frisch, und mein Physiotherapeut, Rafael Maymó, der mich ständig betreut, erklärte, es sei nicht schlimm – die Aufregung und das Adrenalin würden mich über die Runden bringen, so lange das Spiel auch dauern mochte.
Zum Frühstück trank ich wie üblich Orangensaft und Kakao – niemals Kaffee – und aß Frühstücksflocken und eine Spezialität aus meiner Heimat, Brot mit Olivenöl und Salz. Ich war mit einem guten Gefühl aufgewacht. Im Tennis hängt viel von der Tagesform ab. Wenn man morgens aufsteht, fühlt man sich manchmal munter, gesund und stark, an anderen Tagen benommen und anfällig. An diesem Tag war ich wacher, beweglicher und energiegeladener denn je.
In dieser Stimmung ging ich um 10.30 Uhr zum abschließenden Training über die Straße auf Court 17 unweit vom Centre Court. Wie üblich legte ich mich auf eine Bank, und Rafael Maymó – den ich »Titín« nenne – dehnte und beugte meine Knie, massierte mir Beine, Schultern und vor allem die Füße. (Mein linker Fuß ist meine Schwachstelle, die mir am häufigsten starke Schmerzen bereitet.) Diese Massage soll die Muskeln anregen und die Verletzungsgefahr reduzieren. Vor einem großen Match schlage ich mich zum Aufwärmen gewöhnlich eine Stunde lang ein, aber weil es nieselte, hörte ich schon nach 25 Minuten auf. Wie immer fing ich behutsam an, steigerte allmählich das Tempo und lief und schlug schließlich mit der gleichen Intensität wie in einem Match. An diesem Morgen war ich beim Training nervöser, aber auch konzentrierter als sonst. Außer Titín waren noch Toni und mein Agent Carlos Costa anwesend, der mir als ehemaliger Profitennisspieler beim Aufwärmen helfen sollte. Ich war stiller als sonst. Das galt für uns alle. Keine Scherze. Kein Lächeln. Als wir zusammenpackten, bemerkte ich mit einem flüchtigen Blick, dass Toni nicht sonderlich zufrieden war und den Eindruck hatte, ich hätte die Bälle nicht so sauber geschlagen, wie ich es gekonnt hätte. Er sah besorgt aus – diesen Blick kannte ich nur allzu gut. Er hatte insofern Recht, als ich mich nicht gerade von meiner besten Seite gezeigt hatte. Aber ich wusste etwas, was er nicht wissen konnte, so überaus wichtig er in meiner gesamten Tenniskarriere auch für mich war: Körperlich fühlte ich mich in Bestform, abgesehen von Schmerzen in der linken Fußsohle, die ich behandeln lassen musste, bevor ich auf den Platz ging. Tief im Inneren war ich überzeugt, dieses Mal zu gewinnen. Beim...