Einleitung
Keine Hand hebt sich. Keine. Ist Europa noch einen Rettungsschirm wert? Wieder geht keine Hand nach oben. Soll Deutschland weitere Rechte an Europa abtreten, um den Euro zu retten? Erst recht nicht. Keiner der Schüler des Potsdamer Gymnasiums, die sich Anfang 2012 die Projektwoche »Finanzkrise« ausgesucht haben, würde in Europa noch mehr investieren, als die Deutschen ohnehin schon in die Schicksalsgemeinschaft eingebracht haben: eine stabile Währung, eine gesunde Wirtschaftsstruktur, das Potenzial der deutschen Steuerzahler.
Nicht einmal bei 14- bis 16-jährigen Gymnasiasten, der Generation, die am meisten europäisch denkt und handelt, ist Europa zurzeit mehrheitsfähig. Schon gar nicht bei den Erwachsenen. Zu viel Krise, zu wenig Perspektive. Würde in Deutschland in diesen Tagen ein Referendum über Europa abgehalten, es würde scheitern.
Vier Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise steht Deutschland ziemlich alleine da. Die Wirtschaft ist erstaunlich robust, die Arbeitslosigkeit niedrig, die Börse schon fast wieder auf Vorkrisenniveau. Alles geht gut. Und doch hat sich eine tiefe Verunsicherung eingefressen in die Köpfe und Herzen der Menschen: Was ist das Ersparte wert? Wird es eine neue Inflation geben? Steht der Gelduntergang bevor? Wer bezahlt die Rettungsschirme für Griechenland, Portugal und Irland? Wer die Schulden, die dafür gemacht werden? Ist Griechenland noch zu retten? Was ist, wenn auch Italien Hilfe braucht? Fliegt der Euro auseinander? Was soll Deutschland, was kann ich tun?
Auf die meisten dieser Fragen gibt es keine klare Antwort. Der Traum von einem großen Befreiungsschlag, der auf einen Rutsch alle Sorgen vertreibt, ist eine Illusion. Dennoch gibt es ein paar Dinge, die wichtig sind und richtig bleiben: Die Einführung des Euro schon 1999 war ein Fehler. Aber jetzt ist er da. Ihn platzen zu lassen wäre hoch riskant. »Scheitert der Euro, scheitert Europa«, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel gesagt. Auch wenn ihr heute die Mehrheit der Deutschen ein trotziges »Na und?« zur Antwort geben würde: Wahrscheinlich hat sie recht. Zumindest der Kern Europas darf nicht scheitern. Dann wären alle auf Jahre hinaus Verlierer.
Doch es geht nicht nur um das Schicksal der Währungsunion und um eine europäische Identität. Viel grundsätzlicher sind die Fragen, die sich an das Prinzip der Marktwirtschaft richten: Ist der Kapitalismus zu retten? Ist er es überhaupt wert, gerettet zu werden? Kann eine Marktwirtschaft Gerechtigkeit herstellen? Welche Rolle spielen Schulden überhaupt in unserer Art, Geschäfte zu machen, und welche Rolle sollten sie spielen? Wem dient das Geld – der Finanzindustrie oder den Bürgern?
Auch diese Fragen offenbaren die Erschütterung, die die Schuldenkrise ausgelöst hat, bei Jugendlichen und Erwachsenen gleichermaßen. Grundlagen der Marktwirtschaft erscheinen nun als Scheingewissheiten, die jahrzehntelang im Verborgenen doch nur eines getan haben könnten: einem Kartell von Banken, Großunternehmen und Politikern zu dienen.
Der wirtschafts- und finanzpolitische Mainstream der Jahre vor 2008, wonach deregulierte Märkte immer die besseren Marktplätze sind, ist von einem neuen ebenso gefährlichen Mainstream abgelöst worden. Jetzt soll der Staat der mächtigste Spielgestalter sein. Es ist schon merkwürdig. Noch nie wurden Politiker so verachtet und angefeindet wie heute. Doch noch nie hat man ihnen freiwillig so viele Aufgaben zugewiesen. Selbst wenn sie mit der größtmöglichen persönlichen Autorität, Integrität und dem umfassendsten Sachverstand ausgestattet wären: Diese Erwartungen könnten sie nicht erfüllen.
Und doch zeigen viele der Fragen, dass es ein ziemlich sicheres Gespür für die Verletzlichkeiten der Marktwirtschaft gibt. Eines ihrer wichtigsten Prinzipien ist in der Finanzkrise aus den Angeln gehoben worden: Nicht mehr die Reichen zahlen für die Schwachen. Die Schwachen müssen für die Reichen bezahlen. Mit ihrem Steuergeld werden Banken gerettet, Sanierungsprogramme bezahlt, Märkte gestützt. Der legendäre US-Finanzguru Warren Buffett wundert sich lauthals, dass er weniger Steuern zu bezahlen hat als seine Sekretärin.
Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Robert Shiller hat sich kürzlich die Liste der 500 reichsten Amerikaner vorgenommen. »Sie werden kaum einen der Namen darauf kennen«, sagte er anschließend bei einer Vorlesung. Bis auf die Talkmasterin Oprah Winfrey sind Showgrößen, Hollywood-Stars, Baseball- oder Tenniscracks darauf nicht mehr zu finden. Es sind kaum Unternehmer, nur noch wenige Vertreter des alten amerikanischen Reichtums dabei. Stattdessen rangieren Finanzinvestoren auf den obersten Plätzen.
Unbekannte haben sich den amerikanischen Traum angeeignet. Die meisten von ihnen sind noch keine zehn Jahre auf der Reichenliste vertreten. Das ist selbst den Amerikanern, die sonst nicht viel gegen Ungleichheit einzuwenden haben, zu viel. Denn diese Leute haben ihr Geld zuerst vor und dann mit der Finanzkrise verdient. Sie haben auch dann noch gewonnen, als alle anderen verloren haben. Ihre Gewinne haben sie eingesteckt, die Verluste durch die Krise dagegen wurden sozialisiert.
Der Grundkonsens der Marktwirtschaft in demokratischen Gesellschaften war bisher, dass sie den Tüchtigen den Weg nach oben öffnet. Heute steht sie unter dem Generalverdacht, den Reichen genutzt, die Armen aber noch ärmer gemacht zu haben. Vielen ist sie nicht mehr der Garant für eine offene Gesellschaft, sondern das Rollgitter, das die bessere Gesellschaft zuverlässig vom gemeinen Volk abschotten soll.
Es lohnt sich also, darüber nachzudenken, was der richtige Weg aus der Krise ist. Dazu muss man versuchen, sie zu verstehen, ihre Ursachen zu erkennen und die heutigen Strategien der Krisenfeuerwehren zu bewerten. Eine Krise ist immer ein Wendepunkt. Man kann sich besinnen und künftig ein paar Dinge anders entscheiden. Man kann entscheiden, welche Prinzipien der Marktwirtschaft heute die richtigen sind und wie ihnen zur Geltung verholfen werden kann.
Für diese Verhandlung müssen wir wieder eine gemeinsame Sprache finden. Wie kaum etwas anderes entlarven die unterschiedlichen Codes der Finanzwelt und ihrer Kritiker, wie groß die Sprachlosigkeit geworden ist, wie weit die Welten auseinanderdriften. Das ist eine Zerreißprobe für die Verbindungsleute dieser beiden Welten: für die Politiker.
Während Banken und Investmenthäuser eine Eigenkapitalrendite von 25 Prozent vor der Krise für ziemlich normal hielten, empörten sich Politiker und Gewerkschaften einstimmig über die Gier, die sich darin offenbare. Topmanager finden es in Ordnung, wenn sie Millionenboni für ihre Arbeit erhalten. Eine breite Bevölkerungsmehrheit sieht darin eher eine Methode, wie sich diejenigen selbst bedienen können, denen es ohnehin schon gut geht. Politiker debattieren gewandt über Rettungsfazilitäten, Leveraging und Bail-out-Konditionen – der Öffentlichkeit ist das Grund genug, sich entsetzt aus der Debatte abzumelden.
Je komplizierter die Welt wurde, desto weiter entfernten sich die Sphären ihrer Führungskräfte von denen der normalen Bürger. In den Anfangsjahren des westdeutschen Wirtschaftswunders reichten noch einfache Begriffe, um den öffentlichen Austausch zum richtigen Kurs der Wirtschafts- und Sozialpolitik möglich zu machen.
»Komplex« ist das neue Wieselwort für die Fachleute geworden. Mit »komplexen Finanzprodukten« wird der Schuldige für die Finanzkrise gleichermaßen benannt und verborgen. Mit »komplexen Märkten« wird die Verantwortung für die Krise einerseits lokalisiert, andererseits in einen extraterrestrischen Raum verbannt. Mit »komplexer Welt« schließlich wird das Kartell aus Politikern, Wirtschaftsführern, Regulierern, Beratern und Wissenschaftlern legitimiert, das die westliche Welt aus der Krise ziehen soll. »Komplexität« ist zur universalen Entschuldigungsformel geworden, die Grenzen der Gewaltenteilung zu missachten, die Verfassungen der Nationalstaaten zu beugen oder auch nur die großen Treffen des Kartells der Weltenretter zu bemänteln.
Komplexität heißt, dass man Probleme auch dann nicht vollständig begreifen kann, wenn man die Details ihres Zustandekommens kennt. Umso merkwürdiger ist es, dass mit der Vielschichtigkeit der Probleme »alternativlose« Lösungswege Konjunktur bekamen. »Alternativlos« – das war das politische Radikalverfahren im Ringen um den richtigen Weg aus einer Situation, die zu kompliziert war, um sie zu verstehen. »Alternativlos« – das ist in demokratischen Gesellschaften aber auch die Kündigung des demokratischen Prinzips. Man darf noch abstimmen, aber nicht mehr Nein sagen.
Die gewählten Volksvertreter in allen Staaten, die von der Finanzkrise betroffen sind, fügten sich erbittert in ihr Schicksal, die Kulisse für längst getroffene Entscheidungen abzugeben.
Die Finanzkrise und die europäische Schuldenkrise haben viel mehr erschüttert als nur die Weltwirtschaft. Sie haben deutlich gemacht, wie stark demokratische Konventionen vom wirtschaftlichen Erfolg einer Volkswirtschaft abhängen.
Dieses Buch soll beschreiben, dass die Welt zwar kompliziert ist, man sie aber trotzdem verstehen kann. Es soll erklären, wie es zu dem großen Systemversagen kommen konnte – und welche Wege sich für einen Neustart empfehlen.
Das Manuskript zu diesem Buch wurde Anfang Februar 2012 abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt rangen Griechenland und die europäische Union wieder einmal um neue Milliarden, die das Land retten sollen. Auf den Straßen Athens liefen die Bürger Sturm gegen Gehalts- und Rentenkürzungen, Entlassungen im öffentlichen Dienst und...