2 Mehrperspektivische Betrachtungsweisen
Im Folgenden wird die Bedeutung und Umsetzung des RANDORI im Training aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet.
Zunächst wird die traditionelle Sichtweise betrachtet, wie sie von Jigoro Kano, dem Begründer des JUDO, beschrieben wurde.
Wolfgang Hofmann, der als erfolgreicher Wettkämpfer (1956-1970) und später als JUDO-Dozent an der Deutschen Sporthochschule Köln aktiv war, lernte die Tradition der japanischen Kampfkünste während seines Sprach- und Sportstudiums in Japan (1961-1963) vor Ort kennen und stellt auf Grund dieser Erfahrungen ein Bindeglied zwischen dem traditionellen und dem modernen Verständnis von RANDORI dar.
Ein Interview mit Frank Wieneke, dem erfolgreichen Wettkämpfer und ehemaligen Bundestrainer der deutschen JUDO-Nationalmannschaft der Männer, gibt Aufschluss über die Bedeutung des RANDORI für den modernen Leistungssport.
Ralf Lippmann, der als Ausbildungsleiter des Deutschen JUDO-Bundes seit vielen Jahren in der Trainerausbildung tätig ist, hebt die pädagogischen und methodisch-didaktischen Aspekte des RANDORI hervor, die sich auf die Umsetzung und Vermittlung dieser Übungsform beziehen.
Anhand der Gegenüberstellung der unterschiedlichen Perspektiven in Form von Interviews werden auch die Veränderungen bzw. die zeitliche Entwicklung der Übungsform RANDORI hervorgehoben.
Außerdem wird durch die Darstellung der verschiedenen Sichtweisen deutlich, dass es unterschiedliche Zielsetzungen sowie Möglichkeiten der Umsetzung und Praktizierung des RANDORI im JUDO-Training gibt. Gleichzeitig wird auf die Notwendigkeit der Anpassung an verschiedene Zielgruppen hingewiesen.
2.1 Die traditionelle Sichtweise
Jigoro Kano
Als „ultimatives Ziel des RANDORI“ wird bei Kano die Entwicklung der Fähigkeit beschrieben, „schnell auf sich verändernde Gegebenheiten zu reagieren, einen starken und zugleich geschmeidigen Körper aufzubauen, sowie den Geist und den Körper auf den Wettkampf vorzubereiten“.
Um diese Zielsetzung bestmöglich zu erreichen, sollten hierbei drei Punkte besondere Berücksichtigung finden (Kodansha International, 2007):
- SHIZENTAI (natürliche Grundstellung) als grundlegende Körperhaltung,
- Wurftechniken als Schwerpunkt (Ziel der Körperentwicklung und des geistigen Trainings); erst nach intensivem Wurftraining zu Grifftechniken wechseln und
- RANDORI als Training der Fertigkeiten von Angriff und Verteidigung.
Zu den wichtigsten Bedingungen beim RANDORI zählt Kano, dass die Partner sich gegenseitig nicht verletzen und dass sie stets der JUDO-Etikette gehorchen. Beides sei obligatorisch, wenn man den größtmöglichen Nutzen aus dem RANDORI ziehen wolle.
RANDORI könne – je nach Zielsetzung – entweder als Training der Methoden von Angriff und Verteidigung oder als Leibeserziehung praktiziert werden, so Kano. Für das Training von Angriff und Verteidigung reiche es aus, sich auf die sachgemäße Ausführung der Techniken zu konzentrieren.
Darüber hinaus sei RANDORI „ideal für die Körperkultur“, weil alle Teile des Körpers eingeschlossen seien und alle Bewegungen zweckgerichtet und mit Energie ausgeführt würden. Als systematisches körperliches Training könne RANDORI auch das Ziel verfolgen, „die Kontrolle über den Geist und den Körper zu perfektionieren und eine Person darauf vorzubereiten, mit irgendeinem Notfall oder Angriff konfrontiert zu werden, sei es durch Zufall oder mit Absicht“.
Kano beschreibt RANDORI auch als Form des mentalen Trainings, als Training des Geistes. Man müsse beim RANDORI die Schwächen des Gegners suchen und bereit sein, im richtigen Moment mit allen zur Verfügung stehenden Kräften anzugreifen, ohne dabei gegen die Regeln des JUDO zu verstoßen. Das RANDORI-Training mache die Übenden „ernsthaft, aufrichtig, gedankenvoll, vorsichtig und bedachtsam in ihren Aktionen“. Außerdem lernten sie dabei, „Dinge schnell abzuschätzen und zu entscheiden und umgehend zu reagieren, da es […] im RANDORI keinen Platz für Unentschlossenheit gibt“.
Im RANDORI könne man sich nie sicher sein, welche Technik der Gegner als Nächstes ansetzt, sodass man ständig auf der Hut sein müsse. „Es geht einem in Fleisch und Blut über, wachsam zu sein.“ Dadurch eigne man sich ein sicheres Auftreten an und entwickle schließlich „jenes Selbstvertrauen, das aus dem Wissen kommt, mit jeder Eventualität fertig werden zu können“.
Kano beschreibt Aufmerksamkeit und Beobachtung, Vorstellung, Abwägung und Beurteilung als nützliche Fähigkeiten, die sich durch das RANDORI-Training erlernen und verbessern lassen. RANDORI zu machen, bedeute gleichermaßen, die „komplexen mentalen und physischen Beziehungen“ zu untersuchen, die zwischen den Wettkämpfern bestehen.
„Eine andere Lehre, die wir aus dem RANDORI ziehen können, ist es, immer genau die richtige Menge an Kraft aufzuwenden – nie zu viel, aber auch nie zu wenig. […] Dies sind nur einige Beispiele dafür, welchen Beitrag RANDORI für das intellektuelle Training der Psyche leisten kann.“
Neben den physiologischen Momenten kommt dem Übungskampf auch hinsichtlich der Motivation der Schüler eine entscheidende Bedeutung zu. Die Schüler können miteinander wetteifern und die gelernten Techniken frei einsetzen, kombinieren und variieren, d. h. kreativ tätig werden.
Wolfgang Hofmann
Hofmann (1983) ist nicht ausschließlich als Vertreter der traditionellen Sichtweise einzuordnen, da er ebenfalls eine bedeutende Rolle als Vorreiter des modernen JUDO gespielt hat. Somit stellt er an dieser Stelle ein Bindeglied zwischen traditionellem und modernem Verständnis von RANDORI dar.
Deutlicher als bei anderen Übungsformen sollen im RANDORI – so Hofmann – Techniken aus der freien Bewegung und ohne Absprache mit dem Partner erfolgen.
„Täuschen, Überlisten, Kontern des Partners, ihn durch Bestimmen des Tempos konditionell zu ermatten, sind die Mittel des RANDORI, die diese Übungsform zur interessantesten des Judo überhaupt machen. Im RANDORI fühlt der intelligente JUDOKA sich wohl, denn hier kann und muß er den Kopf gebrauchen; bevor man den Partner »austricksen« kann, muß man ihn »ausdenken«. […] RANDORI ist kein Kampf auf Biegen und Brechen; man kämpft nicht verbissen um jeden Punkt, um jeden »Fußbreit Boden«. Geleitet von der Maxime, daß die Entwicklung des Partners genauso wichtig ist wie das eigene Fortkommen, wird man nicht in der Weise verteidigen, daß der Angriff des Partners durch die eigene, überlegene Kraft schon im Keime erstickt wird. Man soll zwar nicht für den Partner »springen«, aber doch in der Kampfesführung für ihn immer noch eine Möglichkeit offenlassen. Und wenn der Partner es verstanden hat, das Gleichgewicht richtig zu brechen, eine Technik sauber anzusetzen, dann soll man auch diesen gelungenen Angriff mit einer korrekten Fallübung abschließen. Wer sich darüber, daß er vorbildlich geworfen wurde und selber in der Lage war, eine gute Fallübung auszuführen, genauso freuen kann wie über einen eigenen Wurf, der hat den Sinn des RANDORI erfaßt“ (Hofmann, 1983).
Die Devise lautet also: miteinander statt gegeneinander kämpfen. Gemeinsam mit dem Partner sollen die im Training erlernten Techniken angewendet und der Partner damit zu Fall gebracht werden, wobei sich dieser nicht zu stark wehren, es seinem Gegenüber aber auch nicht zu einfach machen sollte.
Im Rahmen der Diplomarbeit, welche diesem Buch zugrunde liegt, bot sich mir die Gelegenheit, Wolfgang Hofmann in mehreren Gesprächen zum Thema RANDORI zu befragen. Im Folgenden werden die Kerngedanken dieser Gespräche dargestellt:
- Stellenwert von RANDORI im Training
Hofmann sprach oft von einer Diskrepanz zwischen RANDORI als langfristiger Erziehungsmethode und dem modernen Verständnis des RANDORI im Leistungssport, bei dem die kurzfristige, gezielte Vorbereitung auf den Wettkampf im Vordergrund steht.
Seiner Meinung nach wird RANDORI heutzutage hauptsächlich als Übungsform und nicht mehr als eigenständiges Ziel des Trainings verstanden, sodass es zu einer Gratwanderung zwischen dem unverbindlichen Spiel des RANDORI und dem harten Wettkampf kommt.
- Aspekt des „Miteinander-Kämpfens“
Die ursprüngliche Idee der „gegenseitigen Hilfe für den wechselseitigen Fortschritt“ werde durch den persönlichen Ehrgeiz der Athleten verfälscht, weil niemand mehr bereit sei, eine saubere Technik des Gegners zuzulassen. Stattdessen gehe es nur darum, möglichst viel Widerstand zu leisten, um ja nicht geworfen zu werden.
„RANDORI geht aber nicht alleine. Es geht nicht um Gewinnen und nicht darum, wer den Wurf macht, sondern dass es überhaupt zum Wurf kommt“, kommentierte Hofmann.
- Trainierbarkeit von Kraft und Ausdauer
Weil heute die Vorbereitung auf den Wettkampf im Vordergrund stehe, und RANDORI nur noch gezielt als Trainingsform für den Wettkampf eingesetzt werde, sei die Intensität, mit der jeder Athlet seine RANDORI bestreitet, enorm hoch. Dies sei auch ein Grund dafür, dass die Athleten während des Trainings heutzutage oft Pausen machen, was es früher im Training nicht gegeben habe: „Früher gab...