KAPITEL 1
Ein zerbrechliches Glück
Trauer und Glück gehen zusammen, heißt es in einem melancholischen nordischen Psalm aus dem siebzehnten Jahrhundert. Im Frühjahr und Herbst 1912 sollte die Wahrheit dieser Worte der frisch verheirateten Maj Wallenberg schmerzvoll bewusst werden.
Eben noch hatte sie den bis dahin glücklichsten Tag ihres Lebens erlebt: ihre Hochzeit mit dem dreiundzwanzig Jahre alten Unterleutnant der Marine, Raoul Oscar Wallenberg1. Die Eheschließung am 27. September 1911 in der Jacobs Kyrka war mit dem angemessenen Pomp und Staat gefeiert worden: Mendelssohns Hochzeitsmarsch und der Brautchor aus Wagners »Lohengrin«. Im Anschluss war den Gästen ein neungängiges Menü im Stockholmer Grand Hôtel serviert worden. Sie aßen Seezunge Walewska und Rebhuhn, dazu tranken sie den Champagner von Charles Heidsieck, den auch der russische Zar bevorzugte. Die Weinliste war mehr oder weniger identisch mit dem, was einige Monate später auf dem Nobelbankett kredenzt wurde2.
Raoul Oscar Wallenberg und Maj Wising hatten sich zwei Jahre zuvor kennengelernt. Maj war eine Schulfreundin von Sonja Wallenberg, der Cousine von Raoul Oscar, und alle drei waren sie Mitglieder desselben Sportclubs, der sonntägliche Wanderungen in der Gegend um Stockholm organisierte. Nach ein paar Monaten zunehmend intensiveren Umgangs mit Maj konnte Raoul Oscar seine Gefühle nicht länger verbergen. »Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich mich verliebt habe«, schrieb er im Frühjahr 1910 von der H. M. Göta an seinen Vater Gustaf Wallenberg.
Seine Gefühle waren so stark, dass Raoul Oscar sich genötigt sah, erst einen Heiratsantrag zu machen und dann die Erlaubnis seines Vaters einzuholen. Er hatte sich eine Weile damit herumgequält, zumal sein Vater ihn kurz zuvor erst zu einem Gespräch über das Thema Frauen zu sich gerufen und vor den »listigen Sirenen, die junge Männer in ihre Fallen locken möchten« gewarnt hatte.
Für Raoul Oscars unübliche Vorgehensweise gab es allerdings auch eine praktische Erklärung. Seine Eltern hatten in den vergangenen Jahren in Japan gelebt, wo Gustaf Wallenberg Schwedens diplomatischer Vertreter war. In dem Brief an seinen Vater schrieb Raoul Oscar, dass er im März 1910, zwei Tage, bevor er mit der Marine auf der H. M. Göta in See stach, um die Hand von Maj angehalten hatte. Zu seiner großen Erleichterung lautete die Antwort Ja. Er konnte nun seinen Eltern stolz berichten, dass seine Verlobte, Maj Wising, aus einer guten Familie stammte, sie war die jüngste Tochter des berühmten Neurologen Per Wising und seiner Frau Sophie.
Raoul beschrieb Maj als ein »kräftiges und gesundes und gut entwickeltes Mädchen, das problemlos an einem Nachmittag dreißig Kilometer laufen konnte«. Sein Vater wurde informiert, dass sie schlank und hochgewachsen sei und hübsche Füße habe, dass aber ihre Hände nicht so anmutig geformt seien wie die von Raoul Oscars eigener Mutter, Annie Wallenberg. Maj Wising, so schrieb Raoul Oscar, sei oft fröhlich und überschwänglich, doch gleichzeitig auch eine ernste und ungewöhnlich ehrgeizige junge Frau. Zum Beispiel habe sie kürzlich den Abschluss an der Privatschule von Sofie Almqvist erworben. Dies war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine außergewöhnliche Sache, ließen doch öffentliche höhere Schulen bis 1927 keine Mädchen zu.
Raoul Oscar selbst hatte die Offiziersausbildung an der Marineakademie – ein obligatorischer Teil der Ausbildung von männlichen Nachkommen der Wallenberg-Familie – mit beeindruckenden Noten absolviert. Jetzt setzte er seine Laufbahn fort, wenngleich er nie den Plan gehabt hatte, bei der Marine zu bleiben.
Sein Vater Gustaf war der Sohn des verstorbenen André Oscar Wallenberg, eines bekannten Marineoffiziers, Politikers und Bankiers, der 1856 die Stockholms Enskilda Bank (SEB) gegründet hatte. André Oscar war ein fordernder Vater gewesen, der seine Kinder (zwanzig an der Zahl, von drei verschiedenen Müttern) gern mit Geschichten über seine Erfolge und die seiner Ahnen unterhielt. Pflicht und Entsagung waren die Leitprinzipien einer Lebensphilosophie, die er auf seine Nachkommen zu übertragen suchte. Zu diesem Zweck hatte André Oscar für seine Söhne ein strenges Bildungsprogramm entworfen, das schon in frühem Alter ausländische Internatsschulen und einen krönenden Abschluss an der Marineakademie vorsah. Diese Tradition sollte von der nachfolgenden Generation fortgesetzt werden3.
Der junge Raoul Oscar war einer der besten Studenten seines Jahrgangs und bereits viel erfolgreicher als sein Vater. Im Wallenberg-Clan wurde »Rulle«, wie man ihn nannte, hoch geschätzt. Er war der älteste von André Oscars Enkeln und galt als liebenswert, klug und ausdrucksstark. Es ruhten große Hoffnungen auf ihm.
Doch das Schicksal hatte andere Pläne.
Zur Zeit der Hochzeit von Raoul Oscar und Maj im September 1911 waren die Wallenbergs bereits auf dem Weg, die einflussreichste Dynastie in der schwedischen Wirtschaftswelt zu werden. Die industrielle Revolution hatte den schwedischen Bankgeschäften kräftigen Auftrieb verliehen. Die Nachfrage nach Geschäftskrediten war groß, und um die Jahrhundertwende schossen neue Banken wie Pilze aus dem Boden.
In diesem generellen Banken-Boom war die Erfolgsgeschichte der Stockholms Enskilda Bank am beeindruckendsten. Ihre Wandlung von einer riskanten Neugründung in den 1870er und 1880er Jahren zu einer der drei marktbeherrschenden Geschäftsbanken zwanzig Jahre später war respekteinflößend4.
Nach dem Tod von André Oscar 1886 ging die Verantwortung für die Familiengeschäfte natürlicherweise auf die älteren Wallenberg-Söhne Knut, Gustaf und Marcus über. André Oscar hatte vor seinem Tod durchblicken lassen, dass für ihn Knut und nach ihm der elf Jahre jüngere Marcus die selbstverständlichen Führer des Unternehmens waren5. Vielleicht war es diese Haltung gegenüber Gustaf, die das Schicksal des Zweiges der Familie, in den Raoul Wallenberg hineingeboren werden sollte, heraufbeschwor.
Wie es sein Alter und seine Autorität verlangten, nahm Knut Wallenberg die Position des Präsidenten der Bank ein. Doch schon bald klopfte Marcus an seine Tür, eifrig bemüht, den Platz an Knuts Seite einzunehmen, von dem er fand, dass er ihn besser ausfüllen könnte als der mittlere Bruder Gustaf. Im Gegensatz zu Gustaf hatte Marcus die Marine fast gleich nach dem Examen verlassen, um in Uppsala Jura zu studieren. Marcus war ehrgeizig und stur und verhehlte kaum, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis er eine herausragende Stellung in der Bank einnehmen wollte.
Knut Wallenberg hatte sich als ein sowohl starker als auch international agierender Unternehmer erwiesen, doch besaß er keine finanzpolitische und juristische Ausbildung. Deshalb stellte er bereits 1890 Marcus als juristischen Berater ein, obwohl sein jüngerer Bruder zu der Zeit noch nicht das übliche juristische Referendariat durchlaufen hatte. Zwei Jahre später wurde Marcus Wallenberg zum Vize-Präsidenten und stellvertretenden Leiter der Bank ernannt.
Zu diesem Zeitpunkt entschied Marcus, der schon lange das Gefühl gehabt hatte, dass es Gustaf an den notwendigen Fähigkeiten fehlte, dass dieser eine Armlänge vom täglichen Geschäft der Bank entfernt gehalten werden sollte.
Die Beziehung zwischen Marcus und Gustaf war nie gut gewesen, obwohl die beiden große Teile ihrer Kindheit gemeinsam verbracht hatten. Gustaf und Marcus waren zwölf und elf Jahre alt gewesen, als sie – gemäß dem Bildungsprogramm von André Oscar – für mehrere Jahre in ein deutsches Internat geschickt wurden, um dort eine lutherische, charakterbildende Ausbildung zu genießen. André Oscar wollte, dass seine Söhne fließend Deutsch, Englisch und Französisch sprechen konnten und dass sie die Gesetze der Pflicht erlernten und emotional abgehärtet wurden. Die Eltern der Jungen beantworteten nur jeden vierten Brief der Kinder, um sie nicht zu verziehen. Heimweh wurde als Zeichen von Schwäche angesehen.
Trotz dieser gemeinsam verbrachten schwierigen Zeit scheinen die Brüder einander nicht nähergekommen zu sein. Torsten Gårdlund beschreibt in seiner Biografie von Marcus Wallenberg die Beziehung zwischen den Brüdern in der Kindheit als freundlich, doch »nicht gerade warmherzig«6.
Als Gustaf – ungefähr zu der Zeit, als sein Vater starb – mit einem riskanten Geschäft in den USA Schiffbruch erlitt, verurteilte Marcus ihn scharf. In seinen Augen fehlte es Gustaf sowohl an Common Sense als auch an finanzpolitischer Urteilskraft, was für Marcus ernsthafte Charakterschwächen darstellte. Knut teilte diese kritische Sichtweise zwar zum Teil, wollte Gustaf aber trotzdem zum Vize-Direktor der Bank machen. Marcus konnte das nicht akzeptieren. Er schrieb ein Memorandum, in dem er Gustafs Misserfolge auflistete, und überzeugte Knut, seine Pläne fallen zu lassen.
Aus diesem Grunde kam Gustaf nie weiter als bis zu einer Position im mittleren Management der Familienbank, und so beschloss er 1902, das Unternehmen zu verlassen und seinen eigenen Weg zu suchen. In seiner Ankündigung, die Leitung der Enskilda Bank zu verlassen, schrieb Gustaf: »Mein ganzes Dasein geht in eine andere Richtung als die eines Bankiers.«7
In Schweden war es zu jener Zeit kein großer Schritt von der freien Wirtschaft zum Außenministerium. Seit der Jahrhundertwende hatte Gustaf Wallenberg als Abgeordneter der Liberalen Partei für Stockholm einen Sitz in der Zweiten Kammer des Parlaments inne....