I.
Georgia
Nie allein, keinen einzigen Augenblick allein. Sich nicht in die Zwischenräume der Stille versenken zu können, wenn die Geräusche des langen Tages verstummen und die Dunkelheit noch nicht zu weinen beginnt. Tagsüber der ewige Wechsel der Brettersägen, das Hämmern, das Blöken und Muhen der Tiere, die Stimmen der Siedler, ihre Klagen, die Gebete, die Wünsche, die Lieder. Nicht allein sein an den Nachmittagen, wenn die Regenwolken schwer über dem Savannah-Fluss hängen, nicht an den Abenden. Denn abends klopfen die Nachbarn an die Tür des Bretterhauses.
Nur in den späten Nächten ist es still, wenn nicht von ferne her und immer näher kommend das Heulen der Wölfe den Schreiber erschreckt. Die Nachtschlangen rascheln draußen durch das Laub. Die Mitternachtsvögel sind erwacht, und der Wind streift vom Fluss her. Im Haus das Knistern, wenn der Schreiber die Seiten des Tagebuchs umwendet, das Kratzen der Feder und ihre metallische Berührung des Tintenglases. Mücken. Mäuse. Aber endlich wird es still in den Stunden vor dem Aufgang der Sonne. Manchmal ein Weinen. Ein Wimmern. Boltzius schreibt in den Nächten. Er schreibt, seit er auf die große Reise von Halle nach Amerika ging, und er schreibt, seit er hier in der neuen englischen Kolonie Georgia lebt. Sein Tagebuch spiegelt die schweren Tage wider, sein Schreiben ist Widerstand gegen die Flüchtigkeit der Gedanken. Jenseits des Atlantiks werden seine Briefe und Tagebücher längst erwartet. Hier in Amerika überflutet die Dunkelheit wie eine schwarze Welle die Hütten und Straßen. Zu Hause nahm sich die Dämmerung mehr Zeit. Er schreibt.
Die Witterung hier im Lande ist überaus unbeständig. Vor einigen Tagen war es ängstlich heiß, ietzo ist wieder bey Tag und Nacht eine ziemliche Kälte eingefallen, die allem Ansehen nach das Garten-Gewächse, welches zu früh gesäet worden, noch mehr ersticken, oder am Wachsthum hindern wird. Auch sind die Winde unterweilen so starck, daß man besorget, die auf schlechtem Grund gebauete Häuser werden davon umgerissen werden.
Boltzius ist in seiner Bretterhütte in Eben-Ezer am Savannah-Fluss allein. Die beiden letzten Nächte waren kühl und angenehm. Noch vor einer Woche aber hatte es starke Regenfälle und Gewitter gegeben. Der halbe Teil des neu angepflanzten Gartens wurde überschwemmt. Hochwasser und Wolkenbrüche haben fast alle frisch eingesetzten Pflanzen aus dem Boden gespült. Jetzt trocknet das Land wieder. Die Krume spaltet sich in kleine und große Risse.
Wie eine undurchdringliche Wand, dunkelgrün verschattet, steht hinter der neuen Siedlung der Wald. Hier wachsen Eichen, Fichten, Nussbäume, Weihrauchbäume, hier wachsen Sassafras, Kräuter und wilde Weinreben. Unter den Wipfeln und Baumkronen liegen die Sümpfe. Die Salzburger nennen sie Schwämme. Auch neben den Sümpfen dampft und schmatzt der Morast, dunkles Wasser steht in den Creeks. Zum Flussufer hin krümmen sich dichte Mangroven, in denen Krokodile leben: Immer wieder einmal fallen sie die Kälber an und töten sie, wenn der Wasserspiegel im Savannah-Fluss fällt und die Kälber deshalb die Böschung hinunterstolpern. Wenn die Flut steigt und sich in die sandigen Ufer hineinfrisst, kriechen die Krokodile die Böschung hinauf. In den Wäldern leben Wölfe, die erst jetzt von den Siedlern entdeckt wurden, und nachts schnüren Füchse über die wenigen Lichtungen. Das Geheul der Wölfe kommt immer näher heran. Sie singen und wimmern wie die Stürme in Salzburg, sagen die Alten, aber die Blätter der Bäume zittern jetzt nicht, nur die Dachbalken und Bretter der Holzhütten ächzen auch in windstillen Zeiten. Flaute und Sturm, Ebbe und Flut wechseln sich bis weit in den Strom hinauf ab.
In den Nächten sind die Feinde unterwegs. Es ist gut, die Fensterläden zu schließen. Sie dämpfen die Geräusche nicht, denn in den Fenstern ist kein Glas eingesetzt. Nachts dringen die Ängste aus uralten Zeiten durch die Ritzen der Balken und die Schlitze der Fensterläden in das Innere der Holzhäuser. Sie fließen mit den Ängsten zusammen, die sich hier schon längst eingenistet haben. In den Nächten horchen die Siedler darauf, was in ihnen lärmt. Bittere Erinnerungen tauchen auf, Schuldgefühle und Worte, die ungesagt blieben, weil die meisten Siedler ihr Land verlassen mussten, ohne sich verabschieden zu können.
Man nennet sie thumbe Leute, um dadurch seinen Haß gegen sie an den Tag zu legen. Sie sollen durch ihre Widersätzlichkeit und übelgegründeten Willen seyn bewogen worden, aus dem Lande zu emigriren.
Draußen werden die Rinder und die Schweine unruhig, wenn sie die Wölfe wittern. Oft kommen die Salzburger zu Boltzius, wenn sie es nicht mehr aushalten, mit sich allein zu sein. Dann erzählen sie ihm, was sie seit der Vertreibung aus Salzburg bedrückt, was ihre Seele aus den Bergen und Tälern in die neue Welt mitgeschleppt hat, alte Sünden und Ängste. Boltzius hört den Salzburgern zu und tröstet sie, so gut er kann. Wer dicht an der hölzernen Wand steht, kann hören, was im leisen Zwiegespräch ausgetauscht wird.
Zwei Frauen aus seinem Ort haben sich im Wald verirrt. Die Aufregung ist groß. Die Schweighofer! Die Eischberger! Wo sind die beiden? Sie müssen gesucht werden. Wer geht mit?
Diesen Morgen langte ich durch göttlichen Beystand über Haberkorn wieder in Eben-Ezer an, unser Boot aber wird mit einiger Provision zu Wasser nachkommen. Schon in Haberkorn erhielt ich die betrübte Nachricht, daß sich zwey fromme Weiber aus der Gemeine im Walde verloren hätten.
Das Boot mit dem Lebensmittel-Proviant für die Gemeinde Eben-Ezer wird bald eintreffen. Vor Savannah ist endlich wieder ein Schiff aus England angekommen; unter den Passagieren sollen einige Schweizer Knechte und Mägde sein, die sich in Eben-Ezer ansiedeln wollen. Boltzius und seine Begleiter sind mit dem kleinen Boot vorausgerudert. Das große Boot ist mit frischen Lebensmitteln aus dem Store-Haus von Savannah beladen, auch mit einem Fass Madeira-Wein für Boltzius, der das Getränk unter den Kranken verteilt. Für Boltzius gab es keinen Platz mehr in dem größeren Ruderboot. Er will schnell wieder in Eben-Ezer zurück sein. Es ist nicht gut, zu lange der Gemeinde fern zu bleiben. Er hat einen Teil der Briefe aus England und Deutschland bei sich. Die Salzburger sehnen sich sehr nach Post, weil sie nicht genau wissen, ob sie in Eben-Ezer bleiben müssen oder ob sie doch noch einmal umsiedeln dürfen. Das ihnen zugewiesene Areal für die Stadtgründung ist ein elendes Stück Land. Sie können ihre Siedlung aber nicht selbst verlegen, denn die Entscheidungen fallen in London, nicht in der neuen Kolonie. Die Briefnachrichten aus Salzburg, England und Preußen, die Schreiben ihrer Freunde und Gönner aus London, Augsburg und Halle tragen sie durch die Tage und sie machen ihnen Mut. So sind sie nicht allein auf sich gestellt, hier am Ende der Welt. Einige Siedler hoffen auf die Zusendung von Korn und Bohnen.
Heute ist der 23. Juli 1734. Die Salzburger wohnen seit Kurzem in Eben-Ezer. Der Ortsname stammt nicht von ihnen, sondern von James Oglethorpe, dem Gouverneur der Kolonie Georgia. Eben-Ezer: So hatte Samuel einen Stein genannt, seinen »Stein der Hilfe«. Noch stand keine einzige Hütte am Savannah-Ufer, da war das Areal für die künftigen Siedler schon benannt. Als sie noch an Bord der großen Segelschiffe waren, buchstabierten sie diese vier Silben immer wieder: ein neuer Name für ihre Zuversicht. Da war das amerikanische Festland als Kontur noch nicht aus dem Atlantik aufgetaucht.
Als ihr Land hinter den Grenzen und ihr alter Kontinent hinter dem Horizont im Osten des Atlantiks versanken, setzten die Schmerzen ein. Das Heimweh. Die bitteren Erinnerungen an Gewalt und Hass. Die Erfahrung dieser Sekundenblitze in den Augen der Zuschauer am Straßenrand, wenn ihre Kolonne bei ihrem Marsch durch die Residenzstadt Salzburg von den rechtgläubigen Bürgern gemustert wurde. Diese wissenden Blicke von Nachbarn, die gar nichts sagen müssen. Es reicht, die Abweichler, die Rebeller, die Unbotmäßigen und Andersgläubigen mit einem Augenaufschlag zu streifen. Nicht allein Worte können verletzen, es waren diese Blicke der Leute, die immer auf der richtigen Seite stehen, ganz nahe bei der Macht und den Mächtigen. Weg mit euch! Ihr jämmerlichen Staats- und Kirchenfeinde werdet hier bei uns nicht mehr geduldet. Niemals mehr! Niemals!
Weg, weg aus dem Lande mit Euch, ihr ketzerischen Hunde! Fahrt zum Teufel, Ihr unverschämten Rebeller!
Ihr werdet schon sehen. Ihr werdet als Sklaven in die Türkei verkauft.
Ihr werdet in Ketten gelegt.
Ihr werdet von den Soldaten im Meer ertränkt.
Jeden Tag hören die Exulanten neue Drohungen.
Bleibt hier, kehrt um, schwört eurer Aufsässigkeit ab!
Wenn ihr geht, geht ihr zugrunde!
Was? Dann geht doch endlich! Seid froh, wenn...