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E-Book

Rebellische Pianistin

Das Leben der Grete Sultan zwischen Berlin und New York

AutorMoritz von Bredow
VerlagSchott Music
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783795786021
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Grete Sultan (1906-2005) war eine der ungewöhnlichsten Pianistinnen des 20. Jahrhunderts. Aufgewachsen im jüdischen Großbürgertum Berlins, wurde sie in den 1920er-Jahren zu einer gefeierten Interpretin der klassischen wie der Neuen Musik. Nach Berufsverbot und wachsender Bedrohung gelang ihr 1941 in letzter Minute die Flucht. In New York etablierte sie sich als Pianistin und Klavierpädagogin. Sie wurde zur Freundin und Muse von John Cage, dessen Etudes Australes sie in der ganzen Welt spielte. Moritz von Bredow erzählt das lange Leben Grete Sultans zwischen Traumatisierung und Erfolg: ein deutsch-jüdisches Schicksal und ein Spiegel der Musik- und Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts. Moritz von Bredow arbeitet als Kinderarzt und Autor in Hamburg. Aus seiner persönlichen Begegnung mit Grete Sultan und jahrelanger Recherche entstand die eindrucksvolle Dokumentation eines einzigartigen Künstlerlebens.

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Leseprobe

Später ist mit Grete Sultan – Berlin – eine eigenartige Gestalterin am Klavier aufgetaucht, die romantische Musik ebenso wie problematischmoderne von Schönberg, Strawinsky, Toch usw. mit Kraft der Einfühlung und in merkwürdiger Synthese von Empfindung und analytischer Klarheit wiedergab.112

 

 

Aufnahmeprüfung mit fünfzehn Jahren: Kopfstand in der Musikhochschule

Noch geht es den Sultans wirtschaftlich so gut, dass Gretes Vater 1921 ein großes Haus mit parkartigem Garten im brandenburgischen Kümmernitz erwerben kann. Wieder einmal handelt Adolf Sultan vorausschauend: Schon bald wird die finanzielle Situation bedrückend und sogar in begüterten Häusern wie bei den Sultans immer deutlicher spürbar.

In diesen unruhigen und ungewissen Zeiten verlässt die fünfzehnjährige Grete Sultan nach Abschluss der zehnten Klasse mit Unterstützung ihrer Eltern das Bismarck-Lyzeum. Das Abgangszeugnis vom April 1922 bescheinigt ihr zwar gute Aufmerksamkeit und befriedigende Führung, doch Ordnung und Handschrift seien lediglich genügend, und ihr Schulbesuch sei nur unregelmäßig erfolgt. In allen Fächern erhält Grete die gleiche Note: »genügend«, mit einer Ausnahme: Im Schulfach Singen bekommt sie ein »sehr gut«.

Schon vor Beendigung der Schulzeit steht Gretes Entschluss fest, von dem niemand in der Familie oder im Freundeskreis überrascht ist: Sie will Klavier studieren. Seit einigen Monaten hat sie sich mithilfe der am Stern’schen Konservatorium ausgebildeten Pianistin Helene Praetorius für die Aufnahmeprüfung an der Berliner Musikhochschule vorbereitet, für die sie noch im April 1922 zugelassen wird. Grete Sultan ist die Jüngste von insgesamt 78 Bewerbern, die sich in dieser Zeit der Neuorientierung des Musikwesens in Deutschland Hoffnung auf einen Studienplatz machen.

Seit etwas mehr als drei Jahren ist der 36-jährige Pianist und Klavierpädagoge Leo Kestenberg Musikreferent im preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung. Seine Entscheidungen im Hochschulbereich stellen die Weichen für eine völlige Reform von Forschung und Lehre, von Didaktik und musikalischer Aussage. An der 1869 gegründeten Musikhochschule richtet Kestenberg ein Seminar für Musikerziehung ein, an dem mehrere reformorientierte Pädagogen beschäftigt werden. Die Pianisten Egon Petri und Artur Schnabel werden ebenso engagiert wie Grete Sultans späterer Hochschullehrer Leonid Kreutzer. Schließlich holt Kestenberg auch seinen eigenen Mentor Ferruccio Busoni an die Akademie der Künste. Kestenberg überrascht aber auch mit umstrittenen Einfällen, so etwa mit der Berufung des deutschnational gesinnten, antisemitischen Hans Pfitzner an die Akademie. Dennoch bildet seine Reform den bis heute entscheidenden Entwicklungsschritt auf dem Wege hin zu einer festen Verwurzelung von Musik und Musikerziehung in Kindergärten, Schulen und Musikschulen, ganz abgesehen von der Reformierung der Berliner Musikhochschule.

Seit 1920 ist der österreichische Komponist Franz Schreker Direktor der Staatlichen akademischen Hochschule für Musik der Akademie der Künste. Die Berliner Musikhochschule erlebt durch ihn eine wegweisende Wandlung und Öffnung, »eine grundlegende Erneuerung und Verjüngung des künstlerischen Personals«113 – die Bedingungen für ein Studium sind interessant und motivierend für die unkonventionelle, neugierige Grete Sultan. Noch achtzig Jahre nach ihrer Aufnahmeprüfung muss sie über sich selbst und ihre seltsame Art, sich darauf vorzubereiten, lachen:

Ich musste eine Aufnahmeprüfung an der Hochschule machen. Und da haben die Professoren mir auch – ich entsinne mich noch – ein Stück Musik gegeben, das sollte ich eine Stunde lang üben und dann ihnen vorspielen. Das habe ich mir irgendwie angeguckt, und es hat mich nicht interessiert, ich hatte keine Lust, das zu lernen. Ich war da eingeschlossen in einem Zimmer, wo ich üben sollte. Ich habe aber Gymnastik gemacht und geübt, auf dem Kopf zu stehen. […] Und dann kamen die Lehrer herein und sahen, dass ich auf dem Kopf stand und haben gelacht! Und da war besonders Curt Sachs so nett zu mir, und sie haben mich genommen!114

Grete Sultan spielt Werke von Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven und Frédéric Chopin – sie besteht die Aufnahmeprüfung mit Leichtigkeit. Nur neunzehn Studienplätze werden vergeben – Grete erhält einen davon und wird in der Beurteilung der Aufnahmeprüfung als »sehr begabt« eingestuft. Die Fünfzehnjährige tritt in die Klasse Leonid Kreutzers ein, des Lehrers ihrer Schwester Anni Victorius.

Studium bei Curt Sachs und Leonid Kreutzer

Grete Sultans Hochschullehrer für Instrumentalkunde wird Curt Sachs, der seit 1919 die Sammlung alter Musikinstrumente bei der Staatlichen Hochschule für Musik zu Berlin leitet und weiter erfolgreich ausbaut. Er erlaubt Grete, auf Cembali und Hammerflügeln zu spielen, und sie nimmt diese Möglichkeit häufig wahr. Immer wieder geht sie in die Sammlung und erarbeitet sich vor allem die großen Werke Johann Sebastian Bachs.

Drei Jahre studiert Grete Sultan bei Leonid Kreutzer, drei wichtige Jahre. Nach dem frühen Unterricht durch ihre Schwester Anni Victorius, die beiden Tanten und vor allem Richard Buhlig ist es nun an Kreutzer, Gretes Entwicklung zu fördern und zu lenken, ihre Unabhängigkeit und Individualität noch weiter zu stärken. Mit ihm hat sie einen weiteren maßgebenden Pädagogen gefunden.

Ihr Lehrer war Leonid Kreutzer gewesen. Und damit kam sie aus dem Stall eines Pianisten, der in Berlin einen außerordentlich guten, hervorragenden Ruf hatte und dafür bekannt war, dass er die zeitgenössische Musik genauso pflegte wie die Musik der Klassik und Romantik. Und entsprechend dürfte ihr Klavierspiel […] auch ein modernes Klavierspiel gewesen sein, […] eine analytische, geradlinige und auch objektivierende Spielweise.115

Der 1884 in Sankt Petersburg geborene Leonid Davidowitsch Kreutzer, »einer der originellsten Klavierpädagogen seiner Generation«,116 stammt aus einem deutsch-jüdischen Elternhaus und ist von Theodor Leschetizkys zweiter Frau Annette Essipowa sowie Alexander Glasunow unterrichtet worden. 21-jährig beginnt er mit Konzertreisen durch Europa; seit 1908 lebt er in Berlin, 1921 wird er von Leo Kestenberg an die dortige Musikhochschule berufen. Zu dieser Zeit ist Kreutzer bereits ein gefeierter Konzertpianist sowie ein gefragter Dirigent, Klavierpädagoge und Autor. Neben Grete Sultan und ihrer Schwester Anni Victorius zählen Franz Osborn, Hans-Erich Riebensahm, Karl Ulrich Schnabel und Władysław Szpilman zu Kreutzers Berliner Schülern.

Leonid Kreutzer im Jüdischen Kulturbund, 1933

Kreutzer kommt es vor allem auf einen klangvollen und tragenden Klavierton an, auf expressives Legato-Spiel und intelligenten Pedalgebrauch. Dabei ermöglicht er seinen Schülern, sich diese Spielqualitäten entsprechend ihrer Musikalität und ihrer jeweiligen Begabung anzueignen – er zwingt ihnen keine technischen Gesetze auf. »Was ist Technik? Kreutzer hat nie etwas über Technik gesagt. Meine Technik habe ich natürlich entwickelt, sie ist gar nichts Studiertes. Vielleicht Talent.«117

Leonid Kreutzer leitet die heranwachsende Grete Sultan mit Behutsamkeit und Einfühlungsvermögen, ermöglicht ihr so stetige Weiterentwicklung und Reifung des künstlerischen Ausdrucks. Richtungweisend ist auch sein Wille, seiner Studentin ein wachsendes Repertoire zu vermitteln – sie studiert die Sonaten Schuberts und lernt die frühen und mittleren Sonaten Beethovens kennen, aber auch seine Hammerklaviersonate und die letzten drei Sonaten op. 109–111. Grete spielt Girolamo Frescobaldi, Frédéric Chopin, Robert Schumann, Claude Debussy; daneben erarbeitet Kreutzer mit ihr Werke von Arnold Schönberg, Paul Hindemith, Alban Berg und Igor Strawinsky. Er hört ihr zu, ermuntert sie, arbeitet an Klang und Phrasierung, an Atem und großen Bögen. Grete erinnert sich:

Kreutzer war wunderbar. Er sagte immer: »Gretchen, nächste Woche spiel mir das vor!« Ein anderes Stück oder so. Und ich war sehr begeistert, denn er hat mich immer animiert, etwas Neues zu lernen, jedes Mal. Er hat vielleicht gewisse Sachen gesagt, aber nicht so sehr. Er hat mich spielen lassen – ja, ich sollte es ihm vorspielen. Und da hat er stets nur ein paar Bemerkungen gemacht, das hat mir großen Spaß gemacht, das war wunderbar! Ich habe so viel Musik kennengelernt dadurch und jede Woche etwas anderes gespielt. So habe ich immer nur gespielt, was mich interessiert hat. Niemals Czerny-Etüden oder so etwas, dafür sehr viel Chopin. […] Kreutzer hatte viele Konzerte und hat uns immer vorgespielt. […] Er hat selber jedes Stück von Chopin im Kopf gehabt,...

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