Radio: Die Stimmen der Vernunft?
So betreibt das Kulturfernsehen seinen Bildungsauftrag gelegentlich hart an der Grenze zur Desinformation. Im Kampf um das knappe Gut Aufmerksamkeit54 ist Kultur im gewesenen Leitmedium Fernsehen keine Option auf Bildung, Begegnung mit Neuem, Anregung, Erkenntnis, ästhetische Erfahrung, sondern vor allem ein Problem, Hindernis auf dem Weg zum Publikum. Einstweilen bestandsgeschützt durch den »Kulturauftrag« des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, aber letztlich ungeliebt. So sieht es, Ausnahmen bestätigen die Regel, auch aus. Schalten wir den Fernseher aus und das Radio an.
Zu den festen Gemeinplätzen der Kritik am Bildermedium Fernsehen gehört das Lob des Radios. Die Gründe dafür sind tief in unserer Kultur verankert. »Wer zuhört, zeigt Seele«, steht etwa über einem Interview mit dem Komponisten Klaus Huber: »Das Gehör ist das am frühesten entwickelte Organ. Solange es tiefe Musik gibt, wird es Hoffnung geben. Wer ihr zuhört, der zeigt, dass er eine Transzendenz, eine Seele hat.«55 Hier geht es noch gar nicht um das Radio, interessant ist aber die Selbstverständlichkeit der Verknüpfung von Hören mit Tiefe und Transzendenz. Es gibt eine Hierarchisierung der Sinne, in der Hören seliger ist denn Sehen. »Alle Morgen weckt er mir das Ohr, daß ich höre«, spricht in Jesaja 50 der Knecht Gottes, und: »Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück.« Solche göttliche Radiophonie findet sich immer wieder sowohl im Alten wie im Neuen Testament. Der Initialmoment der Menschwerdung Gottes, Mariä Empfängnis, wird gern als »conceptio per aurem« vorgestellt, nicht nur die Verkündigung durch den Engel Gabriel (Lukas 1), sondern auch die Empfängnis durch den Heiligen Geist erfolgt danach durch das Ohr.
Das Ohr ist das Sinnesorgan der Reinheit, und auch Hören und Gehorchen liegen nah beieinander, wie die Jesaja-Stelle zeigt. An der biblisch fundamentierten Hochschätzung des guten Hörens, das »Tiefe« erschließt, gegenüber dem problematischen Sehen, das notwendig an der Oberfläche trügerischer Phantasmagorie bleibt, hat auch die nationalsozialistische Indienstnahme des Radios als »Volksempfänger« nichts ändern können, nicht einmal die Gutelaunewellen des »Dudelfunks«, der seit Einführung des kommerziellen Privatradios 1987 den Äther schon deshalb dominiert, weil auch hier das öffentlich-rechtliche Programm sich in seinen populären Wellen der neuen Konkurrenz schnell angeglichen hat. Das öffentlich-rechtliche Bayern 3 zum Beispiel wird nach den gleichen Erfolgsgesetzen des Formatradios gemacht wie Antenne Bayern. Mit wissenschaftlicher Akribie wird auf diesen Wellen vor allem an der perfekten Musikmischung gearbeitet; perfekt ist, was möglichst viele Hörer erreicht, also die wenigsten abschreckt und die Funktion eines Begleitmediums am besten erfüllt.
Der kulturelle Auftrag ist delegiert an die Kulturprogramme, die es in Deutschland wegen der föderalen Struktur des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in großer Vielfalt gibt. Große Sender wie der Bayerische Rundfunk und der WDR bieten je gleich zwei kulturgeprägte Wellen. Bayern 4 Klassik sendet schwerpunktmäßig E-Musik, Bayern 2 Wortprogramme, also aktuelle Magazine, Hörspiel, Schulfunk, Feature. Dem entspricht im mittleren Westen etwa WDR 5. Das Kulturradio WDR 3 will mehr sein als eine öffentlich-rechtliche Version von Klassik Radio und setzt auf den Wechsel von musik- und wortgeprägten Sendestrecken. Alle Kulturwellen stehen vor der schwierigen Frage, wie sie in einem Feld verschärfter Konkurrenz der Abwanderung von Hörern entgegenwirken können. Mehr oder weniger alle setzen dabei auf Mittel der Popularisierung.
Wesentlich in den 1990er Jahren vollzog sich der Umbau der Programme zu »Wellen«, was senderintern die Zerschlagung der klassischen Hauptabteilungen (etwa: Politik, Musik, Kultur) bedeutete. Damit wurde das Primat der Fachlichkeit aufgegeben zugunsten eines redaktionellen Programmmanagements, das vor allem für einen geschmeidigeren Ablauf des Programms einer Welle sorgen soll. Wer Hörer zu einer längeren Verweildauer bringen will, muss die »Ausschaltpunkte« im Sendeablauf abschaffen. So wurden Sendungen mit je spezifischem Inhalt, im Reformerjargon »Kästchen«, abgesetzt oder an die Programmperipherie verschoben zugunsten von »Flächen« und »Strecken« mit allgemeinerer Ausrichtung; also statt »Alte Musik«, dann »Kommentar«, dann »Neue Schallplatten« werden die verschiedenen Inhalte auf durchmoderierte Langstrecken verteilt. Jetzt sind die Wellenchefs verantwortlich für den Erfolg ihres Programms, sie vertreten nicht mehr primär einen Inhalt, wobei es natürlich Konvergenzen gibt, weil die Wellen inhaltliche Schwerpunkte haben. Als nachhaltig bedeutsam aber erwies sich der Strukturumbau, weil damit der Erfolg eines Programmangebots anders bemessen wird, nämlich wesentlich an der Reichweite. Diese wird beim Radio weit weniger genau erhoben als beim Fernsehen, nämlich aufgrund von halbjährlichen Befragungen.
Die Gleichsetzung von »Erfolg« und »Quote« ist heute so selbstverständlich, dass man sich klarmachen muss: Dies war lange nicht so. Ein Hauptabteilungsleiter Kultur, zuständig etwa für die literarischen »Kästchen« im Gesamtprogramm, musste sich für dieses Ganze kaum interessieren. Auch um die Hörer brauchte er sich nicht zu sorgen, die waren einfach da, schon mangels Alternativen. Es muss eine beschauliche Zeit in den Funkhäusern gewesen sein. Ein Kultur- oder Musikchef war König in einem Reich, in dem die Sonne nie unterging, man beschäftigte scharenweise junge und alt gewordene Genies mit gutbezahlten Hörspiel-, Feature- oder Kompositionsaufträgen und schuf damit ganz eigene, bisweilen wunderbar verschrobene Biotope. Auch Meere der Langweiligkeit: Professoren verlasen mit monotoner Stimme endlose Einlassungen zu allem Möglichen, und Redakteure konnten sich tagelang mit der schnitttechnischen Ersetzung des Wortes »Gott« durch »jenes höhere Wesen, das wir verehren«, befassen, wenn religiöse Bedenken dies angeraten sein ließen, wie Heinrich Bölls Radiosatire Doktor Murkes gesammeltes Schweigen 1955 die Anstaltskultur jener Jahre beschreibt. Redakteur Murke sammelt Tonbandschnipsel ohne Worte und klebt sie zu Schweigebändern zusammen, als Gegenmittel zum allgemeinen Geschwätz. Was würde er heute sagen, wenn er Radio hörte? – In manchen Funkhäusern, irgendwo in den Büros am Ende des Gangs, sitzen sie noch, die Murkes, sie gehen nicht mehr zu den Programmkonferenzen und sind längst unsichtbar geworden, und bald werden sie verschwunden sein wie das Aye-Aye.
Die Schaffung von Wellen und Abschaffung der »Nischen-Kästchen« war der entscheidende Schritt, um nach den populären Programmen auch das Kulturradio anpassungsfähig in Bezug auf »strategische Ausrichtung« und die Umsetzung von Erkenntnissen der Hörerforschung zu machen. Etwa der, dass auch kulturelle Programme vor allem nebenbei gehört werden und deshalb nicht zu viel Aufmerksamkeit binden dürfen. Man soll beim Hörspiel bügeln können. Jetzt war es auch möglich, das vorige Sammelsurium von Inhalten dramaturgisch bewusst zu ordnen, einem Programm eine Gesamtfarbe zu geben, an einer »Identität« zu arbeiten, also Markenbildung zu betreiben. Anpassungsfähigkeit meint auch eine höhere Beweglichkeit, wenn das Programm reformiert werden soll. Je »flächiger« der Sendeablauf strukturiert ist, etwa in Dreistundenblöcken, desto leichter lassen sich Veränderungen vornehmen, nämlich auch unterhalb einer Strukturreform. Dies ist ein zunächst neutraler Befund. Diese Entwicklung hat allerdings Folgen nicht nur für die Strukturen, sondern auch für die programmliche Ausrichtung der so entstandenen Wellen: Die Reformen der Kulturwellen der ARD in den letzten Jahren weisen alle eine ähnliche Tendenz auf, und die lässt sich aus inhaltlicher Sicht durchaus bewerten.
Als Reaktion auf die kontinuierlichen Verluste des Stammpublikums, dessen gleichzeitige Überalterung, die mit einem Mangel an jugendlichen Hörern einhergeht – das wären hier Menschen unter vierzig –, haben sich die Kulturprogramme fast durchweg die gleichen Rezepte verschrieben: weniger Wort, mehr Jugendlichkeit der »Anmutung«, weniger Fachlichkeit, mehr »Begleitung«. Das endet nicht selten in überwiegend phatischer Kommunikation: Sprechakte, die nur noch soziale Funktion haben. Dieses Radio verspricht sich mehr Hörer, indem es bewusst weniger spezifisch ist, Zumutungen erspart, etwa die des konzentrierten Zuhörens. Der Heilungseffekt lässt allerdings auf sich warten: Die Abwanderung des Publikums geht weiter. Die Stammhörer sterben aus, die Jungen werden nicht gewonnen, und was das Fatalste ist: Man verliert nun auch – und zwar über alle Generationen hinweg – Hörer aus dem Segment der klassisch Kulturinteressierten, weil diese in den immer weiter verwässerten Süppchen des kulturellen Allerleis kaum noch Substanzielles zu kauen finden.
Einige schalten um zum Deutschlandfunk, dessen nüchtern-konservative Programmphilosophie sich inzwischen als Wettbewerbsvorteil erweist. Darin liegt eine Ironie: Die ängstlichen Renovierungsarbeiten und verspäteten Choreografien von Zeitgemäßheit haben gerade das Unzeitgemäße solchen Kulturradios zutage gebracht. Die Zeit verstand die Auseinandersetzung um die Reformierung etwa von WDR 3 geradezu als »Kulturkampf«, als: »[…] eine Auseinandersetzung über das geistige Klima der Republik. Verbreitete Kulturverdrossenheit begünstigt ein Klima, Geld in Events, Sport, Comedy und Stars zu stecken, statt in Qualitätsjournalismus zu...