Angst vor dem Sterben
Es ist bemerkenswert, dass in den öffentlichen Diskussionen um das Ende des Lebens fast nie vom Tod die Rede ist, sondern beinahe ausschließlich vom Sterben und von der Angst davor. Auch auf Palliativstationen wird am meisten Sorge darauf verwandt, das Sterben vorzubereiten und zu gestalten. Höchstens der Seelsorger mag die Angst vor dem Tod ansprechen. Aber auch bei den Patienten dominieren meist die Ängste vor dem Sterben.
Werden Menschen gefragt, wie sie sterben wollen, so antworten sie in aller Regel: schnell und schmerzlos, vielleicht sogar im Schlaf. Das Gegenteil wird gefürchtet, das langsame und schmerzvolle Sterben bei wachen Sinnen. Ein anderes, früher oft gebrauchtes Wort für dieses Schreckensbild ist die »Agonie«. Der Begriff kommt aus dem Griechischen und bedeutet Kampf, Wettkampf, Angst.26 Man denkt an einen Menschen, der mit dem personifizierten Tod eine Art Ringkampf führt, der sich nach Kräften wehrt, der schmerzhafte Schläge einstecken muss und am Ende trotz aller Gegenwehr unterliegt. Diese kulturelle Vorstellung vom Sterbeprozess mag zum Teil dadurch bestimmt sein, dass Menschen früher nicht selten an Verletzungen, durch Gewalt oder sogar auf dem Schlachtfeld starben und dabei natürlich entsetzliche Schmerzen litten. Zudem waren die Möglichkeiten der Schmerzlinderung lange nicht so effektiv, wie sie es heute sind. Wissenschaftliche Erhebungen zu den Symptomen während der Sterbephase zeigen, dass Schmerzen heutzutage gar nicht so häufig und so schlimm sind wie befürchtet.27 Die Angst folgt einer anderen Logik, denn Menschen müssen im Laufe ihrer zum Tode führenden Krankheit in der Tat oft starke und zuweilen unzureichend behandelte Schmerzen erleiden. Sowie die Erkrankung fortschreitet, verstärken sich meist auch die Schmerzen. Dies erzeugt dann die absolut nachvollziehbare Angst, die Schmerzen würden einen unerträglichen Höhepunkt erreichen, sobald die Erkrankung schließlich das Leben beendet. Doch das ist ein Trugschluss. Während intensive Schmerzen eher die letzten Lebensenergien eines Schwerkranken hervorrufen, beginnt der Sterbeprozess oft dann, wenn die Schmerzen nachgelassen haben und sich der Patient, erschöpft vom Aushalten der Schmerzen, entspannt. Hinzu kommt, dass der Sterbeprozess seine eigene Analgesie, also Schmerzlinderung, mit sich bringt. Es ist bekannt, dass die natürliche Dehydrierung durch weniger Flüssigkeitsaufnahme in den letzten Lebenstagen bewirkt, dass im Gehirn vermehrt schmerzlindernde Botenstoffe, Endorphine genannt, freigesetzt werden, welche ähnlich wie Morphin wirken. Und noch ein Zweites unterstützt die Analgesie im Sterben: Durch das zunehmende Nieren- und Leberversagen werden im Körper befindliche Medikamente langsamer abgebaut, sodass der Wirkspiegel von Analgetika steigt und die Schmerzlinderung effektiver wirkt.
Wer an einem Lungenkrebs, einer chronischen Lungen- oder Herzerkrankung oder einer anderen Krankheit mit Beeinträchtigung der Atmung leidet und voraussichtlich daran sterben wird, hat fast immer auch Angst vor dem Ersticken. Ich habe einige Jahre in einer Ambulanz für Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) gearbeitet. Bei dieser Erkrankung kommt es aus unerfindlichen Gründen zu einer fortschreitenden Lähmung aller willkürlich bewegbaren Muskeln des Körpers. Nach und nach verlieren die Betroffenen ihre Beweglichkeit, die Gehfähigkeit, die Möglichkeit, ihre Hände zu benutzen, aber auch die Schluck- und Sprechfähigkeit sowie, oft zuletzt, die Fähigkeit zur eigenständigen Atmung. Oft sammelt sich Speichel im Mund, der nur mühsam oder gar nicht mehr geschluckt werden kann; er rinnt über die Luftröhre in die Lunge und verursacht Hustenreiz, Luftnot und Erstickungsangst. Da der Hustenstoß meist zu schwach ist, um Speichel oder Schleim abzuhusten, geraten die ALS-Patienten in Panik und befürchten zu ersticken. Es kommt zwar so gut wie nie zu einer lebensbedrohlichen Verlegung der Atemwege, aber es fühlt sich so an. Eine Beruhigung durch vertraute Menschen, angstlösende Medikamente und eine Normalisierung der beschleunigten Atmung können diese Attacken meist schnell wieder beenden. Doch die Patienten haben verständlicherweise große Angst, eines Tages durch eine solche Attacke qualvoll zu ersticken, zumal sie ja erleben müssen, wie sich die Atemnot verstärkt, der Hustenstoß schwächer und die gesamte Belastbarkeit immer geringer wird. Zumindest diese Sorge ist unbegründet: Da sich die Lungenfunktion über Wochen und Monate stetig verschlechtert, steigt im Blut der Anteil an Kohlendioxid, das nicht mehr ausreichend ausgeatmet werden kann. Ein hoher Gehalt an Kohlendioxid im Blut wirkt aber wie ein Narkosemittel, und oft kommt es dann eines Nachts, wenn sich die Atmung ohnehin verlangsamt und weniger Kohlendioxid abgeatmet wird, zu so hohen Werten, dass die ALS-Patienten nicht mehr aufwachen. Sie sterben friedlich im Schlaf, indem die Atemzüge immer seltener und flacher werden.28 Ich habe als Arzt selten eine größere Dankbarkeit vonseiten der Patienten gespürt als in jenen Situationen, in denen ich ihnen dies erklärt habe und damit die Angst vor dem Ersticken nehmen konnte.
Leider ist dieses Wissen unter Patientenverbänden, Pflegekräften, Ärzten und sogar Neurologen immer noch unzureichend verbreitet. Immer wieder habe ich von Patienten gehört, sie seien von Ärzten darüber aufgeklärt worden, sie würden erbärmlich ersticken, wenn sie nicht einer maschinellen Beatmung zustimmten. In den 1990er Jahren wurde in einem bekannten niederländischen Dokumentarfilm berichtet, wie eine ALS-Patientin von ihrem Arzt erfuhr, sie würde eines Tages ersticken, und sie daraufhin um die Tötung durch eine Giftspritze bat, was im Rahmen des niederländischen Rechts damals auch schon möglich war und so geschah.29
Andere Symptome, die auf dem Sterbebett auftreten können, werden interessanterweise weniger gefürchtet, etwa die Übelkeit oder die Verwirrtheit. Doch es gibt noch eine weitere Angst vor einem körperlichen Leiden, das man häufig mit dem Tod assoziiert: die Angst der Betroffenen vor dem Verhungern und Verdursten – und die noch viel größere Angst der sozialen Umgebung vor dem Verhungern- und Verdurstenlassen. Woher kommen diese Ängste? Mit der Realität des Sterbens haben sie wenig zu tun, denn der Erfahrung zufolge sterben Menschen eher friedlich, wenn sie in ihren letzten Lebenstagen keine Nahrung und Flüssigkeit mehr zu sich nehmen.30 Zwar ist es häufig so, dass Sterbende über Durst klagen, aber eigentlich niemals über Hunger. Das Durstgefühl Sterbender kommt einzig und allein durch die trockenen Mundschleimhäute zustande, bedingt durch die häufige Mundatmung bei Sterbenden, die austrocknende Wirkung vieler Medikamente auf die Schleimhäute sowie die oft unnötige Sauerstoffgabe über die Nase oder direkt in den Mund. Mancherorts werden bei Sterbenden immer noch Glyzerinstäbchen zur Mundpflege eingesetzt, ohne zu bedenken, dass Glyzerin die Mundschleimhäute langfristig austrocknet und nicht befeuchtet. Dabei ist eines bewiesen: Das Durstgefühl der Sterbenden hängt nicht mit dem Flüssigkeitsgehalt des Körpers zusammen und kann durch Infusionen über eine Magensonde oder Vene in der Regel nicht beeinflusst werden.31 Es kann nur durch eine korrekte Mundpflege gelindert werden.32 Die Infusion normaler Mengen von Flüssigkeit, wie sie Nicht-Sterbende täglich benötigen, schadet Sterbenden sogar.33 Da die Nieren Sterbender Flüssigkeit langsamer ausscheiden, entsteht eine Überwässerung, die sich, vor allem durch das Lungenwasser, als Atemnot äußert.
Das Hungergefühl ist bei chronischen, auszehrenden Erkrankungen wie Krebs, Herzschwäche, ALS oder Demenz schon lange vor dem Sterbeprozess verringert oder gar nicht mehr vorhanden. Im Gegenteil ist sogar der Verlust jeden Hungergefühls, die sogenannte Anorexie, eines der häufigsten Symptome solcher Erkrankungen, die Palliativmediziner mit verschiedenen Medikamenten wie Cortison, bestimmten Hormonen oder sogar Cannabis-Medikamenten zu behandeln versuchen. Viele Patienten leiden sehr unter der Hunger- und Appetitlosigkeit, da sie sich deshalb auch an keiner Speise mehr erfreuen können.34 Das Fatale ist nun, dass die Patienten natürlich durch die Erkrankung und die verringerte Nahrungsaufnahme oft bis auf die Knochen abmagern, und das wirkt wiederum auf die Angehörigen und Umstehenden beängstigend. Fast reflexhaft steigt dann in ihnen die Angst empor, der Patient könnte verhungern. Schließlich kennt man die Bilder hungernder, ausgemergelter Menschen aus den Konzentrationslagern des Nationalsozialismus oder den Dürregebieten dieser Welt. Die Leiber sehen ganz ähnlich aus, vielleicht mit Ausnahme der oft geblähten Bäuche bei extremem Hunger.
Die Angst vor dem Verhungern- und Verdurstenlassen hat noch einen anderen, tieferen Grund. Die Angst findet sich nämlich auch bei Menschen, die nie in ihrem Leben Hunger oder eine Hungersnot erleiden mussten. Jeder Mensch hat aber in den ersten Monaten seines Lebens den Hunger als das überragende, noch undefinierte, aber unmittelbare Reflexe auslösende Bedürfnis erfahren. Und jeder, der als Vater oder stärker noch als Mutter jemals erlebt hat, wie ein Säugling vor Hunger schreit, markerschütternd brüllt oder herzerweichend weint, der wird es nicht übers Herz bringen, jemanden, zu dem eine enge Beziehung besteht, hungern oder dürsten zu lassen, auch wenn nicht sicher ist, ob der Betreffende wirklich unter Hunger und Durst leidet. Deshalb nimmt es nicht wunder, dass es besonders Eltern, und am meisten Müttern, schwerfällt, ihre Kinder sterben zu lassen und in der Sterbephase auf...