Die Türkei auf ihrem Weg in die EU
Bedeutung der Beitrittsverhandlungen
Bis zum 16. April 2017 war die Türkei eine pluralistische und säkulare Demokratie mit islamischer Bevölkerung und damit für viele Staaten im Nahen und mittleren Osten ein wichtiges Vorbild. Sie hatte dem Ausbau der Beziehungen mit den europäischen Ländern immer einen großen Wert beigemessen. Dabei legt die türkische Außenwirtschaftspolitik zunehmenden Wert auf andere Regionen als die EU, wie Zentralasien und Afrika. Auch eine verstärkte Annäherung an Russland ist zu beobachten. Die Türkei hat sich damit politisch diversifiziert. Offenkundig wird das im Syrienkonflikt, wo die Türkei eigene Vorstellungen von regionaler Sicherheit umzusetzen versucht. Wirtschaftlich jedoch ist sie weiterhin besonders stark nach Europa ausgerichtet.
Schon im 19. Jahrhundert hatte die Türkei die Anstrengungen darauf konzentriert, sich mit ihren wirtschaftlichen, politischen und sozialen Strukturen nach Westen hin zu orientieren. Nach dem Ersten Weltkrieg folgte die Türkei den auch in Europa neuen Tendenzen der Demokratisierung und Entmachtung der Fürstenhäuser und entschied sich – ähnlich wie Frankreich – für das Modell einer streng säkularen Republik.
Seit dieser Zeit blieb die Türkei immer nach Westen hin ausgerichtet, wobei mit dem Aufstieg der Vereinigten Staaten zur Weltmacht insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Amerikaner Einfluss auf die türkische Politik gewannen. Die Türkei ist ein Gründungsmitglied der Vereinten Nationen, ein Mitglied der NATO, des Europarates, der OECD und assoziiertes Mitglied der Westeuropäischen Union. In Konzepten zur Verteidigung des europäischen Kontinents spielt die Türkei eine zentrale Rolle. Die Kernelemente der türkischen Außenpolitik konvergieren allgemein mit denen der EU. Dies gilt selbst bzw. gerade auch unter der Regierung von Recep Tayyip Erdoğan, seit 2001 Ministerpräsident und seit August 2014 der Staatspräsident des Landes. Dieser wichtige Bereich der Zusammenarbeit läuft parallel zur wirtschaftlichen und politischen Beziehung zur EU. Diese ist zwar durch den aktuellen Präsidenten im Zusammenhang mit dem Referendum zur Verfassungsänderung rhetorisch in Frage gestellt worden, dennoch gibt es für die Türkei keine ernsthafte alternative Option, auch nicht mit Russland, das selbst von einer starken EU profitiert.
Die Türkei ist das älteste assoziierte Mitglied der EU, und im Verlauf der letzten 50 Jahre war sie an den Aktivitäten praktisch aller internationaler Organe, die bei der europäischen Integration eine Rolle spielen, beteiligt.
Im Jahr 1959 hat die Türkei zum ersten Mal einen Antrag auf Mitgliedschaft in der EWG, aus der die heutige EU hervorgegangen ist, gestellt. Dies führte zu dem Abkommen von Ankara (Assoziationsvertrag 1963), das zusammen mit dem Zusatzprotokoll von 1970 (in Kraft 1973) die Grundlage für die heutigen Beziehungen bildet. Mit besagtem Zusatzprotokoll wurde zur Errichtung einer der Vollmitgliedschaft vorausgehenden Zollunion ein Zeitplan für 22 Jahre vorgesehen. Die EU (damals noch EG) hat bis auf wenige Ausnahmen ihre Zölle für Industriegüter aufgehoben und für aus der Türkei stammende Importe von Agrar- und einigen verarbeiteten Agrarprodukten ein Präferenzsystem etabliert. Die Türkei hat ihrerseits seit Anfang der 1970er Jahre begonnen, ihre Zölle abzubauen und diesen Prozess von 1987 an beschleunigt. Am 1.1.1996 trat die Zollunion in Kraft.
Mit der Anerkennung, dass die Türkei für eine Mitgliedschaft qualifiziert ist, wurde der Weg für die anschließenden Verhandlungen geebnet, die im Oktober 2017 ihr zwölfjähriges Jubiläum feiern – im Vergleich zu anderen Beitrittsländern ein bereits viel zu langer Zeitraum. Ob es also tatsächlich zu einem Beitritt kommen wird, bleibt ungewiss, um so mehr, als die Türkei mit einer gravierenden Verfassungsänderung dabei ist, die Linie europäischer Grundwerte zu verlassen, dies nicht zuletzt auch infolge gravierender Fehler in der EU-Türkei-Politik. Denn die Türken sind zum einen zu Recht verärgert, nachdem kein anderer Staat vor der Aufnahme in die EU derart penibel auf die Einhaltung der Aufnahmekriterien abgeklopft worden ist und die Türkei sich demzufolge im Grunde abgelehnt fühlt, zum zweiten sind auch die Strukturen der EU und der Zustand des Wirtschaftsraums der EU mit verantwortlich dafür, dass die politischen Bindungen zur Türkei marode zu werden scheinen. Inzwischen ist es nicht mehr nur die ungeschickte Rhetorik vieler EU-Politiker, sondern auch der innere Zustand der EU selbst, der die Beziehungen zur Türkei problematischer zu machen scheint.
Dennoch: Die Türkei und ihre geographische Lage sprechen auf Dauer dafür, dass die Türkei für europäische Unternehmen ein wichtiger Partner bleibt.
Zollunion
Allgemein
Seit dem 1. Januar 1996 ist die Zollunion zwischen der Europäischen Union und der Türkei in Kraft. Diese Zollunion ist die engste wirtschaftliche und politische Beziehung zwischen der EU und einem Nicht-Mitgliedstaat.
Im Wesentlichen erlaubt die Zollunion der Türkei einen besseren Zugang zu den „Binnenmarkt-Ländern“. Sie garantiert einen freien Austausch von Industriegütern und verarbeiteten Agrar-Produkten. Zölle und Gebühren wurden aufgehoben, und mengenmäßige Beschränkungen, wie Quoten, sind nicht mehr zugelassen. Die Zollunion beinhaltet die Harmonisierung der türkischen Handels- und Wettbewerbspolitik mit derjenigen der EU sowie die Ausdehnung der Mehrzahl der EU-Handels- und Wettbewerbsbestimmungen auf die türkische Wirtschaft.
Die Zollunion bietet jedoch vor allem auch für die europäische Wirtschaft wichtige Vorteile, weil damit der Zugang zu einem großen und aufstrebenden Markt gewährleistet wird. Die türkische Industrie hat bisher dem hierdurch verschärften Wettbewerb im Wesentlichen standhalten können. Befürchtungen, die türkische Industrie würde dem Wettbewerbsdruck nicht standhalten können, haben sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil: Qualität und Produktivität sind in unerwartetem Maße angestiegen und haben für die ausländischen Investoren mehr Vorteile generiert als die so genannten Billiglohnländer im europäischen Osten oder in Fernost.
Gleiche Voraussetzungen
Die Zollunion betrifft alle Aspekte der Handels- und Wettbewerbspolitik um sicherzustellen, dass für türkische und europäische Firmen dieselben Voraussetzungen gelten. Der Beschluss des Assoziationsrates vom 6. März 1995, welcher der Zollunion zugrunde liegt, beinhaltet v.a. die Aufhebung von Zöllen, mengenmäßigen Beschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung für den Handel mit Industriegütern und verarbeiteten Agrar-Produkten zwischen der Türkei und der EU, die Übernahme des Gemeinsamen Zolltarifs der EU durch die Türkei im Handel mit Drittländern, die Übernahme von Maßnahmen äquivalent zur Gemeinsamen Handelspolitik der EU durch die Türkei, einschließlich der Präferenzabkommen der EU mit bestimmten Drittländern, die Anpassung der Regeln der EU zum Wettbewerb einschließlich des Kartellrechts, zum gewerblichen Rechtsschutz (Schutz von Marken und Patenten), die Aufhebung freiwilliger Beschränkungen im Textil-Handel seitens der EU und schließlich die Errichtung eines gemischten Zoll-Unions-Ausschusses zwischen der Türkei und der EU. Die Anbindung an zahlreiche weitere Abkommen der EU sichern der Türkei umfassende Information und Konsultation in EU-Angelegenheiten.
In den nicht von der Zollunion erfassten Bereichen („Politiken“) wie der Industrieentwicklung, der transeuropäischen Netze sowie von Energie, Transport, Telekommunikation, Landwirtschaft, Umwelt, Wissenschaft, Statistik, Justiz, innere Sicherheit, Verbraucherschutz, Kultur, Information und Kommunikation wird die Zusammenarbeit stetig intensiviert.
Abbau der Zölle
Seit Inkrafttreten der Zollunion hat die Türkei alle Zölle und äquivalenten Gebühren für den Import von Industriewaren aus EU-Mitgliedsländern aufgehoben. Darüber hinaus hat sie ihre Zolltarife und die äquivalenten Gebühren für den Import von Industriegütern aus „Drittländern“ mit dem Gemeinsamen Zollaußentarif der EU harmonisiert. Die Türkei sollte bis 2000 die Handelspolitik und die Präferenz- und Zollpolitik der EU übernehmen, insoweit ist die Entwicklung jedoch noch nicht abgeschlossen.
Aufgrund all dieser Maßnahmen sind die für die Türkei geltenden Sätze für die Schutzzölle für den Import von Industriegütern von 5,9% auf 0% gefallen, gleiches gilt für Importe aus EFTA-Ländern.
Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass – sozusagen durch die Hintertür – immer wieder einmal andere Beschränkungen auftauchen, wie etwa umständliche Prüfungen der Übereinstimmung eingeführter Ware mit Standards.
Harmonisierung der Politiken
Die Zollunion umfasst nicht die Agrarwirtschaft. Dennoch wird auch hier die Zusammenarbeit ausgebaut.
Auch die Handelspolitik wird zunehmend harmonisiert. Die Harmonisierung schließt bisher das Monitoring und den Schutz von Importen aus der EU und Drittländern, das Management von mengenmäßigen Beschränkungen und Zolltarif-Quoten sowie die Bekämpfung von Importen zu Dumpingpreisen und von subventionierten Importen ein.
Zunehmend Gemeinsamkeiten bestehen auch in der Wettbewerbspolitik. Bis vor kurzem hatte die Türkei bisher kaum eine aktive Subventionierung von Wirtschaftszweigen betrieben, sondern sich auf die Förderung unterentwickelter Gebiete und auf den Erhalt des kulturellen Erbes konzentriert. Nach EU-Recht verbotene Beihilfeformen sind in der Türkei allerdings etwa in der Privilegierung türkischer Unternehmen bei Ausschreibungen erkennbar. Im...