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Reformation des Herzens

Eine vierwöchige Reise zurück zu den Wurzeln

AutorChristina Brudereck, Jürgen Mette
VerlagSCM R.Brockhaus im SCM-Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783417228618
Altersgruppe25 – 66
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
500 Jahre Reformation - was feiern wir da eigentlich? Um was ging es Martin Luther damals? Und hat es noch etwas mit uns heute zu tun - mit unserem Alltag, unserem Glauben, unserem Herzen? Christina Brudereck und Jürgen Mette nehmen uns mit auf eine vierwöchige Reise zu den vier Entdeckungen der Reformation: Gnade, Bibel, Christus und Glaube. Mal persönlich, mal theologisch, dann wieder humorig, lyrisch oder auch ein wenig provokant nähern sie sich diesen vier Säulen, die auch unsere Herzen nicht kalt lassen, wenn wir uns auf sie einlassen.

Christina Brudereck spricht und reimt, reist und schreibt und verbindet dabei Theologie und Lyrik, Spiritualität und Kultur. Sie lebt in Essen als Mitglied der evangelischen Kommunität Kirubai und engagiert sich im CVJM e/motion, einem Gemeinde-Kultur-Projekt mitten im Ruhrgebiet. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Pianisten Benjamin Seipel bildet sie das Duo 2Flügel.

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Leseprobe

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— TAG 7 —
GNADE IST MACHT, NICHT STRAFE


Beim Nachdenken über die Bedeutung der Gnade für mein Leben habe ich eine interessante Entdeckung gemacht. Gnade ist mein Lebensthema, die tragende Konstante im Auf und Ab meiner Lebensreise. Jetzt verstehe ich, warum Filme, Bilder, Texte, Erlebnisse, Eindrücke und Stimmungen, die mich nachhaltig geprägt haben, alle mit dem Thema Gnade zu tun haben: Sie haben sich tief greifend im Bewusstsein verankert und bleiben daher immer präsent und abrufbar. Sie gehören zu den Schätzen meines Lebens – unwiederbringlich, einmalig und wertvoll.

Das erste Buch meiner Lebensreise, das mich geradezu gefesselt hat, war Durchs Tor der Herrlichkeit. Elisabeth Elliot schreibt über das Leben und den frühen und grausamen Tod der fünf Missionare, die das Evangelium zu den Huoroani in Ecuador gebracht haben. Ihr Mann war einer von ihnen. Mein Vater hat mir das Buch als Zehnjährigem »ans Herz gelegt«. Die Witwe einer der Märtyrer hat sich später mit ihrem Kind auf den Weg zu den Mördern ihres Mannes gemacht. Sie hat sich in die Dschungelkultur eingefügt und so auf bewundernswerte Weise das Evangelium der Gnade gelebt.

Ein anderer Botschafter der Gnade ist Nelson Mandela. Nach rund einem Vierteljahrhundert mit Gefängnisaufenthalten und schließlich dem »Verlust« seiner eigenen Frau, die seinen Weg der Gnade nicht mitgehen konnte, überwand er die Apartheid Südafrikas mit Gnade, nicht mit Vergeltung. Das ist für mich eine Illustration des Evangeliums, wie sie kaum eindrücklicher beschrieben werden kann. Doch Apartheid ist nicht totzukriegen. Während ich diese Zeilen schreibe, häufen sich in den USA Fälle von polizeilicher Gewalt: Weiß gegen Schwarz. Unvergessen, wie Barack Obama anlässlich der Trauerfeier in Charleston das »Amazing Grace« angestimmt hat.

In der Welt der modernen Musik ist dieser Gospelklassiker eines der Lieder, das sich bei mir festgesetzt hat. Erst kürzlich hatte ich die Gelegenheit, die Uraufführung des von Andreas Malessa verfassten und von Tore W. Aas komponierten Musicals über John Newton mitzuerleben – den Autor dieses wohl bekanntesten Gnadenliedes der Weltliteratur.

In der Welt der Barockmusik ist mein persönliches Pendant dazu der zweite Teil der fünfstimmigen Bach-Motette »Jesu, meine Freude« mit dem trotzigen »Es ist nun nichts, nichts, nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind«. Meine Erinnerungen gehen zurück: Ich sehe mich in einer Phase der Selbstanklage, im Bewusstsein meiner Schuld. Diese Sache quälte mich in meinem Gewissen so sehr, dass ich ein Beichtgespräch suchte. Es gibt nichts Größeres in meinem Leben, als den Schritt ins Licht zu wagen, mich vor einem Menschen verletzlich zu machen, aus der makellosen Kulisse hervorzutreten und mein Innerstes nach außen zu kehren. Nach diesem seelsorgerischen Gespräch öffneten sich alle Schleusen der Barmherzigkeit und Gnade. Ich versenkte mich in die Bach-Motette »Jesu, meine Freude«, die so herzrührend und befreiend auf verwundete Seelen trifft.


Es gibt nichts Größeres in meinem Leben, als den Schritt ins Licht zu wagen, mich vor einem Menschen verletzlich zu machen, aus der makellosen Kulisse hervorzutreten und mein Innerstes nach außen zu kehren.

Mitten in der Schönheit der Töne und Worte gibt es jedoch einen überraschenden Bruch: Der Chor hebt an: »Es ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind.« Das »nichts« wird dreimal trotzig wiederholt, als wollte man diese Zusage fest im Bewusstsein verankern. Seitdem kehre ich immer wieder zu dieser Motette zurück. Gibt es nach einem ehrlichen Sündenbekenntnis eine größere Bestätigung und Vergewisserung als dieses Zitat aus dem achten Kapitel des Römerbriefs? Ich atme auf und atme durch. Das ist der Kern der Reformation, das ist das Zentrum der Lebenswende Martin Luthers: nichts Verdammliches mehr an uns, die wir in Christus Jesus sind.

Und dann Steven Spielbergs Film »Schindlers Liste«. Ich habe ihn bestimmt fünfmal gesehen. Und immer wieder war es diese eine Szene, die mich gefesselt hat, die Mitte des ganzen Films, der Höhepunkt, das Konzentrat:

Helene Hirsch ist bei Amon Göth, dem österreichischen SS-Hauptsturmführer und Kommandanten des Konzentrationslagers Plaszow, als Hausmädchen angestellt. Oskar Schindler kommt zu ihm in sein prachtvolles Haus auf einer Anhöhe, von der aus man das ganze Lager sehen kann. Schindler wird Zeuge einer dieser menschenverachtenden Szenen, wo die Haushälterin und ein kleiner Junge, der ihr für die Reinigung des Badezimmers zugeteilt ist, von Göth erniedrigt werden, weil sie ihre Arbeit offenbar nicht gründlich genug getan haben. Göth rastet aus, erhebt die Waffe und richtet sie auf das Hausmädchen und ihren Helfer. Dann ergibt sich ein Dialog zwischen Göth und Schindler, der in dem Satz gipfelt:

»Gnade ist Macht! Das ist Macht!«

Als ich diesen Film im Kino gesehen habe, wollte am Ende keiner aufstehen. Viele blieben bedrückt sitzen, erst langsam leerte sich der Raum. Ich war einer der letzten. Mir lief die Szene rauf und runter: »Gnade ist Macht.« Ja, das stimmt, doch nicht im Sinne einer großzügigen Gepflogenheit, wie wir das von der Passionsgeschichte bei Pilatus kennen, sondern im Sinne einer Generalamnestie.

Da wird mir bewusst, dass die großen Wendepunkte in der Kulturgeschichte oft mit Gnade zu tun haben, nicht mit Strafe. Die Apartheid ist durch Gnade überwunden worden. Die Sklaverei ist durch Gnade überwunden worden.

Meine Gedanken gehen zurück in das Jahr 2001, zum tragischen 11. September. George W. Bush hat tatsächlich geglaubt, er könnte mit seinen Hightech-Waffen den religiös motivierten Terrorismus bekämpfen. Welch eine fatale Fehleinschätzung! Am 2. Mai 2011 erschossen US-Soldaten Osama bin Laden bei der von US-Präsident Barack Obama befohlenen Erstürmung seines Anwesens in Pakistan. Sie haben zehn Jahre gebraucht, bis sie den Inbegriff des Bösen zur Strecke gebracht hatten. Damals hat die Welt aufgeatmet. Man dachte wirklich, man habe ein Problem gelöst.

Was wäre gewesen, wenn sie ihn hätten laufen lassen? Ist seit dem Tod Osama bin Ladens irgendetwas besser, friedlicher, gerechter geworden auf dieser Welt? Nichts ist in Ordnung in Afghanistan! Manchmal hat man den Eindruck, es sei alles noch bedrückender als vor dem 11. September 2001. Für jeden religiös motivierten Terroristen, den man straft, lassen sich zehn andere rekrutieren, so ziehen immer mehr junge Menschen in den Dschihad. Trotzdem muss Strafe sein, obwohl sie bei den potenziellen Terroristen offenbar keinen Gesinnungswandel verursacht.

Ich bin kein verträumter Pazifist. Mir ist bewusst, dass man dem religiös motivierten Terrorismus, der Hamas, der Hisbollah, dem IS nicht mit Sahnetörtchen und Plaudereien über Gewaltverzicht kommen kann. Das Problem des religiös motivierten Terrorismus ist weder mit noch ohne Waffen zu überwinden.


Mir ist bewusst, dass man dem religiös motivierten Terrorismus nicht mit Sahnetörtchen und Plaudereien über Gewaltverzicht kommen kann.

Aber es muss doch einmal einen geben, der den Anfang macht. Einen wie Nelson Mandela, einen wie Martin Luther King. Wo ist der kühne Visionär, der wie damals der kleine Hirtenjunge David quasi im Nachthemd in die Reihen der hoch gerüsteten Philister läuft, nur mit einer lächerlichen Steinschleuder bewaffnet, um den mobilen Klempnerladen, diesen Hightech-Roboter Goliat, zur Strecke zu bringen?

Irgendwann muss doch jemand den Kreislauf von Gewalt und Vergeltung durchbrechen. Wenn Gnade Macht ist, dann muss einer anfangen, das wörtlich zu nehmen. Das könnte die Lösung sein, um den Kampf der Religionen zu überwinden. Wir stehen außerhalb der Vision des Evangeliums, wenn wir uns auf unsere Bewaffnung verlassen, auf Abschreckung. Wann werfen wir uns dem verheerenden Zyklus von Vergeltung und Rache in die Speichen?

Ist es nicht an der Zeit, den Weg der Gewaltlosigkeit zu wagen? Ich traue mich kaum, solche Gedanken zu äußern, denn während ich im Trockenen sitze, bangen Christen in der arabischen Welt um ihr Leben, weil sie den Mordgelüsten von Islamisten ausgesetzt sind. Ich bin nüchtern genug zu akzeptieren, dass es vorläufig ohne Waffen nicht geht. Solange Waffen produziert werden, wird man sie einsetzen. Und gäbe es keine Waffen mehr, würden die Kontrahenten mit Fäusten aufeinander losgehen. Das ist der Fluch der gefallenen Welt. Aber abfinden sollten wir uns nie mit diesem Fluch.

Christen haben immer wieder den Versuch unternommen, gewaltfrei zu leben, und viele haben ihn mit dem Leben bezahlt. Trotzdem, die Friedensordnung Jesu sieht Gewaltlosigkeit vor. Und dieses Gebot gilt nicht für den Himmel, sondern es gilt für jetzt und heute. Zum Beispiel für die Flüchtlingspolitik.

So beschließen wir die erste Woche zum Thema Gnade. Wir sind von der persönlich erfahrenen Gnade zur politischen Verwirklichung von Luthers Erkenntnis der Gnade gekommen. Einer müsste einfach mal anfangen, Gnade wörtlich zu nehmen. (JM)

EXTRA:
»EIN FESTE BURG« –
ASSOZIATIONEN ZU EINER HYMNE


Ein feste Burg ist unser Gott …

Sicher bin ich.
Gott ist die gute Atmosphäre des Vertrauens, die mich umgibt.

Zugbrücke hoch und niemand kann mir was.

Ich berge mich in meiner Gottheit.

… ein...
Blick ins Buch

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