Religion und
Weltsicht
„Viele Europäer, die Indien besuchen, sind verwundert
ob der Zusammenhanglosigkeit von Vorstellungen,
die in der Religion seiner Bewohner vorherrscht.“
Abbé Dubois, 1770–1848
Der Hinduismus: das Leben ist Religion
Man kann es dem Abbé in der Tat nicht verdenken: Der Hinduismus ist weder leicht zu erklären noch zu verstehen. Und schon gar nicht für einen Mann seiner Zeit, der nach Indien gekommen war, das Christentum zu verkünden. Selbst einem gebildeten Inder wird es nicht leicht fallen, seine Religion klar darzulegen. Schließlich gibt es im Hinduismus nicht nur eine grundlegende Schrift wie im Christentum, sondern es existiert eine ganze Bücherei heiliger Schriften und diese sind oft ganz unterschiedlicher Natur und Aussage. Ich will hier eine Beschreibung des Hinduismus versuchen und das so „unakademisch“ wie möglich. Dabei möchte ich auf die ausschweifende Analyse der „Entstehung“ verzichten und mich darauf konzentrieren, was der Hindu „glaubt“ und wie dieser Glaube in sein tägliches Leben eindringt.
Der Gott Vishnu ist der Erhalter des Universums, der Ursprung aller Dinge. Er liegt schlafend im „Ur-Ozean“ auf der tausendköpfigen Schlange Shesha. Während seines Schlafes erwächst seinem Nabel eine Lotusblume. In dieser Lotusblume wird Brahma geboren, der die Welt erschafft. Kaum ist die Welt entstanden, erwacht Vishnu aus seinem Schlaf, um in Vaikuntha, dem höchsten Himmel, zu regieren. Gemäß der Hindu-Mythologie hat sich Vishnu neun Mal auf Erden inkarniert, d. h. neun Mal ist er in verschiedenen Formen auf die Welt gekommen. Diese Avatars (= Inkarnationen) Gottes sind Matsya (der Fisch), Kurma (die Schildkröte), Varaha (der Eber), Narasinha (der Löwenmensch), Vamana (der Zwerg), Parashurama („Rama mit der Axt“), Krishna und Buddha. Vishnu ist der universelle Gott, und alle anderen Götter sind aus ihm erschaffen. So auch Shiva, der eine Art Gegenstück zu Vishnu darstellt. Ist Vishnu der Schöpfer des Universums, so ist Shiva der Zerstörer und Erneuerer aller Dinge. Das Dreigespann Brahma-Vishnu-Shiva, die Trimurti, ist die hinduistische Form der Dreifaltigkeit.
Alle anderen Götter des Hinduismus sind im Grunde „Aspekte“ oder „Eigenschaften“ von Vishnu. So ist beispielsweise Ganesha, der dickbäuchige Elefantengott, derjenige Gott, der bei Unternehmungen hilfreich zur Seite steht und alle Hindernisse beseitigt. Lakshmi ist die Göttin für Glück und Wohlstand.
Die meisten Hindus beten zu einem „Lieblingsgott“, der von ihnen bevorzugten Form von Vishnu. Diese Auswahl wird durch lokale Traditionen beeinflusst – Götter, die im Süden verehrt werden, können im Norden gänzlich unbekannt sein. Zudem können in bestimmten Situationen Götter angerufen werden, die man ansonsten unter normalen Gegebenheiten außer Acht lässt. So mag sich ein glühender Anhänger Krishnas in Zeiten materieller Not an Lakshmi wenden, da er sich durch die Verehrung des „glücksbringenden“ Aspektes des allumfassenden Gottes eine Linderung der augenblicklichen Nöte verspricht. Ein jeder der praktisch unzählbaren Götter des Hinduismus taucht in verschiedenen Traditionen oder Regionen unter einer Vielzahl von verschiedenen Namen auf.
Hindu-Tempel sind jeweils einer Gottheit geweiht und viele Hindus unternehmen lange Pilgerfahrten (yatra), um den Tempel ihrer Familientradition zu besuchen. Vielen Tempeln und der darin wohnenden Gottheit werden übernatürliche Kräfte zugesprochen, wie etwa die Heilung von Krankheiten, das „Fruchtbarmachen“ von Ehepaaren oder das Austreiben von in Menschen gefahrenen Geistern. In den Dörfern ist der Tempel der Mittelpunkt des Lebens. Häufig werden ganze Dörfer einer Gottheit geweiht, und so entstehen Ortsnamen wie Ganeshpur (Stadt des Ganesha), Sitapur (Stadt der Sita), Ramnagar (Stadt des Rama) oder Maheshwar (Stadt des „großen Gottes“ = Shiva).
Extrainfo #2
Die Maha-Kumbha Mela in Allahabad, Indiens größtes Pilgerfest und die größte Menschenansammlung der Welt – gefeiert alle 12 Jahre, zuletzt 2013
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Der Lingam, das phallische Symbol des Gottes Shiva, und der Nandi-Bulle, sein Reittier; in Maheshwar, Madhya Pradesh
Besonders auf dem Lande ist es Tradition, Kinder mit den Namen der Götter zu benennen. So gibt es Millionen Rams (der Gott Rama) oder Sitas (Die Göttin Sita ist die Frau Ramas). Durch das Rufen des „göttlichen“ Namens sowie durch das Hören sollen die göttlichen Eigenschaften in den Sprecher oder Hörer übergehen. Davon profitiert der, der „Ram“ gerufen wird, genauso wie der Rufer selbst. Außerdem ist das Geben und Tragen von Gottesnamen eine Art Ermahnung, sich dem Göttlichen zuzuwenden. In vielen Landstrichen Indiens begrüßt man sich mit „Ram! Ram!“, „Jai Shiv-Shankar“ (Heil sei dem Shiva!) oder „Hari Om!“ (Hari = Vishnu; Om = heiliger „Urton“ des Universums). Die Religion durchdringt jeden Aspekt indischen Lebens. Der Inder begreift jedes Naturereignis oder Weltengeschehen als Ausdruck des Willens Gottes. Nichts geschieht einfach „nur so“, alles ist miteinander verknüpft.
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Yogi am Marine Drive, Mumbai
Der wichtigste und wohl folgenreichste Aspekt hinduistischen Denkens ist das Prinzip der Wiedergeburt und des karma. Der Hindu glaubt, dass seine Seele nach dem Tode in einen anderen Körper eingeht, als ein neues Lebewesen wiedergeboren wird. Es ist ein großes Glück als Mensch geboren zu werden, ebenso gut kann man „absteigen“ und als Tier zur Welt kommen. Die Art der Geburt und das Lebensschicksal werden vom karma bestimmt. Karma bedeutet Tat oder Handlung. Das Karma-Prinzip besagt, dass die vorhergegangenen Leben über die „Qualität“ des nachfolgenden Lebens entscheiden. Schicksalsschläge in diesem, jetzigen Leben sind die Folge einer schlechten Tat im vorangegangenen Leben. Ebenso ist großes Glück die Folge eines gottgerechten „Vor“-Lebens. Der Mensch mit all seinen guten und schlechten Eigenschaften ist das Produkt seiner Taten in einer Unzahl von vorangegangenen Leben.
Diese Philosophie von Ursache und Wirkung, von der unwiderruflich auf eine Tat folgenden „Belohnung“ oder „Bestrafung“ in der nächsten Inkarnation (= Fleischwerdung), birgt eine Gefahr: Allzu leicht werden augenblickliche Zustände den Folgen früherer Leben angelastet, und man versucht nicht, die Gegebenheiten zu ändern. Man ergibt sich der fatalistischen Vorstellung, dass die eigene Situation selbstverursacht unabwendbar ist und durchlitten werden muss. Diese Haltung hat die Inder allerdings auch zu Menschen gemacht, die wie kaum ein anderer in der Lage sind, Leid und Not klaglos zu ertragen. Wie oft habe ich es erlebt, dass ich mit Indern über ihre Lage sprach, und sie zum Himmel zeigten und sagten: „Was soll’s, Gott entscheidet. Er gibt, und er nimmt!“ Ohne diese Schicksalsergebenheit wäre ein Land wie Indien, mit all seinen sozialen Diskrepanzen, längst dem Chaos anheimgefallen. Der Hindu erträgt seine Situation mit vollem Vertrauen auf einen gerechten Gott.
Im Gegensatz zu allen anderen Religionen hat der Hinduismus nicht eine, sondern eine Vielzahl von heiligen Schriften. Am wichtigsten ist die Bhagavad Gita („Das Göttliche Lied“), ein Teil des Epos Mahabharata. Der orthodoxe Hindu ist davon überzeugt, dass es nichts Wissenswertes auf der Welt gibt, das nicht schon in einem seiner heiligen Bücher stünde.
Jedes Dorf hat zumindest einen weisen, alten Mann, der als „heilig“ angesehen wird. Gelegentlich sind die guru, baba oder swami nichts weiter als schläfrige Faulenzer, die unter dem Deckmantel der Religion ein angenehmes Leben führen. Häufig aber sind sie tatsächlich Personen mit spirituellem „Durchblick“. Die Dorfgemeinschaft versorgt sie mit Nahrung und bittet um ihren Segen. Auch wenn manche dieser Dorfheiligen noch mit einer Reihe sehr menschlicher Fehler behaftet sind, so bringt der Hindu ihnen dennoch größten Respekt entgegen: Für den Hindu ist allein schon der Versuch, ein gottgeweihtes Leben zu führen, extrem verehrungswürdig; wenn der Heilige dann einmal „unheilig“ vom rechten Pfade abkommen sollte, verzeiht man ihm das gerne – zumindest bei kleineren Fauxpas oder Unperfektheiten.
Der Hinduismus kennt viele Methoden, sich dem Göttlichen zu nähern, bei uns oft unter dem Oberbegriff...