Die geschichtlichen Wurzeln
Die isländische Geschichte ist erst ab dem 9. Jahrhundert dokumentiert und spielt sich nur auf der Insel ab. Island hat in seiner Geschichte nie Kriege mit ausländischen Mächten geführt, es kam nie zu Auseinandersetzungen um fremde Territorien. Zwar gab es lange Zeit Kolonialmächte, die über die Insel herrschten, doch blieben auch dann die Isländerinnen und Isländer meist unter sich.
Aufgrund seiner Abgeschiedenheit war Island höchstens peripher von Konflikten in Europa und der Welt betroffen. Dies sollte sich erst mit der Industriellen Revolution und der Erfindung des Dampfschiffs ändern.
Wohl deshalb sind die Isländer mit sich im Reinen und haben nicht nur ein ungebrochenes Verhältnis zu ihrer Geschichte, sie identifizieren sich zutiefst mit ihren Vorfahren und deren Schriften. Sie sind grundlegender Teil ihrer Persönlichkeit, sozusagen ihrer ureigenen DNS. Das schweißt die Inselbewohner zusammen, unterscheidet sie vom Rest der Welt und macht aus, wer sie sind. Ob jung oder alt, alle singen sie die gleichen wehmütigen traditionellen Lieder mit voller Inbrunst und schwenken ihre Fahnen als selbstverständlichen und unverbrüchlichen Teil ihrer Selbst.
Alle Isländerinnen und Isländer wachsen noch immer mit den Erzählungen, Liedern und Gesetzestexten der Eddas und Sagas (s. S. 240) auf, die ihnen noch immer als Leitschnur gelten.
Praktisch alle Isländer können ihren Stammbaum bis zu den ersten Siedlern zurückverfolgen. Eine stärkere Identifikation kann man sich praktisch nicht vorstellen. Immerhin wendet auch die Bibel mit der Geschichte von Adam und Eva diesen Kniff an, um deutlich zu machen, dass wir alle Gotteskinder, vom Allmächtigen geschaffene Kreaturen sind und von ihm abstammen. In der Bibel ist das eine wohl kaum wörtlich zu nehmende Geschichte, um die Legitimation des christlichen Glaubens zu unterstreichen. In Island ist dies Wirklichkeit.
Und da sich Island erst Mitte des 20. Jh. mehr oder weniger in die Weltgemeinschaft integrierte und einen wirtschaftlichen und technologischen Aufschwung erfuhr, lebt für viele, zumindest in den Erzählungen der Großeltern, die alte Lebensart fort, aus einer Zeit, bevor das Gebiet um die Hauptstadt das heute eindeutige Zentrum der Besiedlung der Insel wurde.
Will man wissen wie die Isländerinnen und Isländer wirklich ticken, muss man ihre Geschichte kennen und die Entbehrungen, die es seit jeher gekostet hat, hier im hohen Norden zu überleben.
Doch davor blieb diese Insel im Nordatlantik für Jahrhunderte ein Mysterium, gab es nur Gerüchte und Vermutungen, war nie wirklich klar, ob es sie überhaupt gibt. Und so beginnt die Geschichte der Isländerinnen und Isländer nicht auf ihrer Insel, sondern Tagesreisen weit entfernt davon in einem politisch unruhigen Norwegen.
Vogelfreie norwegische Männer und geraubte schottische Frauen – die Landnahme
Die einsame Insel im Nordatlantik blieb lange unbesiedelt, länger als die meisten Gebiete auf der Erde. Archäologen können den Zeitpunkt der Landnahme, wie die Besiedelung Islands genannt wird, recht genau bestimmen. Bodenfunde bestätigen das Jahr 871 nach Christus mit einem Spielraum von zwei Jahren davor und zwei Jahren danach: Die Funde können so genau datiert werden, da sie dicht auf der sogenannten Besiedlungsschicht liegen, einer Schicht aus Vulkanasche, die fast ganz Island bedeckt.
Allerdings gibt es Berichte, die in der Zwischenzeit auch durch Funde belegt werden konnten, darüber, dass sich einige irische Mönche schon eher hier aufgehalten haben. Da ein Land aber erst als besiedelt gilt, wenn Menschen dort mindestens ein Jahr gewohnt und mindestens ein Kind zur Welt gebracht haben, gilt der Aufenthalt der Gottesdiener noch nicht als Besiedelung.
Vor allem norwegische Wikinger, aber auch andere Siedler aus Skandinavien lebten ab dem 9. Jahrhundert hier. Einige Einwanderer waren wohl auch keltischen Ursprungs.
Die meisten der Wikinger, die mit ihren Schiffen gen Island zogen, hatten ein Problem. Zu jener Zeit regierte Harald I. Schönhaar, der sich in zahlreichen Schlachten die alleinige Herrschaft über Norwegen gesichert hatte. Dabei machte er sich nicht nur Freunde, aber es war der erste Schritt zu einem vereinten Königreich. Die für vogelfrei Erklärten, Schwerverbrecher, Mörder, aber auch jene, die man heute wohl als politisch Verfolgte bezeichnen würde, machten sich möglichst schnell aus dem Staub, indem sie, um der sicheren Lynchjustiz zu entgehen, mit ihren Schiffen in Richtung eines Landes fuhren, von dem sie nicht einmal sicher wussten, dass es existiert. Vom Hörensagen kannten sie eine Insel weit weg im Westen, die Thule genannt wurde. Doch die Fahrt dorthin war eine Fahrt ins Ungewisse und erforderte einigen Mut. Es war ja durchaus möglich, dass man mit Haut, Haar und Schiff einfach so von der Erde fallen konnte!
Unterwegs raubten die Wikinger Frauen von den britischen Inseln. Tatsächlich belegen Studien der mitochondrialen DNS und der Y-Chromosomen der Isländer, dass 80 % der männlichen Siedler nordischer und 62 % der Frauen keltischer Herkunft waren, noch präziser gesagt, stammte ein Großteil der Frauen von den Hebriden (schottische Inselgruppe). Die Wikinger unternahmen Raubzüge, aber man unterhielt damals bereits Handelsbeziehungen mit den britischen Inseln, weshalb man davon ausgehen kann, dass nicht alle Frauen geraubt waren, sondern auch ganze Familien umsiedelten. Übrigens ist das der Grund, warum es in Island auch heute noch, wenn auch nicht ganz so zahlreich wie in Schottland, relativ viele Leute mit roten Haaren gibt.
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Im Mittelalter ging es durchaus ruppig zu. Da waren Kettenhemd und Helm, der übrigens keine Hörner hatte, so manches Mal vonnöten.
Dies alles weiß man recht genau, weil der erste Historiker Islands, Ari þorgilsson („der Gelehrte“), die Besiedelungsgeschichte der Insel von ca. 870 bis 930 in seinem Íslendingabók, dem Buch über die Isländer, recht akribisch beschreibt. Diese Periode wird die Landnahme genannt. Dabei nennt Ari keine genauen Daten. Diese werden aber im Landnámabók, dem Landnahmebuch, genannt und stimmen recht genau mit archäologischen Funden überein.
Nach Ari und dem Landnahmebuch war Ingolfúr Arnarson einer der ersten ständigen Siedler Islands. Er ließ sich an einer Stelle nieder, die die Wikinger Rauchbucht getauft haben. Später entwickelte sich dieser Ort zu einem Handelszentrum und schließlich zur Hauptstadt Islands. Er heißt noch immer so wie damals – Reykjavík.
Wie Ingólfur haben sich die meisten Siedler zunächst an der Westküste Islands niedergelassen. Dies hatte einen einfachen Grund: Die Strömung an der Südküste des Landes ist so stark, dass es kaum möglich ist, dort heil mit einem Schiff anzulegen. Das hat sich in mehr als tausend Jahren nicht geändert, noch heute gibt es fast keine Häfen im Süden. So mag es schon fast poetisch anmuten, dass heute die von Europa kommenden Flugzeuge praktisch die gleiche Route nehmen wie die ersten Siedler: an der südlichen Küste entlang und um die südwestliche Halbinsel Reykjanesbær herum. Erst auf deren Nordseite wird die See ruhiger, konnten Schiffe anlegen und Häfen gebaut werden.
Im Landnahmebuch werden 400 Siedler genannt und die Orte, an denen sie sich niedergelassen haben. Demzufolge waren die meisten Siedler norwegische Adlige. Fundstücke aus dieser Zeit und die Bestattungsgewohnheiten deuten aber eher darauf hin, dass es sich vor allem um gewöhnliche Bauern gehandelt haben dürfte, die Norwegen auf der Suche nach Freiheit und Land verlassen haben.
Thing – erste demokratische Wurzeln
Gegen Ende der Besiedlungsära, so schrieb Ari, „der Gelehrte“ (s. S. 30), taten die freien Männer auf der Insel das, was in allen nordischen Ansiedlungen um den Nordatlantik damals gang und gäbe war: Sie versammelten sich zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten zu einem Thing, um wichtige Entscheidungen zu treffen. Sie gründeten außerdem ein das ganze Land betreffende Althing, das Alþingi, und kamen überein, sich künftig an einem bestimmten Ort zu treffen, der þingvellir genannt wurde.
Der Ort bot eine Ebene, in der man zelten konnte, es gab ausreichend Frischwasser und man konnte ihn von allen Landesteilen aus gut erreichen. Außerdem konnte eine Steinwand als Stimmverstärker dienen (in mikrofonlosen Zeiten ein durchaus erwägenswerter Faktor). In einem nahegelegenen tiefen Teich wurden zum Tode verurteilte Frauen ertränkt. Männer wurden bei schweren Vergehen verbannt oder enthauptet.
Die Isländer sind sehr stolz auf die lange Tradition...