Zur Einstimmung: eine Zugfahrt von Mailand nach Palermo
Mailand Hauptbahnhof. Eine lange Reise nach Palermo stand bevor. Mit mir stieg ein Mann in seinen besten Jahren ins Abteil. Mit einem großen Schwung warf er sein Laptop und einen Koffer in das Gepäcknetz und setzte sich mir gegenüber. „Fahren Sie auch bis nach Palermo oder steigen Sie schon vorher aus?“, fragte ich, während wir durch die endlos scheinende Poebene zuckelten. „Ich bin Ingenieur. Sie haben ja bestimmt von den Problemen mit dem Müll in Neapel gehört. Meine Firma hat jetzt den Auftrag erhalten, eine große Müllverbrennungsanlage an der Peripherie von Neapel zu bauen. Mich schicken sie nun dorthin, um einen geeigneten Standort für die Anlage zu finden.“ „Eine interessante Aufgabe“, erwiderte ich. Der Mann zog die Augenbrauen hoch. „Sie glauben wirklich, es sei eine interessante Aufgabe, in Süditalien eine Müllverbrennungsanlage zu bauen? Sie glauben, es sei interessant, mit Neapolitanern zu verhandeln? Es ist überhaupt nicht interessant, sondern einfach nur schrecklich.“
Ich verstummte sofort. Da ist er wieder, dachte ich mir, der bornierte Norditaliener, für den der ganze Süden Italiens, inklusive Rom, ausschließlich von Faulenzern bewohnt wird. Ich habe es satt, die meridionali (Süditaliener) gegen ihre eigenen Landsleute zu verteidigen. Zu oft schon habe ich auf die Vorzüge des Südens hingewiesen, auf die Freundlichkeit und Gastfreundschaft der Menschen und auf die historischen Gründe, warum die Süditaliener nun mal so sind, wie sie sind.
„Sie kommen aus Deutschland, seien Sie froh. Ich würde unsere Müllverbrennungsanlage auch lieber in München bauen lassen, das können Sie mir glauben.“ Mein Gegenüber versuchte, auf seine Art und Weise seine Sympathie für die Deutschen zum Ausdruck zu bringen …
Hinter Siena glitt langsam die wellige Hügellandschaft der Toskana an uns vorbei. Der Ingenieur hatte sich hinter dem Corriere della Sera (dt. „Abendkurier“, eine Mailänder Tageszeitung) versteckt und nahm erst in der südlichen Toskana, etwa auf der Höhe von Grosseto, das Gespräch wieder auf. „Wussten Sie, dass in der Toskana die wenigsten Kinder in ganz Europa geboren werden?“ Ich wusste es nicht, fragte aber den Mann, der Anfang 30 sein mochte, ob er denn selbst eine Familie habe. Er errötete leicht und verneinte die Frage. Nach einer kurzen Pause erklärte er: „Mein Vater ist vor einigen Jahren gestorben, meine Geschwister leben alle im Ausland und einer musste sich ja um die mamma kümmern. Wir leben jetzt zusammen in einer 3-Zimmer-Wohnung in Mailand. Heiraten will ich sowieso nicht, die Frauen heutzutage sind mir zu eigensinnig. Unsere Nachbarin in Mailand beispielsweise: Der Mann arbeitet bis spätabends und was macht seine Frau? Sie hat einen Liebhaber, der kommt jeden Nachmittag. Das sind keine Frauen mehr wie die aus der Generation meiner Mutter, die sich ihr Leben lang für die Familie aufgeopfert haben. Da bleibe ich lieber allein – und außerdem kann niemand so gut Risotto kochen wie meine Mutter.“ Der Ingenieur grinste zufrieden.
Bald danach erreichten wir Rom. Am Bahnhof Roma Termini stieg ein Ehepaar mit zwei Kindern zu, einem Jungen und einem Mädchen. Der Dialekt, den sie sprachen, wies eindeutig auf ihre sizilianische Herkunft hin. Der Ingenieur verdrehte die Augen. Mit viel Lärm stürmten die redseligen Kinder, die, wie wir bald erfuhren, Concetta und Tancredi hießen, das Abteil. Die beiden sieben und acht Jahre alten Geschwister waren anscheinend kleine Anarchisten. Schon beim Einsteigen stritten sie sich um die besten Plätze. Alle Anweisungen der Eltern blieben unbeachtet und der kleine Tancredi begann schon bald, wie am Spieß zu schreien. Um was es ging, verstand ich nicht, weil der sizilianische Dialekt, den die Familie sprach, nahezu unverständlich war. Zwischendurch verfiel die Mutter aber immer wieder ins Italienische, sodass ich zumindest den einen Satz mitbekam, der für einen kurzen Moment zu absoluter Ruhe im Zugabteil führte: „Wenn du nicht gleich still bist, reiße ich dir beide Arme aus und verprügele dich mit deinen eigenen gottverdammten Händen.“ Der so angesprochene Tancredi verstummte augenblicklich und verzog sein zierliches lockenumrahmtes Gesicht, als wolle er gleich wieder anfangen loszubrüllen. Der Vater kam dem Geschrei zuvor. „Aber Tancredi, du weißt doch, dass deine Mutter es nicht so gemeint hat. Wenn wir am Bahnhof von Neapel ankommen, kaufe ich dir ein paar sfogliatelle“. Dabei handelt es sich um kleine, mit Creme gefüllte Blätterteigtörtchen.
Am Bahnhof von Neapel stieg der Mailänder Ingenieur aus. „Kinder brauchen Regeln“, sagte er, während er umständlich sein Laptop aus dem Gepäcknetz nahm, „fragen Sie den Deutschen da, die wissen, wie man so etwas macht.“ Der Vater schüttelte den Kopf und wandte sich zu mir, als der Ingenieur das Abteil verlassen hatte: „Diese Norditaliener mögen uns einfach nicht. Sie wissen immer alles besser und versuchen uns hier im Süden Ratschläge zu geben. Einfach lächerlich. In Sizilien gab es schon eine Hochkultur, als die in Mailand noch auf den Bäumen lebten.“
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Eine Reise mit dem Zug gewährt tiefe Einblicke in die italienische Mentalität
In diesem Moment passierte ein mit aufgeschnittenen Kokosnüssen, belegten Schinkenbrötchen und eben jenen sfogliatelle bestückter, in der Sonne leuchtender Imbisswagen unser Abteilfenster. Der Vater kaufte für den Schreihals das Blätterteigtörtchen und für seine Schwester eine Limonade. Als der Vater Tancredi die Süßigkeit reichte, verzog der Junge das Gesicht und schrie: „Ich will aber einen cannolo und nicht diesen komischen Kuchen!“ „Aber wo um Gottes Willen soll ich am Bahnhof von Neapel einen cannolo herbekommen. Du weißt doch ganz genau, dass es cannoli nur auf Sizilien gibt!“, entgegnete der Vater. Blitzartig rutschte Tancredi von seinem Platz, stürzte sich auf seine Schwester und biss ihr ins Knie. Die Eltern trennten die beiden, indem sie Tancredi die Nase zuhielten, damit er den Biss lockern musste, und indem sie Concetta einen Finger nach dem anderen aufbogen, die sich in Tancredis Haaren verkrallt hatten.
Um mir Luft zu verschaffen, bat ich um Entschuldigung und verließ das Abteil in Richtung Toilette. Das war zu viel des Kulturschocks. Ich fragte mich, wie es diese Familie miteinander aushielt und welche Schäden die Kinder von den eigentümlichen Erziehungsmethoden der Eltern davontragen würden. Als ich wieder in das Abteil zurückkehrte, erwartete mich ein Bild, das ich nach all den Streitereien nicht erwartet hätte: Der kleine Tancredi, der eben noch von seiner Mutter mit dem Ausreißen seiner Arme bedroht worden war, saß auf ihrem Schoß und wurde von ihr mit den liebevollsten Koseworten bedacht, die das Sizilianische zu bieten hat. Das Bild, das sich mir darbot, erinnerte mich in seiner hingebungsvollen Liebe an die Pietà von Michelangelo. Das muss das Geheimnis sein, dachte ich mir. Bei allen Streitereien sind die Beteiligten nie unversöhnlich und die Kinder wissen ganz genau, dass die Liebe ihrer Mutter bedingungslos ist.
Nachdem der kleine Tancredi eingeschlafen war, entbrannte zwischen den Eltern ein flüsternd vorgetragener Disput über Kindererziehung. Vater und Mutter gaben sich gegenseitig die Schuld am Verhalten des Jungen. Die Mutter brachte sogar vor, es läge an der sizilianischen Gesellschaft, dass die Kinder so ungezogen seien: Denn auf dem Festland wüchsen die Kinder anständiger auf, einfach wohlerzogener.
Wir hatten bereits die amalfitanische Küste mit ihren wunderschönen Felsenbuchten passiert. Jetzt fuhren wir durch den gebirgigen Cilento, Italiens zweitgrößten Nationalpark, eingezwängt zwischen Kalabrien und Kampanien. Trutzburgartige kleine Dörfer lagen auf den Spitzen der Hügel, die sich einst so gegen Sarazenen und andere Eindringlinge zu schützen suchten. In Pisciotta stieg ein weiterer Fahrgast zu. Er stellte sich als Arzt vor, der schon seit Jahren in Norditalien arbeitete und jetzt seine Familie in Palermo besuchen wollte.
In der gleißenden Mittagssonne glitten vor unserem Fenster Gewerbegebiete vorbei, in denen die Firmenangestellten den Unrat einfach in die Landschaft geworfen hatten. Die Vegetation ringsum war von der Sommerhitze verbrannt und ab und zu sah man zwischen halbverfallenen Baracken ein Rudel wilder Hunde. Der zugestiegene Arzt schaute gedankenverloren aus dem Fenster und sagte: „Das Schöne und das Hässliche liegen nirgendwo auf der Welt so nahe beieinander wie in Italien.“ Niemand sagte etwas, der Mann hatte Recht. Schon bald passierten wir Tropea in Kalabrien mit seinen karibisch anmutenden Sandstränden.
„Aus welcher Stadt kommen Sie eigentlich?“, fragte ich den Vater. „Wir kommen aus Marsala, Sie kennen den Namen bestimmt wegen des berühmten gleichnamigen...