Vorwort
„Hundert Jahre Einsamkeit“, die epische Erzählung des Literaturnobelpreisträgers Gabriel García Márquez, mag für dieses Land stehen wie kein zweites Werk. Wie Kolumbien in einem weiteren Jahrhundert aussehen wird, kann heute noch kein Autor der Welt erträumen, doch allein die erste Dekade dieses neuen Jahrtausends hat bereits enorme Veränderungen gebracht und vor Kurzem noch Undenkbares denkbar werden lassen.
So gibt es im Zusammenhang mit Kolumbien kein Klischee, das nicht auch passen würde. Hier das Land Pablo Escobars, ein vermeintliches Drogenparadies. Dort ein versagender Staat, der sich illegale Söldnerheere hält, um die Guerilla in Schach zu halten. Diese immer wieder reproduzierten Stereotype sind nicht unwahr und umso tiefer in den Köpfen verankert. Den Kolumbianern selbst tun sie in der Seele weh. Die Realität vor Ort aber ist vielschichtiger und vor allem: sie ist permanent in Bewegung.
Kolumbien ist in Wirklichkeit nicht ein Land, sondern viele Zustände und Wechselbeziehungen auf einmal. Natürlich ist es auch das Land, das die Vereinten Nationen und Menschenrechtler bereits als unregierbar abgeschrieben hatten, mit einem schier unendlichen Konflikt, grassierender Armut, einem Meer von Binnenflüchtlingen. Im Wirbel dieser Spirale aus Gewalt und deren sozialen Wurzeln, die heute den Alltag vieler Menschen prägen, wären auch andere Staaten in die Knie gegangen.
Doch Kolumbien ist eben auch eine Wirtschaft, die seit Jahren robust wächst, die älteste Demokratie Lateinamerikas mit einer der modernsten Verfassungen des Kontinents und einem Präsidenten an der Spitze, der sich im nationalen Interesse für die Entkriminalisierung der Drogenpolitik ausspricht. In den letzten Jahren spürt man in vielen Teilen der Gesellschaft eine vorsichtige Aufbruchstimmung. Mit ihr kehrte die Zuversicht zurück, den verruchten Ruf abstreifen zu können und etwas Neues auf die Beine zu stellen.
Nicht überall und wahrlich nicht für jedermann, aber in vielen Ecken eröffnen sich neue Spielräume. Die Menschen fahren wieder übers Land, sie reisen, sie besuchen sich in Landesteilen, die lange nicht mehr als sicher zugänglich galten. Auch der Besucherstrom aus dem Ausland nimmt zu, für Rucksacktouristen ist Kolumbien inzwischen eine Spezialität: Kaum ein anderes Land in Südamerika verbindet auf derart grandiose Weise Naturspektakel mit Kulturschätzen wie Barichara oder Villa de Leiva, Mompox oder Cartagena, San Agustín oder die im subtropischen Regenwald versteckte „verlorene Stadt“ Ciudad Perdida.
Der Makel von gestern – Kolumbiens langjährige Abwesenheit von den Routen der Globetrotter – verwandelt sich heute scheinbar zum Elixier der Reisenden.
Forscher und Ingenieure, Glückssucher und immer mehr Wirtschaftsunternehmen entdecken gerade ein weitgehend unerschlossenes Land, das uns Mitteleuropäern kulturell zugänglich und verwandt, doch in weiten Teilen vom Massentourismus verschont geblieben erscheint. Ob mit einer Reisegruppe unterwegs oder als Individualtourist – Kolumbien bewahrt ihnen allen das Gefühl, auf eigene Faust unterwegs zu sein und auf Menschen zu treffen, für die jeder Gast gern gesehen ist.
Eine ungewöhnliche Mischung aus urwüchsiger Schönheit und kultureller Vielfalt, die das Aufeinanderprallen von Europäern, Indigenen und Nachfahren afrikanischer Sklaven bis heute entstehen ließ, übt auf Reisende eine Faszination aus.
Kolumbien ist das einzige südamerikanische Land, das sowohl vom Pazifik wie vom Atlantik aus erreicht werden kann. Um sich diesem Flecken Welt zwischen den Andenketten und den Ebenen des Orinoko und Amazonas anzunähern und ihn für sich zu erschließen, bedarf es nicht viel: ein bisschen Mut, die Vorurteile durch eigene Erfahrungen zu überprüfen, und eine Prise Spanisch, allgegenwärtige Verkehrssprache unter den über 45 Millionen Landesbewohnern. Mit Englisch alleine, so viel vorweg, wird man nicht überall durchkommen.
Alles andere besorgt die Neugierde der Gastgeber. Sie werden Herzen öffnen und die anfängliche Vorsicht, die der Fremde mitbringen mag, entwaffnen.
Europa und Lateinamerika sind sich in Vielem näher, als die etwas lustlose politische Zusammenarbeit in den letzten beiden Jahrzehnten vermuten ließe. Dennoch wird dem Neuankömmling vieles fremd vorkommen – protestantisch geprägten Mitteleuropäern vermutlich noch mehr als mit den kulturellen Errungenschaften des Vatikans seit jeher vertrauten Südeuropäern. Denn Kolumbien ist ein zutiefst katholisches Land und eine von der Kolonialherrschaft der Spanier geprägte Kultur, die im 20. Jahrhundert vom amerikanischen Einfluss überlagert wurde. Diesen Kräften konnte ein in vielen Bereichen bis heute abwesender Nationalstaat bislang nur bedingt etwas Eigenes, Selbstbestimmtes entgegensetzen.
Kolumbien lebt von der Kraft seiner ebenso überbordenden wie gefährdeten Natur: eine Perle der Tropen, durchzogen von drei steilen, die Alpen in den Schatten stellenden Kordilleren, umspült von zwei Weltmeeren und gespeist von mächtigen Flüssen wie dem Magdalenenstrom, dessen Wucht ein Anrainer des vergleichsweise milden Mains, Inns oder der Saale kaum ermessen kann.
Mit seinen über 60 Sprachen ist Kolumbien zugleich ein moderner Vielvölkerstaat, der seinen indigenen und afrokolumbianischen Minderheiten per Verfassung Sonderrechte garantiert. Diese Rücksicht überrascht angesichts des historisch einmaligen Raubbaus an den Indiokulturen und des schier unaufhaltsamen Vordringens moderner Lebensformen in deren Rückzugsgebiete. Diese immense ethnische, soziale und regionale Vielfalt der kolumbianischen Gesellschaft und die sie umgebende biologische Diversität verstehen zu wollen, bedürfte mehr als ein Menschenleben. Doch was für eine Vorstellung: Es gibt in diesem Land noch immer Ecken, in die bis heute so gut wie kein weißer Europäer je einen Fuß gesetzt hat!
Und was für ein seltenes Reiseglück ist es, eine Kultur zu erkunden, die im globalen Zeitalter noch kaum Spuren im kollektiven Bilderspeicher hinterlassen hat. Kolumbien ist ein für Europäer vielfach abgestempeltes, doch eben deshalb – und auch 500 Jahre nach Christoph Kolumbus – uns noch weitgehend unbekanntes Land: terra incognita.
Die vorliegende Einführung in die kolumbianische Kultur versteht sich als bescheidene Einstiegshilfe. Sie geht dem zur Hand, der sich dem Land und seinen Bewohnern mit Verständnis und Feingefühl nähern möchte.
Wer das versucht, wird sich an den Realitäten sicher auch mal reiben und den eigenen Blickwinkel hin und wieder wechseln müssen. Der Alltag mit dem Ungewohnten weckt die (Über-)Lebensgeister. Hier und da bringt die Berührung mit dem Fremden auch unbequeme Gefühle mit sich wie Ohnmacht oder gar Wut. Wenn Gäste die eine oder andere Erfahrung als Schock verbuchen, sollten sie sich daran erinnern, dass ein Erschrecken auch heilsam und lehrreich sein kann. Denn wer reist, möchte nicht nur Spaß haben, sondern verstehen lernen, wie andere sich in ihrem Leben einrichten und es mit Sinn füllen. Reisende machen sich auf den Weg, riskieren dabei immer auch ein bisschen ihre lieb gewonnenen Sicherheiten. Sie sollten nicht vergessen, dass sie in der Ferne die Menschen und Dinge zunächst erst einmal so wahrnehmen, wie sie vor dem Filter unserer bisherigen Erfahrungen und Erwartungen erscheinen.
In Kolumbien trifft der Besucher auf ein Land im Wandel, voller Leben. Es mag uns faszinieren oder entgeistern, aufrütteln oder verzaubern – es wird uns sicher nicht kalt lassen. Kolumbien verändert den, der sich darauf einlässt.
Oliver Schmidt
Anmerkungen des Redakteurs dieser Auflage
Seit der ersten Auflage dieses Buches sind nur wenige Jahre vergangen. Wenige Jahre, die Kolumbien einen kraftvollen Umbruch beschert haben – einen Wandel hin zu etwas, das die Menschen seit Jahrzehnten ersehnen: Frieden. Noch ist er nicht wirklich da, aber er ist greifbar – greifbarer als je zuvor. Der Friedensvertrag mit der großen Guerilla-Organisation FARCEP ist besiegelt, seitdem haben die ersten Parlamentswahlen stattgefunden. Der Papst hat gemeinsam mit Opfern und Tätern gebetet.
Reisenden öffnet sich Kolumbien in einer Weise wie nie zuvor. Optimismus, ja fast rauschhafter Enthusiasmus erfasst viele Kolumbianerinnen und Kolumbianer, die nicht nur ihre emotionalen Traumata anzugehen hoffen, sondern auch wirtschaftlichem Aufschwung entgegenstreben und entsprechend beherzt in die Hände spucken, um Neues zu schaffen. Doch durch die politische und ökonomische Welt Kolumbiens verläuft eine gefährliche Spaltung, die auch im Präsidentschaftswahlkampf 2018 offensichtlich wurde. Noch ist nichts „in trockenen Tüchern“, das zarte, fragile Gebilde „Frieden“ ist wie eine Blume, die täglich gegossen werden muss. Hier kann der Tourismus positiv ansetzen, hilft der Austausch mit Menschen aus anderen Ländern und...