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Das Fremde, das in jedem wohnt

Wie Unterschiede unsere Gesellschaft zusammenhalten

AutorZafer Senocak
Verlagedition Körber-Stiftung
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783896845467
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Warum fürchten wir das Fremde so sehr? Der Schriftsteller Zafer ?enocak hat die Abwehr, die die Begegnung mit unterschiedlichen Kulturen und widersprüchlichen Lebensentwürfen auslöst, immer wiedererlebt. Doch alle Menschen teilen die Erfahrung von Fremdheit, die Migranten und ihre Nachkommen spüren sie nur intensiver, hält der in Ankara geborene und in München aufgewachsene ?enocak fest. Als Kind türkischer Eltern der Mittelschicht wächst ?enocak mit den Sprachen, Literaturen und Geschichten zweier Länder auf - nicht mehr Türke, nie ganz Deutscher, so fühlt es sich an. Auch in der eigenen Familie sind die Unterschiede lebendig: Seine Mutter verkörpert eine weltlich-moderne Lebensweise, während der Vater sich einem zutiefst spirituellen Islam sowie der Liebe zur Poesie und Sprache verbunden fühlt. Zafer ?enocak erzählt, wie aus diesen Widersprüchen eine heile, gefestigte Identität gewachsen ist. Wer sich bewusst mit der eigenen Biografie und dem Fremden in sich selbst auseinandersetzt, so seine These, wird die Angst vor dem Fremden verlieren. Erst wenn wir gelernt haben, Diversität in uns und anderen zu akzeptieren, können wir zu einem modernen Verständnis von Gesellschaft gelangen.

Zafer Senocak wurde in Ankara als Sohn eines Verlegers und einer Lehrerin geboren. Er wuchs in Istanbul und ab 1970 in München auf, wo er auch Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie studierte. Seit seinem Debüt 1983 veröffentlichte er über 20 Bände mit Lyrik, Prosa und Essays, die ins Englische, Französische, Italienische, Tschechische, Spanische und Türkische übersetzt wurden. 2011 erschien in der Edition Körber 'Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift'. Zuletzt veröffentlichte er 'In deinen Worten: Mutmaßungen über den Glauben meines Vaters'. Senocak lebt seit 1989 in Berlin.

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Leseprobe

Meine Sprache – eure Sprache

Die dritte Sprache des Übersetzers

Mitte der Achtzigerjahre arbeitete ich an der Übersetzung von Gedichten eines anatolischen Mystikers aus dem 14. Jahrhundert – den Gedichten von Yunus Emre. In der Türkei kennt ihn jedes Schulkind. Ein türkischer Goethe sozusagen. Und dennoch ganz anders. Emre war ein Wanderderwisch, der als einzige Spur seines Lebens einige hundert Gedichte hinterlassen hatte, Gedichte von großer Eindringlichkeit und sprachlicher Schönheit. Die Arbeit an diesen Übersetzungen klärte für mich mein Verhältnis zu den beiden mir nahen Sprachen Deutsch und Türkisch. Türkisch war meine Muttersprache, Deutsch aber keine Fremdsprache mehr. Ich ließ einen anatolischen Dichter und Mystiker aus dem 14. Jahrhundert Deutsch sprechen.

Wichtig bei einer Übersetzung ist, dass ihre Sprache nicht mehr als Fremdsprache erscheint. Yunus Emre wanderte in die deutsche Sprache ein, weil ich, sein Übersetzer, im Deutschen zu Hause war. Danach schrieb ich selbst jahrelang nur deutschsprachige Gedichte.

Parallel zu dieser ersten größeren Übersetzung begann meine Beschäftigung mit den Werken deutsch-jüdischer Denker und Philosophen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, allen voran Gershom Scholem, Martin Buber, Franz Rosenzweig und Walter Benjamin. Mich faszinierte vor allem deren Rückwendung zum Judentum, nicht nur als Religion, sondern als eine Identitätskomponente innerhalb einer weitgehend assimilierten Minderheit, die nicht nur persönlichen Erfahrungen, sondern auch geistigen und philosophischen Anregungen folgte. Ihre Inspiration erhielt sie von einer dem Rationalismus gegenüber kritisch eingestellten Denkart, die auch für unsere Tage immer bestimmender zu werden scheint.

Die Hebräisch-Schüler unter der deutsch-jüdischen Jugend jener Zeit interessierten mich besonders. Die »Vernunftreligion« des Universalismus, die liberale Denkart, war zwar nicht, wie manchmal behauptet, von ihnen beiseitegeschoben worden. Doch es regte sich Widerstand gegen den Absolutheitsanspruch des Rationalismus und gegenüber den Ausmaßen einer vom Positivismus bestimmten Gedankenwelt. Die Aufklärung war längst verinnerlicht. In diesem Inneren aber stießen manche auf das Althergebrachte, das wieder ausgepackt und neu angeschaut werden wollte. Da war zum einen die Mystik, zum anderen die messianische Geschichte, da war einerseits die Offenbarung und andererseits die Kabbala.

Gershom Scholem wurde zu einem der wichtigsten Forscher der jüdischen Mystik, schrieb aber auch bedeutende Aufsätze zum deutsch-jüdischen Verhältnis und hielt seine Erfahrungen in Briefen und in einem autobiografischen Buch, Von Berlin nach Jerusalem, fest.

Diese andere Sprache, das Hebräische, war damals nicht nur aus politischen Gründen, wegen des Aufkommens des Zionismus, en vogue. Ich hatte das Gefühl, dass die Hinwendung zur hebräischen Sprache einem Bedürfnis entsprach, dem Bedürfnis, zwei Muttersprachen zu haben.

Zwei herausragende Denker des deutschsprachigen Judentums waren Martin Buber und Franz Rosenzweig. Sie waren nicht nur miteinander befreundet, sondern pflegten auch einen starken geistigen Austausch miteinander. Nicht zufällig stand die Bibelübersetzung von Buber und Rosenzweig im Mittelpunkt des Interesses der literarischen Rezeption und auch vieler Dispute. Sie strebte eine neue selbstbewusste Vereinbarkeit der deutschen Sprache mit dem hebräischen Original an. Somit wurde das Werk zu einem Monument der Zweisprachigkeit. Die Übersetzer bilden keine Brücke zwischen zwei Sprachen. Die Sprachen berühren sich in ihrem Geist, verschmelzen, oder, genauer gesagt, sie wandeln sich, jedes Wort bekommt ein neues Gesicht. Die Übersetzung des Zweisprachigen ist wie eine dritte Sprache, die in ihm wohnt.

Die Überbrückung der Distanz zwischen den Sprachen ist bei jeder Übersetzung eine Herausforderung. Mich aber erinnert jede Übersetzung an meine eigene Lebenswirklichkeit, mit und in zwei Sprachen. Türkisch ist eine Sprache, die mir auf der Zunge blieb, als ich ab dem achten Lebensjahr wortwörtlich ins Deutsche hineinwuchs. Die Sprachen mussten immer übersetzt, arrangiert und zusammengedacht werden. Türkisch und Deutsch, zwei Sprachen, die definitiv nicht zusammengehören, wenn man ihre Grammatik und ihren Wortschatz in die Waagschale wirft. Es gibt keinerlei Verwandtschaft, nicht einmal eine Nähe. War ich also in meiner Zweisprachigkeit auch ein Fremder für mich selbst? Wie konnte ich diesen Fremden in meinem Selbst akzeptieren, ohne mich einer für meine Persönlichkeit gefährlichen Spaltung auszusetzen? Diese Frage konnte weder in linguistischen Seminaren beantwortet werden noch auf Integrationsgipfeln. Sie war eine intime Frage, die nicht delegiert werden konnte. Das Hineinhören in die Sprachen wird irgendwann zum Hineinhören in den Körper. Die Sprache antwortet dir aus dem Inneren des Leibes, und man wird diese Antwort als eine Gnade empfinden.

Sätze dieser Art stehen auf vielen halbvollen Papierbögen, die ich angefangen habe zu beschreiben, in der einen oder anderen Sprache, als mir klarwurde, ich würde mein Leben lang schreiben. Schreiben aus Berufung und als Beruf. Doch das Schreiben verändert meine Einstellung gegenüber den beiden Sprachen nicht. Es ist nur natürlich, dass ein Mensch, der mit der deutschen Sprache sozialisiert wird, literarische Texte auf Deutsch verfasst. Es ist aber nicht natürlich, dass ein Mensch, dessen Vater und Mutter Türkisch sprechen, dazu nicht mehr in der Lage ist. In Deutschland wird das als ein gewöhnlicher Integrationsprozess dargestellt. Autoren, die nicht mehr zweisprachig sind und nur noch auf Deutsch schreiben können, werden als Modell erfolgreicher Integration gefeiert. Ich habe eigentlich nie verstanden, warum das so ist.

Dabei ist in den Neunzigerjahren etwas ganz anderes passiert. Viele junge Menschen aus der zweiten und dritten Generation der Einwanderer interessierten sich plötzlich wieder für die Sprache ihrer Eltern und Großeltern, die sie selbst selten gut beherrschten. Sie besuchten Kurse, hielten sich länger in der Türkei auf, um ihre Kenntnisse zu verbessern. Erinnert uns diese Generation nicht an jene jüdischen Jugendlichen, die ein Jahrhundert zuvor Hebräisch-Kurse besuchten, sich ihr religiöses und kulturelles Erbe zu sichern versuchten? Waren die Letzteren deshalb schlecht integriert, obwohl sie aus längst assimilierten Familien stammten? Solche Vergleiche wurden und werden kaum gezogen. Die deutsch-jüdische Generation der Jahrhundertwende erschien nicht einmal am Erinnerungshorizont. Stattdessen befanden wir uns in einer Gesellschaft, die sich über den üppigen Konsum türkischer Medien beklagte.

Es gibt eine Angstformel, die lautet: Wenn man eine andere Sprache nicht versteht, versteht man den Menschen nicht. Die Fremdsprache macht den Menschen fremd. Doch heißt Fremde integrieren nicht, sie als Fremde aufzunehmen, zu akzeptieren, gleich zu behandeln? Genau das ist aber heutzutage mit Integration nicht gemeint. Nach wie vor geht es um nichts anderes als um den Verlust der einen Identität, um eine andere zu gewinnen. Und das ist im Fall von Sprachen ein großer Irrtum.

Die Möglichkeit, Goethe und die deutschen Romantiker mit der Brille der türkischen Sprache zu lesen, löste in mir erst jene Kreativität aus, die mich Gedichte schreiben ließ. Natürlich musste ich in die Tiefen der deutschen Sprache vordringen, um mich auf diese Weise ausdrücken zu können, doch diese Vertiefung wurde keineswegs aufgehalten, weil ich mich zeitgleich in der mystischen Sprache des Türkischen verlief. Ich war nicht verloren, sondern hatte doppelt gewonnen. Dafür bin ich bis heute sehr dankbar. Dankbarkeit gegenüber den Möglichkeiten der Bikulturalität, der Zweisprachigkeit, allgemein der Alterität, ist nicht weit verbreitet. Klagen über Identitätsverlust und Beklagen des Zerrissenseins beherrschen nach wie vor den Diskurs und führen oft zu Missmut und Lethargie.

Man könnte ja sagen, dass dies alles nun ein alltägliches, sozusagen wetterbedingtes Phänomen ist. Doch stimmt das? Wird unser Alltag nicht gerade durch eine multiple Schichtung von Identitätsspuren zu dem, was er ist, nämlich ein komplexes Konstrukt, das ständige Übersetzung und Arrangements braucht?

Menschen, die aus unterschiedlichen Kulturen stammen, hinken mit einem Bein, wenn sie nicht mehr zweisprachig sind. Denn die Ausdrucksweisen haben auch eine körperliche Dimension. Die Stimme des Menschen klingt in der anderen Sprache anders. Der Körper nimmt eine andere Sprechhaltung an. Manchmal denke ich, dass meine Zunge eine andere Form bekommt, spreche ich Türkisch. Diese andere Form lässt sich einfach nicht negieren. Das Recht auf die Muttersprache, auf das Erlernen und die Pflege sollte selbstverständlich ein Menschenrecht sein. Wie weit wurde dieses Recht bei uns in Deutschland verwirklicht? Mir fallen eigentlich nur negative Beispiele ein, Fälle von Behinderung, Kürzung, Abschaffung.

Zum Beispiel die muttersprachlichen Programme im öffentlich-rechtlichen Radio. Ursprünglich als Service für Gastarbeiter eingerichtet, wurden sie im Laufe der Jahre immer weiter reduziert. Mit Köln Radyosu hatte die vierzigminütige türkischsprachige Sendung des WDR bundesweit Kultstatus erreicht. Das war in den Siebzigerjahren, auch bei uns zu Hause wurde die Sendung täglich gehört. Unvergesslich die Stimme des großen Literaturvermittlers Yüksel Pazarkaya mit seinem perfekten Türkisch, der lange Jahre Korrespondent des Senders in Stuttgart war und schließlich die Redaktionsleitung übernahm. Die Qualität der Sendungen war ausgezeichnet. Der Charakter tief in der modernistischen Kultur der Türkei verwurzelt. Diese Sendungen wurden...

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