Teil II:
Ziele religiöser Bildung
Abb. 1: Schlüsselwörter der Beiträge aus Teil II dieses Bandes
Von der Wiederkehr der Religion wurde zu Beginn dieses Jahrtausends viel gesprochen. War das eine religiöse Fata Morgana und ein kirchliches Wunschdenken oder handelt es sich wirklich um eine Wiederentdeckung Gottes und der Religion? Mit Stefan Altmeyer kann man in diesem Phänomen die Herausforderung der Religionspädagogik für heute erkennen. Ziel einer religiösen Bildung in postmoderner Zeit muss mehr und mehr theologische Orientierungs- und Diskursfähigkeit werden, ohne den Praxisbezug zu verlieren. Das kann aber nicht ohne Klärung und Schärfung des Bildungsbegriffes geschehen. Darauf weisen Ursula Frost und Wolfgang Krone hin. Gegen Ökonomisierung und Instrumentalisierung der Bildung, die Lernen und Erkenntnisgewinnung zur Ware und den Menschen zum Produkt der Bildung machen, treten sie kritisch und entschieden für eine „widerständige“ Bildung als „humane Selbstverständigung“ ein. „Damit verbindet sich die Einsicht in die konstitutive Bedeutung der Bildung für die Menschwerdung des Menschen und für die Arbeit an einer menschenwürdigen Welt.“ (S. 106) Im Rückgriff auf die klassische Bildungstheorie plädieren sie für einen humanistischen und widerständigen Bildungsbegriff.
Ob ein solcher bildungstheoretischer Blick in Bezug auf eine ästhetisch ausgerichtete Fachdidaktik entfaltet werden kann, diskutiert Claudia Gärtner. Wie stehen ästhetische Erfahrung und religionspädagogische Praxis zueinander? Lassen sie sich miteinander verbinden oder schließen sie sich gar gegenseitig aus? Kann das Ästhetische überhaupt einen Beitrag zum religiösen Lernen leisten? Aufgrund erster Ergebnisse aus der empirischen Unterrichtsforschung warnt Gärtner aber davor, allzu hohe Erwartungen an Schülerinnen und Schüler zu stellen, die an solchen Lernprozessen teilnehmen. Hat doch die Religionspädagogik in der ästhetischen Ausrichtung eine Antwort auf die Suche nach einer neuen Lernkultur, die die Schülerinnen und Schüler produktiv in das Lerngeschehen miteinbezieht, zu finden geglaubt. Insbesondere die kompetenzorientierte Fachdidaktik plädiert in diesem Kontext für ein selbstgesteuertes und selbstorganisiertes Lernen im Religionsunterricht. Sehr skeptisch steht Hans Schmid diesem Wandel gegenüber und prognostiziert ein ‚grandioses Scheitern‘ (vgl. S. 128). Für ihn gilt es, die Bedeutung der fachlichen Expertise des Lehrers/der Lehrerin neu zu entdecken und ihre Bedeutung für die schulischen Lehr-/Lernprozesse zu würdigen. Dazu richtet er leidenschaftlich seinen Blick auf die pädagogischen und didaktischen Herausforderungen des Unterrichtens.
Natürlich geht es dabei immer auch um religiöse Erfahrungen. Aber wie treten diese in unserer heutigen Kultur in Erscheinung? Als ‚Insel-Erfahrungen‘ diagnostiziert Helga Kohler-Spiegel. Deshalb bedarf es überzeugter Christinnen und Christen, an denen erkennbar wird, was Religion bedeutet. Das gilt in besonderer Art und Weise im (Rück-) Blick auf Jesus, der bei den Menschen war und ihnen in ihrer Verschiedenheit gerade das gegeben hat, was sie brauchten. Von Anfang an zeigt sich, Religion und Religiosität sind biographisch geprägt und in Beziehungen/Bindungen verwoben. Natürlich hat dies pädagogische Implikationen im Umgang mit Kindern. Wesentlich ist dabei Beziehung – ‚Glaubenskommunikation‘ – darauf macht Dominik Blum aufmerksam.
Gottfried Bitter weist auf einen basalen religionspädagogischen Begriff hin, der allzu oft dem Alltagsblick der Religionspädagogik verloren geht: der Neugier. Wie kann dieses grundlegende, suchende Interesse neu geweckt, initiiert, gefördert und begleitet werden? Welche Möglichkeiten erwachsen didaktisch aus diesem Anliegen? Dazu zeichnet Bitter sowohl die biblische, philosophische als auch theologische Ideengeschichte nach und belegt, wie sehr die Neugier Lebens- und Glaubenszusammenhänge erschließen kann – dialogisch, in entdeckender Weltverantwortung der Christinnen und Christen. Eine solche Sicht hat natürlich auch Konsequenzen für das Profil und die Zielsetzung der Religionspädagogik. Sie fordert heraus, Lernbedingungen und -chancen aus christlicher ‚Tiefenperspektive‘ selbst ‚neugierig‘ und ‚neugierig-machend‘ zu denken.
Wiederkehr der Religion: Enttäuschte Hoffnung oder unentdeckte Herausforderung?
Stefan Altmeyer
1. Zwischen Hoffnungszeichen und alten Widersprüchen
Es ist gerade einmal gut sechs Jahre her, da sprach der damalige Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Lehmann, zur Eröffnung der Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischöfe von einem „Hoffnungszeichen“. Er bezog sich dabei auf eine wachsende Anzahl von Expertenstimmen, die er mit der These zitierte: „Religion kehrt wieder.“227 Für ihn verknüpften sich damit ermutigende Signale: Menschen scheinen auch oder gerade heute auf der Suche zu sein nach einem Mehr an Sinn, als ihnen die moderne Gesellschaft ohne Religion anbieten oder gar garantieren könne. Die Rahmenbedingungen für Religion und Kirche seien günstiger geworden. Eine noch deutlich optimistischere Sprache wählte ebenfalls im Jahr 2006 der Rat der Evangelischen Kirchen in Deutschland in seinem Impulspapier „Kirche der Freiheit“. Von einmaligen Chancen wird hier gesprochen, die „bewusst als ein besonderes Zeitfenster für neue kirchliche Initiativen“228 zu nutzen wären.
Es ist bezeichnend, dass solch positive Einschätzungen heute nur mehr selten öffentlich geäußert werden. Es scheinen die Kritiker Recht zu behalten, die schon damals vor allzu einseitig positiven Interpretationen warnten.229 Im deutenden Rückblick erweist sich das Jahr 2005 mit seinen religiösen Großereignissen als Schlüssel zum Verständnis. Das Sterben des alten und die Wahl des neuen (deutschen) Papstes sowie der Weltjugendtag in Köln erfahren in Deutschland eine ungeheure und für viele überraschende mediale Aufmerksamkeit. Sie verhelfen der These von der Wiederkehr der Religion zu einer breiten Öffentlichkeit und zu intuitiver Plausibilität. 2006 explodieren dann die Publikationen zur Wiederkehr der Religion – mal mit, mal ohne Fragezeichen. Eine wissenschaftlich umstrittene These wird zum Hoffnungsträger.230 Der radikale Umschwung kommt spätestens 2010, als die skandalösen Missbrauchsverbrechen öffentlich werden und der kirchliche Umgang damit in den Blick gerät. Auf einen Schlag wird deutlich, dass eine Wiederkehr der Religion im öffentlichen Diskurs sich stark auf institutionalisierte Religion bezieht und keineswegs immer ein religionsfreundliches oder gar kirchenaffines Gesicht trägt. Das Hoffnungszeichen einer Rückkehr der Religion verblasst, die alten Widersprüche Moderne vs. Religion, Kirche vs. Welt, säkular vs. religiös kehren mit Macht zurück.
Ist es damit müßig geworden, sich mit der ‚Wiederkehr der Religion‘ zu beschäftigen? Ich meine, das Gegenteil ist der Fall. Meine These ist: Wird die Rede von der Wiederkehr der Religion als einseitiges Hoffnungssignal entzaubert, legt dies erst die eigentliche Herausforderung frei. Zu unkritisch sah man auch in der Religionspädagogik vor allem Signale eines wiederkehrenden religiösen Interesses. Zu bereitwillig hoffte man, sie ließen sich einfach als Offenheit gegenüber dem Deutungsangebot christich-kirchlicher Religiosität lesen und produktiv mit diesem korrelieren. Dies kann zweifellos gelingen. Man sollte aber nicht vergessen: Wenn Religion als Thema des gesellschaftlichen Diskurses wiederkehrt – und zwar mit all ihren Licht- und Schattenseiten, ihren positiven wie negativen Auswirkungen, ihren kulturellen wie politischen Facetten – wenn dem so ist: Wie steht es eigentlich um die Fähigkeit unserer Schüler/-innen, an diesem Diskurs reflektiert und selbstbestimmt teilzunehmen? Das Ziel religiöser Bildung müsste lauten: nicht nur für die religiöse Dimension der Wirklichkeit sensibilisieren, sondern auch zur reflektierten Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs über Religion befähigen. Mit Rudolf Englert wäre von eine religiösen Orientierungsfähigkeit zu sprechen, die konsequent individuelle wie kontextuelle Aspekte miteinander verbindet.231
Diese These möchte ich im Folgenden begründen und auf ihre Konsequenzen befragen. Dazu werde ich zunächst den begründeten Gehalt der überstrapazierten Metapher von der Wiederkehr der Religion klären. Daraus ergibt sich zweitens ein veränderter Blick auf die Aufgaben religiöser Bildung, der schließlich drittens bislang kaum begangene Wege einfordert, auch die Praxis religiöser Bildung neu zu denken.
2. Wiederkehr der Religion: Dekonstruktion einer Metapher
Schon die Bemerkungen zu Beginn machen deutlich: Das Schlagwort ‚Wiederkehr der Religion‘ ist semantisch so offen, dass eine Vielzahl von Lesarten und Deutungen gleichzeitig möglich sind. Was soll eigentlich mit der Wiederkehr der Religion gemeint sein? Diese fehlende Eindeutigkeit muss allerdings nicht verwundern. Denn die Wiederkehr der Religion ist sprachlich betrachtet eine Metapher, ein vieldeutiges Bild. Wo von einer Wiederkehr die Rede ist, haben wir unweigerlich unterschiedliche Bilder im Kopf, die gegensätzliche Assoziationen hervorrufen. Es lohnt sich daher, dieses Bild ruhig als Bild genauer anzuschauen. Sofort lassen sich drei Bilddimensionen unterscheiden. Erstens: Wenn jemand oder etwas wiederkehrt, gibt es einen Ort, wo dies stattfindet. Zweitens: Eine Wiederkehr...