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Kapitel 2 – Motivation
Warum sollten wir uns mit diesem brisanten Thema beschäftigen und dafür Kraft, Aufmerksamkeit und Energie investieren?
Ich möchte Sie an dem teilhaben lassen, was mich bewegt hat, die große Not, die sich hinter religiösem Missbrauch verbirgt, öffentlich anzusprechen. Wichtig wurden mir insbesondere biblische Aussagen und Stellungnahmen zu dieser Thematik.
Was mich mit am stärksten dazu motiviert hat, mich intensiv mit dieser sehr zerstörerischen Realität innerhalb der Christenheit auseinanderzusetzen, ist die Haltung Jesu selbst, die ich im Neuen Testament (z.B. in Mt 23) gefunden habe. Jesus war bereit, zu einem Problem Stellung zu beziehen, dessen Thematisierung ihn zur damaligen Zeit alles kosten konnte – was dann letztlich ja auch geschah! Dies tat er im Gegensatz zu vielen Christen und Verantwortungsträgern heute. Warum existiert ein so großes Schweigen zum Phänomen des religiösen Missbrauchs innerhalb der Gemeinde Jesu? Mancher ist vielleicht verwirrt und kann das Problem nicht recht packen. Er traut vielleicht seiner eigenen Wahrnehmung nicht. Aber warum schweigen auch die, die das Phänomen sehr klar erkannt haben?
Einerseits gibt es da die große Angst, man könnte sich versündigen, wenn man Missstände dieser Art anspräche. Der Wunsch, andere Menschen nicht zu verurteilen, ist selbstverständlich sehr berechtigt, denn die Anweisung in Matthäus 7,1-2 kam aus dem Munde Jesu selbst. Doch es gibt einen Unterschied in der Verurteilung von Menschen, die wir vermeiden sollen, und dem Benennen von Unrecht, das im Rahmen der Liebe notwendig ist. Nämlich einem Unrecht, das anderen die von Jesus teuer erkaufte Freiheit nimmt und sie in großer Gefangenschaft hält.
Einen weiteren Grund für das Schweigen sehe ich schlichtweg darin, dass viele das »heiße Eisen nicht anfassen wollen«, weil sie fürchten, dass es sie vieles kosten könnte. Die unangemessene, oft übergroße Vorsicht, Unrecht in diesem Bereich klar zu benennen, hat manches Mal einfach den Hintergrund der Menschenfurcht. Außerdem müsste man selbst bereit sein, sein eigenes Handeln selbstkritisch unter die Lupe zu nehmen.
Stellung beziehen beinhaltet also, dass man mit Konsequenzen rechnen muss. Vielleicht mit der Konsequenz, dass man als derjenige, der Probleme anspricht, schließlich als das problem behandelt wird. Und das fühlt sich nicht gut an. Da widmet man sich doch lieber wohllautenden Erfolgen und Zielen, die ungefährlicher sind.
Jesus wagte es also, Stellung zu beziehen und Partei zu ergreifen. Es ist bemerkenswert, wie er mit den geistlichen Leitern seiner Zeit umging. Sie waren bekannt dafür, dass sie ihren Glauben sehr ernsthaft und gewissenhaft zu leben versuchten. Diese Tatsache war auch Jesus bekannt. Ihre Ernsthaftigkeit stellte für ihn jedoch kein Hindernis dar, ihr religiös missbräuchliches Handeln und ihre zweifelhafte Motivation anzuprangern.
Interessant ist, dass er sie nicht nur einfach klar, aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit ihrer Schuld konfrontiert. Nein, er tut dies öffentlich! Und sehr vehement und mit Worten, die im ersten Moment nicht nach Liebe aussehen – obwohl alles, was er tat, immer aus Liebe geschah. Seine Entschlossenheit und Unerschrockenheit, missbräuchlichem Handeln die Stirn zu bieten, sind unverkennbar.
Ich bitte Sie, an dieser Stelle das Buch kurz zur Seite zu legen und bewusst das 23. Kapitel des Matthäusevangeliums zu lesen. Mir ist es wichtig, dass Sie den genauen Wortlaut der Rede Jesu in Ihren Gedanken sehr präsent haben, wenn Sie nun weiterlesen. Danke.
David Seamands kommentiert eine solche Haltung der Unerschrockenheit Unrecht gegenüber mit den Worten:
»Ein Mensch, der niemals zornig wird, ist ein Mensch, dem die Begeisterung für das Gute fehlt. Wer das Falsche nicht hasst, wird auch die Gerechtigkeit nicht lieben können.«13
Jesus liebte die Menschen, die in der religiösen Knechtschaft gefangen waren. Sein Herz schlug für die Unterdrückten wie für die Unterdrücker. Doch er stellt sich klar auf die Seite der Unterdrückten und bietet ihnen Hilfe an. Er handelte damit nach der Aufforderung im Buch der Sprüche:
»Tue deinen Mund auf für die Stummen (für die, die nicht in der Lage sind, für sich selbst zu sprechen), für die Rechte aller, die verlassen und wehrlos sind.«
Sprüche 31,8 (Amplified Bible)
Über das Problem der Schuld des Machtmissbrauchs im geistlichen Amt hatte Jesus offensichtlich mehr zu sagen als über sämtliche anderen Übel seiner Zeit. Ken Blue macht dazu in seinem Buch eine bemerkenswerte Aussage:
»Geistlicher Missbrauch war das einzige Problem, das er wieder und wieder öffentlich anprangerte – eine Tatsache, die umso erstaunlicher ist, wenn wir bedenken, dass die Gesellschaft seiner Zeit von einer Unmenge anderer Probleme betroffen war.
Jesus hat nicht ein einziges Mal die Sklaverei angeprangert. Er schwieg zum Rassismus ebenso wie zum Klassenkampf, äußerte sich weder zum Staatsterrorismus noch zur römischen Besatzungsmacht oder zur korrupten Regierung. Er verliert kein Wort über Abtreibung, Kindermord, Homosexualität oder Ausbeutung von Frauen und Kindern. All diese Probleme gab es zur Zeit Jesu, aber es gibt keine Quellen, die belegen, dass er sich dazu unmittelbar äußert.
Anders die heutige Kirche: Sie hat sich zu all diesen Fragen geäußert. Merkwürdigerweise jedoch hat sie kaum etwas zum Thema des Missbrauchs im geistlichen Amt gesagt, eben jenem Thema, das Jesus offenbar am meisten am Herzen lag.«14
Jesu Umgang mit religiösem Missbrauch vor Augen zu haben, erscheint mir in der Auseinandersetzung mit dem Problem als sehr wichtig. Angstfrei nannte er Böses böse, ohne zu fürchten, sich der in vielen christlichen Kreisen gefürchteten Sünde des Richtens schuldig zu machen. Er wusste, dass diese klare, kompromisslose Benennung der Schuld für Täter und Opfer in einem möglichen Heilungsprozess eine unglaublich wichtige Rolle spielen würde (zumindest könnte).
In der Bibel finden wir viele Texte, in denen missbräuchliche Dynamiken thematisiert werden. Gott selbst bezieht Stellung durch das Wort der Propheten oder mancher neutestamentlicher Autoren. Meist handelt es sich um Schriftstellen, die im Rahmen der christlichen Verkündigung und des persönlichen Bibelstudiums jedoch oft zu kurz kommen, obgleich es nicht wenige von ihnen gibt.
Hier einige Beispiele:
Altes Testament: Jesaja 5,20; Jeremia 6,13-14; Hesekiel 22,24-29; Hesekiel 34.
Neues Testament: Matthäus 7,15-16.21-23; Matthäus 23,1-36; Matthäus 24,45-51; Lukas 11,43.44.46; Apostelgeschichte 20,29-35; Römer 16,17-18; 2. Korinther 11,20; Philipper 1,17; 1. Petrus 5,2-3; 2. Petrus 2,1-3; 3. Johannes 9.10; Offenbarung 2,2.
»Hütet euch vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen. Inwendig aber sind sie reißende Wölfe. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen (…) Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr! wird in das Reich der Himmel hineinkommen, sondern wer den Willen meines Vaters tut, der in den Himmeln ist. Viele werden an jenem Tage zu mir sagen: Herr, Herr! Haben wir nicht durch deinen Namen geweissagt und durch deinen Namen Dämonen ausgetrieben und durch deinen Namen viele Wunderwerke getan? Und dann werde ich ihnen bekennen: Ich habe euch niemals gekannt. Weicht von mir, ihr Übeltäter!« (Mt 7,15-16.21-23).
»Ich weiß, dass nach meinem Abschied grausame Wölfe zu euch hereinkommen werden, die die Herde nicht verschonen. Und aus eurer eigenen Mitte werden Männer aufstehen, die verkehrte Dinge reden, um die Jünger abzuziehen hinter sich her. Darum wacht und denkt daran, dass ich drei Jahre lang Nacht und Tag nicht aufgehört habe, einen jeden unter Tränen zu ermahnen! Und nun befehle ich euch Gott und dem Wort seiner Gnade, das die Kraft hat, aufzuerbauen und ein Erbe unter allen Geheiligten zu geben. Ich habe von niemandem Silber oder Gold oder Kleidung begehrt. Ihr selbst wisst, dass meinen Bedürfnissen und denen, die bei mir waren, diese Hände gedient haben. Ich habe euch in allem gezeigt, dass man so arbeitend sich der Schwachen annehmen und an die Worte des Herrn Jesus denken müsse, der selbst gesagt hat: Geben ist seliger als nehmen« (Apg 20,29ff).
Jesus und Paulus reden von Wölfen im Schafspelz. Und sie gehen davon aus, dass es solche in allen Zeitaltern unter dem Volk Gottes geben wird. Die Frage ist nun:
• Wie sehen Wölfe in Schafspelzen aus?
• Und woran erkennt man ihr wahres Wesen, ihre wahre Identität?
Menschen bzw. Christen, die niemals einem Wolf im Schafspelz begegnet sind, haben erfahrungsgemäß häufig wenig oder kein Verständnis dafür, dass man einem Wolf »auf den Leim« gehen kann. Sie hören die Geschichte Betroffener und schütteln entsetzt den Kopf – und das leider nicht selten mit einem Anflug von Arroganz: »Wie konnte das nur passieren? Das hättest du doch erkennen müssen! Deine geistliche Unterscheidung war wohl überhaupt nicht in Takt. Mir wäre das nicht passiert.«
Fakt ist, dass solche Menschen die Geschichte vom Wolf hören, nachdem er als solcher entlarvt wurde. Denn sonst würde man die Geschichte vom Wolf ja nicht erzählen!
Wölfe im Schafspelz sehen einfach wirklich aus wie Schafe.15 Sie reden (määähen) wie ein Schaf, bewegen und benehmen sich wie ein Schaf, lieben das, was Schafe...