Eine neue Welt betreten
Diesmal brauchen wir keinen weiten Gedankenausflug zu unternehmen. Die Welt, die wir nun erkunden, öffnet sich direkt vor uns – und unversehens sind wir mittendrin.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie wir als Familie in den Sommerferien in den Urlaub gefahren sind. Wir standen mit dem Wohnwagen ganz in der Nähe des Meeres. Wir, die Kinder, hatten viel Freude daran, über die Wellen zu springen oder in sie hineinzutauchen. Nur meine älteste Schwester tat etwas ganz anderes. Sie lag den ganzen Tag am Strand und las in ihrem Buch. Was um sie herum passierte, wer an ihr vorbeilief, unser Geschrei und Gelächter: All das schien sie gar nicht wahrzunehmen. Sie war in einer ganz anderen Welt. Manchmal machten wir uns einen Spaß und gossen kaltes Salzwasser über sie. Darüber ärgerte sie sich ziemlich – und das war es natürlich, was wir erreichen wollten. Wenn ich daran zurückdenke, erinnere ich mich daran, dass meine Schwester immer sehr überrascht reagierte, wenn wir das Wasser über sie schütteten. Sie brauchte einen Augenblick, um zu realisieren, was da mit ihr geschah. Es war, wie wenn sie erst einmal aus der anderen Welt auftauchen musste, um zurückzufinden in die Welt ihrer sie neckenden Geschwister.
In den Siebziger- und Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts gab es in Deutschland eine beliebte Kindersendung mit dem Namen »Lemmi und die Schmöker«. Diese Sendung spielte in der Kinderabteilung einer Bücherei. Man sah in dieser Bücherei junge Bibliothekarinnen, den Hausmeister und natürlich eine Menge Bücher – so wie wir Kinder das von Büchereien her kannten. Das Besondere war nun aber, dass plötzlich Figuren, die in den Büchern eine wichtige Rolle spielten, auftauchten und in ein Gespräch mit den Bibliothekarinnen oder dem Hausmeister traten. Damit nicht genug: Da gab es noch die magischen Tücher. Wenn der Hausmeister diese ausbreitete, sah man die Geschichte des Buches sich abspielen. Die Filmkamera zoomte dieses Geschehen näher, bis man plötzlich mittendrin in der Geschichte war.
Ich erinnere mich gerne an diese Sendung und bin der Meinung, dass sie uns auf kindgerechte Weise etwas Wichtiges vermittelt hat: Das Lesen eines Buches ist, wie wenn man eine andere Welt betritt. Und diese Welt ist genauso ein Teil unserer Wirklichkeit wie unsere Alltagswelt.
Man kann sich so intensiv in ein Buch hineinvertiefen, dass man das Geschehen, von dem es erzählt, unmittelbar erlebt: Man leidet mit, hat Angst, freut sich überschwänglich, hält die Spannung manchmal kaum aus, in die das Geschehen uns führt. Wir können sehen, hören, schmecken, fühlen und riechen, was erzählt wird, sind mittendrin im Geschehen. Und ärgern uns mächtig, wenn wir unversehens aus dieser Welt herausgerissen werden.
Ich denke, jeder von uns hat schon einmal diese Erfahrung gemacht: Dass uns die Welt eines Buches in den Bann zieht und wir das, was erzählt wird, hautnah miterleben.
Ein Buch lesen, das ähnelt ein wenig einem Theaterbesuch: Vor uns öffnet sich eine Bühne. Der Vorhang ist noch geschlossen. Die Spannung steigt. Irgendwann öffnet sich der Vorhang und gibt den Blick frei auf das Geschehen, das nun beginnt.
Ein kleiner Ausflug in die Welt der Bibel
Ich lade Sie ein, zusammen mit mir einer Aufführung beizuwohnen. Wir schauen einmal hinein in die biblische Welt. Viele Vorstellungen gibt es da, die wir buchen könnten. Für unsere erste Vorstellung schlage ich vor, ganz vorne in das Buch einzusteigen, mit dem Beginn. Stellen wir uns vor, wir sitzen wie in einem Theaterbesuch inmitten des Publikums. Wir schauen nach vorne: Die Aufführung beginnt.
Wir brauchen einen Augenblick, bis wir etwas erkennen können. Doch allmählich sehen wir etwas oder ahnen es vielmehr, denn es ist dunkel: Ein Meer ist es, das sich vor uns auftut. Wir hören ein gleichmäßiges, mächtiges Grollen, gewaltige Wellen brechen sich wieder und wieder. Endlos scheint sich dieses Meer auszubreiten.
Da – plötzlich wird es hell! Und mit einem Mal sehen wir es, das wogende Wasser. Jetzt, bei Licht betrachtet, verliert es etwas von der Bedrohlichkeit, die wir gerade noch gespürt haben. Wir sehen, wie die Wellenkämme glitzern und sprühen. Ein buntes Farbenspiel in der weiten, großen Unendlichkeit. Allmählich verliert das Licht seine Kraft: Bald ist wieder alles ins Dunkel gehüllt. Nur noch das gleichmäßige Rollen der Wellen ist zu vernehmen. Die Nacht ist angebrochen.
Wir sinnen noch über das nach, was wir gesehen haben, da wird es wieder taghell:
Wir schauen über uns und sehen, wie das Firmament über uns entsteht: Ein riesiges Gewölbe baut sich über uns auf. Als wir nach unten schauen, sehen wir, wie aus dem Wasser trockenes Land aufsteigt. Riesige Kontinente entstehen, wie Inseln im weiten Meer.
Und so geht es weiter, immer im Rhythmus von Tag und Nacht: Das Land wird allmählich grün: Es ist bald überzogen mit einer Vielzahl von Pflanzen und Bäumen.
Sonne, Mond und Sterne werden am Himmelgewölbe aufgehängt. Vögel fliegen durch die Luft, Meerestiere bevölkern die Ozeane, Flüsse und Seen. Auf der Erde wimmelt es bald von allerlei Tieren. Und schließlich entstehen die Menschen. Am siebten Tag legt sich über alles, was entstanden ist, eine große Ruhe. Wir genießen diese Ruhe und blicken noch einmal auf die Welt, die vor uns liegt. In Etappen haben wir ihre Entstehung miterlebt. Jetzt ist sie schon nahezu so, wie wir sie von unserem Alltag her kennen.
Da fällt der Vorhang: Die Vorstellung ist zu Ende.
Ein Buch zu lesen, das ähnelt ein wenig einem Theaterbesuch, habe ich gesagt. Eine Bühne öffnet sich vor uns, auf der sich ein Geschehen abspielt. Diese Bühne entsteht durch unsere Fantasie. Vordergründig betrachtet besteht ein Buch nur aus schwarzen Zeichen auf einer Vielzahl von Blättern. Ist uns der Sinn dieser Zeichen komplett unbekannt, kann sich keine innere Bühne aufbauen.
In der Regel wird es aber so sein, dass wir mit Wörtern etwas verbinden, etwas assoziieren. Bilder tauchen auf, wenn wir Worte lesen oder hören. Diese Bilder sind nicht eindimensional: Unterschiedliche Erlebnisse, Gefühle und Fantasien werden wachgerufen.
Was ein Buch in uns auslöst
Wenn wir ein Buch lesen, setzen uns die ersten Worte auf eine Spur. Die weiteren Worte lassen das Bild, das in uns entsteht, deutlicher werden, verändern dieses oder leiten über in ein nächstes Bild, das in uns wachgerufen wird.
Manchmal genügen ein paar Worte als Pinselstriche, um eine Szenerie in uns entstehen zu lassen. Nehmen wir den Roman »Tess von den d'Urbervilles« von Thomas Hardy, einem englischen Romancier des 19. Jahrhunderts. So beginnt er: »Eines Abends …«
Schließen Sie bitte für einen Augenblick einmal die Augen. Welche Assoziationen kommen Ihnen bei diesen beiden Worten? Welche Bilder entstehen in Ihnen?
Wenn Sie so weit sind, dann überlegen Sie einmal:
- Spielt sich Ihr Abend in einem Raum ab oder im Freien?
- Wie viel Tageslicht kann man noch sehen?
- Welche Gegenstände bzw. Personen haben Sie vor Ihrem inneren Auge gesehen?
Die Bilder, die die Worte »Eines Abends« bei Ihnen ausgelöst haben, sind Ihre ganz persönlichen Bilder. Sie haben mit Ihnen zu tun, Ihren Erinnerungen und Fantasien. Und vielleicht haben Sie auch gemerkt: Manches von dem, was Ihnen an Assoziationen gekommen ist, ist in den Worten »Eines Abends« nicht mitgenannt. Sie haben diese Leerstelle mit Ihren Assoziationen aufgefüllt.
Wenn wir den angefangenen Satz weiterlesen, verändert sich einiges. So geht der Satz weiter: »Eines Abends in den letzten Tagen des Mai wanderte ein Mann mittleren Alters heimwärts.«
Wenn wir diesen Satz an uns vorbeiziehen lassen, wird das in uns entstandene Bild genauer. Möglicherweise müssen wir unseren ersten Eindruck korrigieren, vielleicht war dieser aber so vage, dass wir die genauere Beschreibung in das schon entstandene Bild eintragen können:
Wir sehen nun einen Mann wandern. Wie ist der Weg beschaffen, den er geht? Oder läuft er gar übers freie Feld? Wir wissen es bisher nicht. Wie groß der Mann ist, wie er aussieht: All das ist uns unbekannt. Wir wissen nur, dass er mittleren Alters ist. Auch die Jahreszeit wird genannt. Nicht aber, ob es eher kalt oder warm ist, ob der Abend regnerisch ist oder nicht. Und doch, auch wenn einige Leerstellen bleiben: Wir sehen ein Bild vor uns. Weil wir, wie schon erwähnt, die Leerstellen mit unseren Assoziationen und Fantasien auffüllen. Selbst die noch so exakte und ausführliche Beschreibung enthält Leerstellen, die wir mit unserer Fantasie komplettieren.
Worte erzeugen Bildwelten, Wortfolgen erschaffen ganze Wirklichkeitsräume. Und wir, die Leserinnen und Leser, sind – Sie wissen es aus Kapitel 1 – deren Konstrukteure. Lesen ist ein aktiver Prozess, der fortlaufend Bilder und Assoziationen entstehen lässt.
Nicht nur, dass jeder von uns beim Lesen eines Buches eine eigene, persönliche Welt erzeugt. Wenn wir Bücher, die wir als Jugendliche gelesen haben, später nochmals lesen, wird die Welt, die wir erzeugen, eine andere sein als damals. Ich habe vor Kurzem das Buch »Narziss und Goldmund« von Hermann Hesse wieder einmal gelesen. Als Jugendlicher habe ich dieses Buch regelrecht verschlungen. Wie erstaunt war ich, dass ich von dem Zauber, den dieses Buch für mich hatte, kaum mehr etwas wiederfand. Was bei mir intensivere Gefühle erzeugte, waren einzelne Fetzen von Erinnerungen an die damalige Zeit, die beim Lesen in mir aufstiegen. Es war nicht mehr das...