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E-Book

Reminiszenzgruppen mit Hochaltrigen

Anthropologische Grundlagen - salutogene Potenziale

AutorStephan M. Abt
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl212 Seiten
ISBN9783170294691
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis25,99 EUR
Innovative Altenheime bemühen sich um Gedächtnistraining und Biografiearbeit - dahinter steht das Anliegen der Würdigung gelebten Lebens. Wie diese Arbeit im Detail gestaltet wird, beeinflussen nicht nur biologisch-medizinische Vorannahmen etwa über das Gedächtnis, sondern auch das jeweilige Verständnis von Gesundheit, Ressourcen und von den Sinninhalten hochaltrigen Lebens. Abt zeigt auf: Auch hochaltrige Menschen mit eingeschränkten Fähigkeiten zur Selbstreflexion können in Reminiszenzgruppen - nicht zuletzt mit Hilfe von Exogrammen und der Dynamik der Gruppensituation - in der Aktivierung des autobiografischen Erinnerns unterstützt werden, sodass salutogene und resiliente Potentiale zutage treten.

Dr. Stephan M. Abt ist Theologe, Pädagoge und Krankenpfleger; er leitet das Sigmund-Faber-Heim der Diakonie Neuendettelsau.

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Leseprobe

2. Theoretischer Teil: Stand der Forschung


In diesem Kapitel werden zunächst die Literaturrecherche sowie die entscheidenden Publikationen beschrieben. Es werden anschließend die verschiedenen Konzepte, die zur Beleuchtung des Forschungsgegenstandes herangezogen werden, vorgestellt, notwendige Begriffsklärungen und Definitionen durchgeführt sowie der jeweilige wissenschaftliche Forschungsstand im Hinblick auf die Fragestellung dieser Dissertation aufgezeigt.

2.1 Überblick über den Stand der wissenschaftlichen Diskussion


Die systematische Literaturrecherche wurde in verschiedenen Medien durchgeführt, u. a. auch in den fachspezifischen Datenbanken und Suchmaschinen PubMed, PsycINFO, PSYNDEX, GeroLit, CareLit® und CINAHL. Als Schlüsselwörter bei der Literatursuche wurden verwendet:

  • Erinnerungsarbeit
  • Erinnerungspflege
  • Biografiearbeit
  • Reminiszenzgruppe

Es kamen auch Kombinationen mit den verschiedenen Konzepten zur Anwendung:

  • Selbstreflexion
  • Autobiografisches Gedächtnis
  • Reminiszenz
  • Salutogenese
  • Resilienz

Zuletzt wurde nach Kombinationen gesucht, die die Teilnehmer einer stationären Altenhilfeeinrichtung und deren Befindlichkeit berücksichtigt:

  • Hochaltrigkeit
  • Demenz

Es wurde deutlich, dass es sowohl zu den verschiedenen Interventionsformen als auch zu den Konzepten und Zustandsbeschreibungen je für sich unzählige Beiträge und Artikel gibt, jedoch keinen einzigen zur Fragestellung dieser Dissertation unter dem Themenkomplex ‚Reminiszenzgruppe, Salutogenese und Hochaltrigkeit‘.

Die Veröffentlichungen, die der Fragestellung dieser Dissertation am nächsten kommen, waren:

  • Menschen mit Demenz erreichen. Vom Wert der Erinnerungen bei der Kommunikation mit Menschen mit Demenz. Workshop des Kuratoriums Deutsche Altershilfe9. Bei diesem Report wird im Wesentlichen das Remembering Yesterday Caring Today-Modell (RYCT) vorgestellt, das dann sieben Jahre später auch im Deutschen10 veröffentlicht wurde (s. hier weiter unten).
  • Eine Expertengruppe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend11 empfahl, die Erinnerungspflege bei Menschen mit Demenz und herausforderndem Verhalten sowohl als gezielte Aktivierung als auch als Bestandteil der Interaktion in die Betreuung zu integrieren. Der Grundtenor dieser Empfehlung ist, dass das Erinnern lebensgeschichtlicher Ereignisse und gelebter Beziehungen die Identität und das soziale Zugehörigkeitsgefühl stärkt. „Im Verlauf einer Demenzerkrankung erhält die soziale Umwelt zunehmend die Aufgabe, Situationen zu gestalten, die angenehme Erinnerungen ermöglichen und fördern. Menschen mit Demenz benötigen diese ‚Erinnerungshilfen‘, um sich ihrer Identität zu vergewissern, ihr Selbstbild zu bewahren sowie Bindung und Zugehörigkeit zu erleben.“12 Im November 2009 erschien eine Grundsatzstellungnahme des Medizinischen Dienstes (MDS) des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V.13 zur Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz in stationären Einrichtungen. Der Grundsatzstellungnahme liegen einschlägige deutsch- und englischsprachige Publikationen zu Grunde. Ein Abschnitt aus dieser Grundsatzstellungnahme des MDS ist in Anhang 1.
  • Ein aktueller Review von Woods et al.14 zeigt, dass bei insgesamt fünf Interventionen zur Reminiszenztherapie für vier Interventionen gesichterte bzw. ausreichende Daten vorliegen. Die Ergebnisse waren statistisch bedeutsam für die Bereiche Kognition, Stimmung und allgemeine Verhaltensfunktionen15. Es wurde die Wirksamkeit im Bereich Kognition nachwiesen mit dem Ergebnis einer Verbesserung der Kognition im Testgruppen-Kontrollgruppenvergleich. In dem Review von Woods wird nicht festgehalten, womit die Teilnehmenden sich inhaltlich auseinandergesetzt haben. Dieser mangelnde inhaltliche Aufweis lässt auch nicht erkennen, ob nicht wichtige inhaltliche Prozesse stattgefunden haben und ‚Schätze‘ gehoben werden konnten, die es den Teilnehmenden erleichtern, sich in ihrer Identität zu erleben.
  • In einem weiteren Bericht von Rieckmann et al.16 werden zwei Reminiszenzgruppeninterventionen vorgestellt:
    • Politis et al.17 untersuchten die Effektivität eines standardisierten Reminiszenzprogramms hinsichtlich verhaltensbezogener Variablen und Lebensqualität18. Die Interventionsgruppe erhält ein standardisiertes Programm aus verschiedenen Themenblöcken (z. B. Geografie, Lieblingsessen, Tiere auf dem Bauernhof, Gemüse und Musikinstrumente) im Umfang von 30 Minuten, dreimal wöchentlich über vier Wochen.
    • Lai et al.19 untersuchten die Effektivität eines Reminiszenzprogramms hinsichtlich Sozialverhalten und Lebensqualität. Jeder Proband nahm während sechs Wochen wöchentlich an einer Sitzung von 30 Minuten teil. Die Ergebnisse zeigten keine signifikanten Unterschiede zwischen Interventions- und beiden Kontrollgruppen.

Von den weiteren Interventionsmodellen, die beschrieben sind, sind die folgenden beachtenswert:

  • Bei van Puyenbrock20 werden sieben Themen während der insgesamt zehn Sitzungen angesprochen, nämlich: Wer bin ich; Familie; mein Haus und mein Zimmer; Fernsehen und Fernsehgewohnheiten, Haushalt; Spiele und Spielzeug; Schulzeit; Nahrung; Kirche/Religion; Reisen/Urlaub; Musik/Parties; Video/mail (Post)
  • Das Remembering Yesterday Caring Today-Modell (RYCT) von Schweitzer und Bruce21 weiß sich dem personenzentrierten Ansatz von Kitwood als Beitrag zum eigenen Wohlbefinden verpflichtet. Bei Schweitzer und Bruce22 lauten die Themen bei insgesamt zwölf Treffen: Kindheit und Familienleben; Schulzeit; Eintritt ins Berufsleben und Arbeitswelt; Ausgehen und Freizeitspaß; Hochzeit feiern; Wohnung-Garten-Tiere; die nachfolgende Generation; Lebensmittel-kochen-backen; Ferien und Reisen. In der deutschen Veröffentlichung dieses Modells ist ein eigener Abschnitt dem Evidenznachweis von Reminiszenztherapie gewidmet. „Die Autorinnen warnen davor, jetzt schon strenge quantitative Studien durchzuführen“23 und plädieren ausdrücklich dafür, Zeit für die Durchführung von Reminiszenzgruppen einzuräumen, sie auszuprobieren und zu verfeinern, „bevor kontrollierte Studien durchgeführt werden“24
  • Ein weiteres Modell trägt den Titel: „Personzentrierte Gruppenarbeit mit dementiell erkrankten Menschen zur Unterstützung des Selbstwahrnehmungs- und Bewältigungsprozesses“25. Eine Gruppe ausschließlich männlicher Teilnehmer zwischen 60-74 Jahren trifft sich wöchentlich, um Ausflüge zu planen, durchzuführen und nachzubearbeiten. Die Gruppe begann mit vier Teilnehmern und wuchs inzwischen auf neun Mitglieder an; am Anfang gab es drei, später vier Betreuer. Die Gruppenerfahrung erbrachte im Wesentlichen ein größeres Verständnis für sich selbst und füreinander. Themen waren hier nicht vorgegeben, konnten sich jedoch ergeben
  • Zuletzt erschien eine Publikation, die Biografiearbeit sowohl in den Zusammenhang mit Ressourcenorientierung stellt als auch die Frage aufwirft, inwiefern dies zur Resilienzbildung beiträgt26. In dem Beitrag zur Biografiearbeit mit dementiell erkrankten Menschen wird geschildert, inwiefern „Musik als Schlüssel“ in der Kommunikation mit dementiell erkrankten Menschen wirken kann27

Obwohl es eine Anzahl vielversprechender Hinweise gibt, betonen Woods et al.28 in dem genannten Überblick angesichts der begrenzten Zahl und Qualität der Studien, des Wechsels der Arten von Reminiszenzarbeit und des Wechsels der Ergebnisse unter den Studien, den dringenden Bedarf an noch weiteren Untersuchungen und vor allem Untersuchungen mit besserem Design, um robustere Ergebnisse und Schlussfolgerungen zu erhalten.

2.2 Die Bedeutung der Selbstreflexion


Altern wird immer mehr als Prozessgeschehen und als eigene Lebensphase erkannt und beschrieben. Die Einheit von Leib, Seele und Geist konstituiert die Ganzheit des Menschen. Auf dem Wege der Personwerdung und -reifung kommt dem Erinnerungs- und Reflexionsvermögen des Menschen eine wichtige Bedeutung zu. Die Selbstreflexion29 befähigt den Menschen zur Integration des Gewesenen, zur Repräsentation des Gelebten ins Heute, sowie zur Modifikation des so Vorgestellten, welches dann zur Basis künftiger Lebensperspektive werden kann. Augst30 untersuchte ausführlich die Bedeutung der Selbstreflexion im höheren Lebensalter sowie Inhalte und Strukturen von Lebensbetrachtungen. Bei der Bedeutung von Lebensbetrachtungen spricht Augst gar von einem „menschlichen Grundbedürfnis“ und von einem „zentralen Auftrag der Interventionsgerontologie“31. Bei Augst bilden Daten der SIMA-Studie aus dem Jahre 1991 die Grundlage; dabei waren Fragebogen mit Daten zum Lebensrückblick, zur Lebenszufriedenheit und Zukunftsorientierung in die Studie eingebettet32. Augst hatte die interviewten Menschen allerdings nie persönlich...

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