Einleitung
Richard Strauss stellt in der Musik der Moderne eine einzigartige Herausforderung dar. Seine Neigung, das Banale mit dem Erhabenen zu vermischen, das Außerordentliche durch das Alltägliche zu durchbrechen, passt nicht in unsere Klischees von einem Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts. Tatsächlich kommt bei Strauss eine grundsätzliche Dichotomie zum Ausdruck, die in dem vorliegenden Buch über den Menschen Strauss und seine Musik immer wieder im Zentrum stehen wird. Seine Welt bestand aus zwei unterschiedlichen, sich aber häufig überschneidenden Sphären, seinem Berufsleben und seinem Familienleben. Jenseits dieser beiden Sphären interessierte sich Strauss für wenig anderes: Er hatte keine Zeit für Wagnersche Affären, keinen Raum für Bruckners religiöse Frömmigkeit, keine Geduld für die Verunsicherung, die Mahler verfolgte, kein Verständnis für die Eifersucht, die Schönberg plagte. Während andere Komponisten ihren kreativen Funken aus dem Kampf oder dem tragischen Leiden schlugen, gönnte sich Strauss nichts dergleichen. Er betrachtete Disziplin, Ordnung und Stabilität nicht als Hindernisse, sondern eher als Katalysatoren für seine Kreativität. Über Wagner, dessen Musik er fast sein ganzes Leben lang bewunderte, sagte er einmal, dass der Kopf, der Tristan und Isolde komponiert habe, gewiss so kühl wie Marmor war. Diese Betonung der Technik gegenüber dem Gefühl sagt uns weit mehr über Strauss als über Wagner.
Hans von Bülow nannte den jungen Strauss einmal Richard III. (der Erste war Wagner, und es konnte keinen Zweiten geben); aber die hartnäckige Fokussierung auf die Wagner-Nachfolge hat den Blick für die Tatsache verstellt, dass das Vorbild für den Menschen Strauss viel eher Johannes Brahms war, den er in einer entscheidenden Phase seines Lebens kennenlernte. Brahms, der zur gleichen Zeit berühmt wurde, als der Liberalismus in Wien an Einfluss gewann, gab sich gerne bürgerlich. Seine Wohnung war sauber und ordentlich, seine Bücher, Manuskripte und gedruckten Partituren waren mit bemerkenswerter Akkuratesse geordnet. Brahms war in den 1830er Jahren geboren, und so stand seine Rolle als Bürger-Künstler im Einklang mit seiner Zeit; aber für einen schöpferischen Menschen der Generation von Strauss barg die Dualität von Künstler und Bürger immer mehr Konflikte. Eben hier unterschied sich Strauss von seinen Zeitgenossen, denn ganz im Gegenteil konnte er einen solchen Konflikt nicht erkennen und öffnete sich bereitwillig einer neuen bürgerlichen Generation. Die Kulturindustrie, die zu Brahms’ Zeit noch in ihren Anfängen steckte, blühte zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und keiner verstand das besser als Strauss, der erfolgreichste Komponist seiner Zeit.
Auf der einen Seite ist Strauss bis heute einer der am häufigsten aufgeführten und am meisten aufgezeichneten Komponisten des 20. Jahrhunderts und scheint daher leicht zugänglich zu sein. Doch auf der anderen Seite begegnen wir unweigerlich einem zurückgezogenen, widersprüchlichen Menschen, der sich unserem Verständnis scheinbar entzieht. War Strauss tief in innere Gegensätze verstrickt, oder trug er lediglich verschiedene Masken? Wie soll man es begreifen, dass er in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft Werke geschaffen hat wie die Symphonia domestica mit ihrer biederen Darstellung des Familienlebens und Salome, eine Oper, die orientalische Exotik mit sexueller Maßlosigkeit verbindet? Wie bringen wir den begeisterten bayerischen Kartenspieler mit dem Homme de Lettres zur Deckung, der ganz selbstverständlich Goethe zitierte? Was sollen wir von einem Komponisten halten, der in seinem Krämerspiegel warnte, die Kunst sei anfällig für unverhohlene Geschäftsinteressen, der jedoch selber in dem New Yorker Kaufhaus Wanamaker Konzerte dirigierte? Und wie soll man einen Künstler verstehen, der behauptete, Wagner zu folgen, ihn jedoch in der Praxis offenbar zurückwies?
Der meisterhafte Skatspieler Strauss ließ sich weder am Spieltisch noch im Leben in die Karten schauen. In der Öffentlichkeit gab er sich distanziert und gleichgültig wie ein Phlegmatiker, in seiner Musik hingegen extrovertiert und sanguinisch. Der Komponist, der in seinen Werken scheinbar so viel von sich preisgibt, verabscheute jede Selbstentblößung jenseits des Reichs der Musik. Strauss hegte eine Abneigung gegen die neoromantische Stilisierung des Künstlers, der sich vom weltlichen Treiben abgrenzt, und pflegte das Bild eines Komponisten, der sein Komponieren als alltägliche Arbeit auffasst, als ein Mittel, um lediglich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Aber so aufrichtig dieses Image in gewisser Hinsicht gewesen sein mag, es war gleichwohl eine Pose, eine Maske, die für andere so real war, dass Strauss hinter ihr verschwinden konnte, und so fand der Künstler die erforderliche Abgeschiedenheit für seine kreative Arbeit. Kurz gesagt: Niemand kannte das Paradoxon von Mensch und Künstler, das Paradoxon des Bürger-Künstlers, besser als Strauss selbst. Schließlich dirigierte er, wie Erinnerungen und filmische Aufnahmen belegen, die bewegendsten Passagen seiner Musik gerne mit minimalen Gesten und einer Mimik, die keinerlei Gefühlsregung verriet.
Als Künstler der Moderne erkannte Strauss, dass eine einheitliche Ausdrucksweise in der zeitgenössischen Kunst nicht aufrechterhalten werden konnte. Vom Don Juan bis zum Rosenkavalier und darüber hinaus schuf Strauss mit Lust Augenblicke der Erhabenheit, nur um sie sogleich wieder zu unterwandern – bisweilen auf höchst verstörende Art und Weise. Anders als Mahler oder Schönberg, die beide einer romantischen Auffassung von Musik als einer transzendierenden, erlösenden Kraft anhingen, setzte sich Strauss offensiv mit dem Problem der Moderne auseinander und kam zu seinen eigenen, eigenwilligen Schlussfolgerungen. So instrumentalisierte er paradoxerweise die musikalische Sprache Wagners, um die metaphysische Philosophie hinter eben dieser Sprache zu kritisieren. Seine Hinwendung zu Nietzsche erfolgte aus dem elementaren Wunsch, Schopenhauers Metaphysik zu entlarven, insbesondere die Verneinung des Willens (dieses ursprünglichen, unerkennbaren Lebenstriebes) durch die Musik.[1] Alles Leben bedeutet nach Schopenhauer Leiden, und jener ursprüngliche metaphysische Trieb kann entweder durch ästhetische Kontemplation zur Ruhe kommen oder durch eine asketische, Parsifal-artige Heiligkeit gänzlich negiert werden. Strauss war weder an Heiligkeit noch an Erlösung durch Musik interessiert. Er hielt sich vielmehr an Nietzsche, der Schopenhauers fatalistischen «Willen zum Leben» in die Feier des «Willens zur Macht» verwandelte. Mit einem Wort: Nietzsche suchte genau das Leben zu bejahen, das Schopenhauer negieren wollte, und er lieferte Strauss in den 1890er Jahren ein probates Rüstzeug für seinen lebenslangen fröhlichen Agnostizismus.
In einem Aufsatz, den er kurz vor seinem Tod schrieb, klagte Strauss (in unverkennbar nietzscheanischer Begrifflichkeit), dass dieser Aspekt der Moderne – die Erkenntnis einer unüberbrückbaren Kluft zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv – in seinen Werken aus den 1890er Jahren weitgehend unbemerkt geblieben sei.[2] In diesem Aufsatz verweist Strauss auf eine solche Dichotomie im III. Akt von Guntram, doch kann man sie ebenso gut in Tondichtungen wie Also sprach Zarathustra finden. Tatsächlich schrieb Strauss in einer Skizze zur Anfangssequenz dieses symphonischen Werkes: «Die Sonne geht auf. Das Individuum tritt in die Welt oder die Welt ins Individuum.»[3] In seinem späten Aufsatz ist auch die Enttäuschung darüber erkennbar, dass sich für eine jüngere Generation von Komponisten eine andere Auffassung von Moderne herauskristallisiert hatte, die vor allem den technischen Fortschritt hochschätzte und die Entwicklung des musikalischen Stils als zwangsläufigen linearen Prozess auf der Achse Tonalität – Atonalität betrachtete. Diese Schönberg’sche Vorstellung von einer organischen, einheitlichen Stilentwicklung mit ihren offensichtlichen Wurzeln in der deutschen Romantik war Strauss fremd. Er erkannte im modernen Leben viel eher eine tiefgreifende Zerrissenheit und konnte keinen Grund sehen, warum die Musik davon ausgenommen sein sollte. Strauss ging mit dem musikalischen Stil auf eine ahistorische, oft kritische Art und Weise um, die durchaus Tendenzen des späten 20. Jahrhunderts vorwegnahm. Es scheint sich bei ihm bereits anzudeuten, was Fredric Jameson den postmodernen «Zusammenbruch der (…) Ideologie des Stils» genannt hat.[4] Für Schönberg und seine modernistischen Anhänger war das Komponieren zeitgenössischer Musik im Modus der Tonalität, den man für abgenutzt und todgeweiht hielt, implizit gleichbedeutend mit ästhetischer Unmoral. Diese moralisierende Ästhetik hielt sich bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg und konnte mit bemerkenswerter Inkonsistenz in einem politischen Diskurs auftauchen und wieder verschwinden: Komponisten wie Strawinsky oder Webern, die sich großer ästhetisch-moralischer Wertschätzung erfreuten, vergab man demnach diverse politische Sünden, oder man stellte ihre Ansichten vollkommen falsch dar.
Musikhistoriker suchen oft...