Einleitung – Wie ›wahr‹ ist eine Biografie?
Im Juni 1866 sah Wagner sich in eine jener unentrinnbaren Katastrophen verstrickt, die ihm in seinem Leben nicht gerade selten widerfuhren. Er lief Gefahr, die einzige Frau zu verlieren, die seinem Leben einen Zusammenhang und eine Richtung geben konnte. Die vorausgegangenen Jahre des Irrens zwischen Zürich, Paris und Wien, des Flatterns zwischen dieser und jener Frau, hatten gezeigt, dass ihm, dem großen Wagner, eine wirkliche Sinngebung seines Lebens allein nicht gelingen konnte. Seit der 1862 endgültig gewordenen Trennung von Minna, seiner ersten Ehefrau, hatte er sich der Advokatentochter Mathilde Maier, der ›Hausdame‹ Maria Völkl und der Schauspielerin Friederike Meyer genähert – Erstere hatte den ›Kompositionsmotor‹ für die Meistersinger wenigstens eine Zeit lang, die beiden anderen jedoch überhaupt nicht in Gang zu halten vermocht. Nur mit Cosima, der Tochter Franz Liszts, die er erstmals 1853, häufiger aber erst seit 1862 traf, eröffneten sich neue Perspektiven. Bereits im Spätsommer 1862 hatte »der Glaube an ihre Zugehörigkeit« zu ihm die größte »Sicherheit« geboten (ML, S. 709), und am 28. November 1863 war es während einer Kutschfahrt durch Berlin zu einem Schwur gekommen, den die beiden alljährlich erneuern sollten: »Wir blickten uns stumm in die Augen, und ein heftiges Verlangen nach eingestandener Wahrheit übermannte uns«, heißt es wiederum in Mein Leben (S. 745), Wagners Autobiografie.
Es ging um nicht mehr und nicht weniger als um Wahrheit, doch ließ sich diese mit den Lebenswelten von keinem der beiden in Einklang bringen: Cosima war verheiratet mit Hans von Bülow, Lieblingsschüler ihres Vaters und neuer Münchner Hofkapellmeister,1 und sie war Mutter zweier Kinder. Wagner reiste damals mehr oder weniger heimatlos umher, unrettbar überschuldet und vollkommen unfähig, ein geordnetes Leben zu führen. Trotzdem fielen in der Berliner Kutsche entscheidende Worte: »Unter Tränen und Schluchzen besiegelten wir das Bekenntnis, uns einzig gegenseitig anzugehören« (ML, S. 746).
Im Mai 1864 fiel ein Lichtstrahl in Wagners Leben: Der achtzehnjährige König Ludwig II. von Bayern rettete den vor dem Wiener Schuldgefängnis flüchtenden Wagner; in München fand der Komponist nicht nur ein Heim, sondern auch enorm viel königliches Geld, mit dem er sämtliche Verbindlichkeiten zu regeln vermochte, und er fand ein königliches Hoftheater, an dem Tristan und Isolde, das bis dahin radikalste Werk der Musikgeschichte, am 10. Juni 1865 uraufgeführt werden konnte. Doch dies war nur durch einen einzigen Dirigenten zu bewerkstelligen, einen, der weit über allen Kapellmeistern seiner Zeit stand: Hans von Bülow, Cosimas Ehemann. Doch wie sollte man dem streng katholischen König beibringen, dass die ›Rechnung‹ für Tristan und dessen Folgeprojekte sowie die damit einhergehende Katapultierung seines Hoftheaters in die Weltrangliste nur durch gesellschaftlichen Skandal und Ehebruch zu begleichen war? Bülow, der Eingeweihte, der das Bitterste seines Lebens, das Zerbrechen seiner Ehe, nur aus künstlerischem Pflichtgefühl akzeptierte, wurde zum Verschworenen eines Teufelstrios; darin inszenierten seine Frau und sein angebeteter Freund Wagner eine Täuschungskomödie, bei der die Regisseure Richard und Cosima mit der größten Kaltblütigkeit ans Werk gingen: Das entstehende öffentliche Gerede musste mit einer königlichen Order zum Verstummen gebracht werden!
Nachdem sich ein Redakteur des Münchner Volksboten namens Zander am 31. Mai 1866 über Cosima, die »Brieftaube«, und über »ihre[n] Freund (oder wen?)«, Wagner, lustig gemacht hatte, flehte Cosima den König am 7. Juni 1866 brieflich »auf den Knien« an, ihre eheliche Treue zu Hans von Bülow in einem Dokument zu bestätigen. Obwohl sie bereits Wagners erste Tochter, Isolde, im Jahr zuvor, am 10. April 1865, zur Welt gebracht hatte, behauptete sie, Wagner sei nur ihr »Freund« und ihre Kinder hätten ein Recht auf einen »fleckenlosen Namen«.2 Sie fügte einen (von Wagner stammenden) Briefentwurf bei, der sodann in Form eines königlichen Handschreibens vom 11. Juni 1866 an Hans von Bülow ging und von diesem in mehreren Zeitungen veröffentlicht wurde.3 Die verblüffte Öffentlichkeit erfuhr somit, wie der König über die Affäre dachte:
»Da Mir Ihr uneigennützigstes, ehrenwertestes Verhalten, ebenso wie dem musikalischen Publikum Münchens Ihre unvergleichlichen künstlerischen Leistungen, bekannt geworden; – da Ich ferner die genaueste Kenntnis des edlen und hochherzigen Charakters Ihrer geehrten Gemahlin, welche dem Freund ihres Vaters, dem Vorbilde ihres Gatten mit teilnahmsvoller Sorge tröstend zur Seite stand, Mir verschaffen konnte, so bleibt Mir das Unerklärliche jener verbrecherischen öffentlichen Verunglimpfungen zu erforschen übrig, um, zur klaren Einsicht des schmachvollen Treibens gelangt, mit schonungslosester Strenge gegen die Übeltäter Gerechtigkeit üben zu lassen.«4
Der verdienstvolle Biograf Martin Gregor-Dellin kommentierte die Situation drastisch: »Der König hatte einen öffentlichen Falscheid geleistet. Der Redakteur Zander musste von einem Münchner Gericht zu einer Geldstrafe verurteilt werden.«5 Die private ›Wahrheit‹ des Richard Wagner und der Cosima von Bülow, geb. Liszt, war zu einer himmelschreienden öffentlichen ›Unwahrheit‹ geworden, die auch noch zu einem juristischen Fehlurteil zu führen hatte – eine monströse Situation.
Abb. 2. Richard Wagners Erard-Flügel in Tribschen.
Der König, der erst im Oktober 1868 die Wahrheit über Cosima und Richard erfahren sollte, war vorerst beruhigt – und ebenso das Publikum, so schien es. In höchster Gefahr allerdings war Cosimas und Wagners Verhältnis zu Franz Liszt, das in eiszeitliche Temperaturen abstürzte; ein Modus Vivendi mit dieser hochgradig öffentlichen Person, auch mit diesem tiefgläubigen Katholiken, musste gefunden werden, und das war durch Täuschung nicht möglich.
Im Oktober 1867 arbeitet Wagner am letzten Akt seiner Meistersinger von Nürnberg. Seit eineinhalb Jahren wohnt er in einem dreistöckigen Landhaus in Tribschen am Vierwaldstätter See; der König bezahlt die Miete, obwohl er den Komponisten im Dezember 1865 aus München verweisen musste; Wagners Einmischung in die bayrische Politik hatte zu lautstarker Entrüstung geführt.
Wagner lebt also wieder einmal im Exil. Doch diesmal sitzen ihm keine Gläubiger im Nacken wie früher. Er hat einen Kammerdiener, Peter Steffen, und den Hausverwalter Jacob Stocker. Er hat seine treuste Hausangestellte, Vreneli Weitmann, die Stocker heiraten wird. »Am Ufer habe ich einen Kahn, in welchem ›Jost‹, ein vortrefflicher Alter, mich fährt: im Stall ein altes gutmüthiges Pferd, das ich zu Ausflügen verwenden kann«, schreibt er König Ludwig II. Vor allem: Cosima ist oft bei ihm, und dank ihrer Präsenz ist er aus der dreijährigen Kompositionskrise herausgekommen, die die zwei Teile des 1. Aktes der Meistersinger voneinander trennt. Doch nach dem 17. Februar 1867, da sie in Tribschen ihr zweites Kind von Wagner zur Welt gebracht hat, hält sie sich wieder in München auf, wo sie ihr Vater, Franz Liszt, besucht. Er redet ihr ins Gewissen, sie dürfe nicht mit Wagner zusammenleben, sie müsse an ihrer Ehe mit Bülow festhalten, schon wegen der zwei Kinder, die sie mit ihm habe, Blandine und Daniela. Liszt geht jeden Morgen um sechs Uhr in die Messe und beharrt darauf, dass nach katholischem Recht die Ehe unauflösbar sei. Vor allem aber fühlt er sich seinem Schwiegersohn von Bülow gegenüber verpflichtet. »Er ist praktisch mein Sohn und seit 20 Jahren der temperamentvollste und intimste meiner Freunde«, schrieb er einer Brieffreundin.6
Cosima achtet ihren Vater, ja, sie liebt ihn. Aber Liszt kommt diesmal nicht an sie heran. Er wird in diesen Momenten gespürt, vielleicht auch bereut haben, dass er zu lang ein abwesender Vater war, der seine Tochter in die Obhut ihrer Großmutter, Anna Liszt, und später in ein Pariser Institut gab, um seine Konzertreisen bewältigen zu können. Erst seit 1844, nach der Legitimierung durch ihren Vater, trug Cosima den Namen Liszt und nicht mehr länger den Geburtsnamen ihrer Mutter, der Gräfin d’Agoult.7 Wenn Liszt ihr nun vorhält, dass sie mit einer Scheidung den stets kränkelnden Hans von Bülow zerstören wird, bringt Cosima ein Argument vor, gegen das der Vater im Moment machtlos ist: Wagner sei ein Genie, und sie fühle die Bestimmung, diesem Genie zu helfen, zur Seite zu stehen, ihm das häusliche Glück zu bieten, das ihm seit so langer Zeit fehle und das zur Entfaltung seiner Schaffenskraft unabdingbar sei.
Liszt beschließt, nach Luzern zu reisen und mit Wagner selbst zu reden. Er bricht zunächst nach Stuttgart auf, wo er Richard Pohl trifft, einen jener seltenen Musikkritiker, die bekennende Wagnerianer sind.8 Liszt und Pohl reisen nun in die Schweiz, Pohl aber ist über den Sinn der Reise im Unklaren. Franz Liszt hatte sich bei Wagner telegrafisch angekündigt, und so steht in Luzern am Bahnhof um zwei Uhr mittags bereits ein Einspänner mit einem Schimmel, um den Gast nach Tribschen zu bringen.
Liszt hatte Großes mit Wagner vorgehabt. Als er nach Jahren als reisender Klaviervirtuose 1847 in Weimar vorläufig zur Ruhe gekommen war, sich dort mit seiner...