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E-Book

Ein halber Held

Mein Vater und das Vergessen

AutorAndreas Wenderoth
VerlagBlessing
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783641171346
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Dies ist die Geschichte eines Lebens, das durch die Demenz aus der Spur geraten ist.
'Entschuldige mich bitte für meine Inhaltslosigkeit, aber ich bin nur noch ein halber Held.' So beschreibt Horst Wenderoth seine Gedanken- und Gefühlswelt, die von einer Diagnose auf den Kopf gestellt wurde: vaskuläre Demenz. Es ist ein Satz, der den Sohn Andreas 'in seiner klarsichtigen Poesie erschüttert'. Sein Leben lang war Horst Wenderoth ein Mann des Wortes. Seit drei Jahren aber wenden sich die Wörter von ihm ab und gegen ihn, sagen nicht mehr, was er denkt.

Ein halber Held ist die berührende, zuweilen aber auch absurd komische Liebeserklärung eines Sohnes an seinen Vater, der sich stets über den Geist definierte, und liefert einen einzigartigen Einblick in das Erleben eines Demenzkranken. Auf einfühlsame Weise werden dabei auch die kreativen Seiten der Krankheit geschildert, die sich von der herkömmlichen, rein pathologischen Wahrnehmung deutlich abheben.

Eine Vater-Sohn-Geschichte, die zeigt, dass nach der Diagnose Demenz das letzte Wort noch lange nicht gesprochen ist und bei allem Abschiedsschmerz auch Trost bleibt.



Andreas Wenderoth, geboren 1965, studierte Politologie und Geographie an der FU Berlin, bevor er als freier Autor für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften wie GEO, SZ-Magazin, Die Zeit, Brigitte sowie DeutschlandRadio Kultur und WDR tätig war. Er ist Theodor-Wolff-Preisträger und wurde mehrfach für den Egon-Erwin-Kisch-, den Henri-Nannen- und den Deutschen Reporterpreis nominiert. Wenderoth lebt in Berlin.

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Leseprobe

AUF SCHWANKENDEM BODEN

»Doch zweifl’ ich noch, denn ich begreif’ es nicht, an welchem Ort ich bin; all mein Verstand entsinnt sich dieser Kleider nicht, noch weiß ich, wo ich die Nacht schlief.«

Shakespeare: König Lear

Nach einem Monat im Krankenhaus wird mein Vater in ein Pflegeheim verlegt. Es liegt direkt gegenüber dem Haus meiner Eltern. Wir empfinden es als großes Glück, dass dort ein Platz zu bekommen war. Meine Mutter muss nur ein paar Schritte über die Straße gehen. Und denkt, dass es, wenn sich die Lage erst etwas entspannt hat, vielleicht möglich sein wird, ihn hin und wieder nach Hause zu holen. Wenigstens stundenweise.

Sie richtet ihm das Zimmer ein. Ein Teewagen, auf dem Fotos meiner Eltern stehen, ein paar auch von mir. Lächelnde Menschen, die Zuversicht ausstrahlen, und ein paar Tierbilder, weil meine Mutter der Meinung ist, dass diese einen beruhigenden Einfluss haben. Das Zimmer ist zur Straße gelegen. Was gut ist für meinen Vater, denn völlige Ruhe, die er immer geschätzt hat, stürzt ihn jetzt zuverlässig in seine verwirrende Innenwelt. Er isst, als wir ihn gegen Abend besuchen. Vor seinem Bett steht ein Rollator, den er uns folgendermaßen erklärt: »Es gibt hier so kleine Geräte, die rollen weg, und dann sind sie wieder da.« Die Teetasse steht in bedrohlicher Schräglage neben der Ausbuchtung im Tablett. Meine Mutter, die die Situation mit scharfem Blick erfasst, versucht zu begradigen, aber auf wundersame Weise steht nun der Teller schief. Mein Vater kommentiert ihr Bemühen, Ordnung zu schaffen, mit analytischem Blick: »Man muss sagen, man könnte Verrückungen vornehmen, tieferer, aber auch flacherer Art. Eben hast du eine Verrückung eher flacherer und gefährlicher Art vorgenommen. Du hast die Sache nicht richtig gravierend gemacht.«

Was wir, damit sich niemand bedroht fühlt, schnell ändern.

Beim Nachtisch sagt mein Vater, er müsse nun etwas Wichtiges mit uns besprechen. Fasst uns beide an der Hand, strahlt uns an und sagt: »Der Familienverbund ist doch das Schönste!«

Weil er in dieser Nacht randaliert und schreit, wird er morgens auf eine andere Station verlegt. Hier sind nun nur noch Demente. »Leute, mit denen ich nicht reden kann«, klagt der Vater. Und dass er es nicht aushalte. »Ich will sterben«, sagt er zu meiner Mutter. »Komm doch mit mir!« Sätze, die einen leiden lassen, selbst wenn man gesund ist. Aber meine Mutter ist weit davon entfernt, gesund zu sein. Dann, oft übergangslos, auch wieder solche Sätze, die von einem Rest Lebensmut künden: »Umso mehr empfinde ich die Notwendigkeit, ich sage das mal so pathetisch, Rettungsarbeit zu leisten an mir selber. An meiner nächstgelegenen Umwelt. Und es nicht so treiben zu lassen, ach, heute Abend wird wieder Frost sein und so was, nein, ich bin eigentlich neugierig auf den Abend.«

Darf ich mal ’ne Zwischenfrage stellen, ehe sie mir entfällt:

Wenn man dich fragen würde: Was haben Sie für einen Beruf, was würdest du da antworten?

Weißt du es denn?

Nein!

Ich bin Journalist.

Mmh … Wann fahren wir endlich zurück nach Berlin?

Wir sind in Berlin!

Was ist das hier?

Ein Pflegeheim.

Ist das weit von zu Hause?

Ich male ihm einen Plan, der zeigt, dass er sich nur etwa 200 Meter von zu Hause entfernt befindet. Ich mache ein Kreuz für unser Haus und schreibe »Mama« darauf. Dann zeichne ich den Grundriss des Altersheimes und die ungefähre Lage seines Zimmers ein und versehe auch das mit einem Kreuz. Ich versuche, ihm deutlich zu machen, dass er, wenn er auf der anderen Seite des Heimes wohnte, direkt ins Küchenfenster unseres Hauses blicken könne. Als meine Mutter anhebt, etwas zu sagen, führt mein Vater den Finger zum Mund. Der Sohn soll in seiner Konzentration nicht gestört werden, während er so ungemein Wertvolles anfertigt. Ob es wohl einen Platz gibt, wo wir diese hilfreiche Zeichnung sicher deponieren könnten? Er ist sehr besorgt. Ich sage ihm, dass ich es immer wieder aufzeichnen könne, falls er es verlieren sollte.

Man stelle sich einen Pianisten vor, der darauf vertrauen kann, dass die Tasten seines Instruments in einer bestimmten Reihenfolge angeordnet sind. Der aber nun feststellen muss, dass ihm, wenn er einzelne Töne anschlagen will, auf einmal die Tasten fehlen. Er greift ins Leere, die Melodie erstirbt. Dennoch versucht er weiterzuspielen. Er improvisiert. Aber je mehr Tasten in der Klaviatur fehlen, desto fragmentarischer wird die Musik. Erst verliert sie ihren Charakter. Am Ende verstummt sie.

Ich frage meinen Vater, was es zu essen gibt, und er sagt, das würde er selbst gern wissen. Ich deute auf den Speiseplan, der auf seinem Nachttisch liegt. Und wie um zu beweisen, dass es ja nicht so schlecht um ihn steht und er sehr wohl in der Lage sei, sich auf einem solchen Zettel zu orientieren, fängt er an vorzulesen, was eher den gegenteiligen Eindruck hinterlässt. »Leberkäse mit Gemüsen und Partisilie, nee Petersilienkartoffeln. Ich mache hier weiter. Vollkorn, Moment, Vollkornspaghetti mit Tomatensoße und Rei… Reibekäse. Um Gottes willen, was ist das denn?« »Das ist so’n Käse, den man drüber macht …«, erkläre ich ihm, worauf er sagt: »Hat sich mir noch nicht vorgestellt.«

Mit voller Konzentration versenkt er sich jetzt in den Menüplan und liest angestrengt und sehr langsam weiter. Meinen angedeuteten Einwand, dass wir es auch dabei belassen können, wischt er beiseite (»So schnell kommst du nicht davon!«) und ist jetzt bei »Räucherlachs und Meeresdressing« angelangt, verbessert sich jedoch selbst »Quatsch, Meerrettich!« – nur, dass er das Wort nicht mehr kennt. »Ist so’ne scharfe Wurzel«, springe ich ihm bei. »Meerrettichdressing«, sagt er zweimal hintereinander, weil er an dem Wort Gefallen findet. »Ja, jetzt hast du’s!«, lobe ich, und er sagt: »Na, das hätt ich gar nicht als schwer empfunden.«

Schwieriger ist schon die konkrete Antwort darauf, was er heute gegessen hat. »Warte mal, ich glaube Fischsalat mit Dillich …« Aber schon ist er wieder in die falsche Spalte gerückt. »Moment, vielleicht Fischfrikadelle«, da er sich nicht erinnert, spekuliert er flächig, verläuft sich im Essensplan, der ihm ein Labyrinth ohne Ausweg ist. »Jetzt sind wir uns selber im Wege«, stellt er fest, und seine Sprache fällt ins Militaristische: »Jetzt müssen wir durch entscheidende Vorstöße …« Aber es gibt natürlich keinerlei Vorstöße, die Schlacht ist längst verloren, denn die Reihen sind entweder ungeordnet oder existieren nicht mehr. Und, um im Bild zu bleiben, selbst der Feldherr hat vergessen, wen er eigentlich befehligt. »Du hast den Leberkäse gegessen«, sage ich. »Weißt du, woran ich das sehe?« Er überlegt, schaut auf das Blatt, sagt nichts, weil er keine Hinweise zur Beantwortung findet und es ihm auch widersinnig erscheint, dass sein Sohn etwas zu wissen vorgibt, was doch eigentlich nur er wissen kann. Schließlich hat er ja gegessen und nicht ich. »Du hast ein Kreuz dahinter gemacht«, sage ich in sein Schweigen. Und sehe in seinen Augen, dass er erschrickt.

Er kämpft um seine Heimat, die sich vor ihm verrückt. Steht auf schwankendem Boden und möchte den Platz behaupten, den er mit all den Erfahrungen seines Lebens eingenommen hat. Aber weder diese Erfahrungen noch die vertrauten Orte sind mehr an ihrem Platz. Er erkennt enge Verwandte nicht wieder, und immer wieder erkundigt er sich mit ernstem Interesse, wo er denn sei. Um es alsbald wieder zu vergessen.

Also bisher war es ja so, dass diese … wie hatten wir diese Straße genannt?

Lichterfelder Ring!

Ja, das der sozusagen direkt auf uns zulief.

Nein, das ist die nächste Straße.

Moment, das ist mir immer noch nicht klar. Wie ist es denn nun wirklich? Kannst du es nicht mal aufmalen?

Ja, das hier ist der Achenseeweg.

Der ist mir auch schon durch den Weg gegangen. Und zwar als irritierend. Weil ich mir oft sagte, was ist hier eigentlich los? Haben wir denn jetzt Schnee oder nicht?

Ja, sie haben gesagt, dass es in den nächsten Tagen schneien könnte.

Tatsächlich? Spürbar?

Hin und wieder taucht er auf in unserer Welt. Kurzbesuche in der Realität.

Wir klammern uns an die Gelegenheiten, in denen eine Verbindung mit ihm, so vage sie sein mag, noch möglich ist. Wir werden ihr hinterhertrauern. Ich weiß nicht, ob ich meinem Vater mehr Klarheit wünschen soll oder noch stärkere Nebel, die sich über sein Bewusstsein legen. Diese leichte bis mittelschwere Zwischenphase der Demenz ist ebenso schmerzvoll für ihn wie für uns. Die lichten Momente, in denen er mit großer Klarsicht bemerkt, dass er sich in einer für ihn gänzlich unwürdigen Situation befindet. In der er Menschen ausgeliefert ist, die ihn wie ein Kind behandeln. Nicht aus Desinteresse oder menschlicher Kühle, wie er zuweilen argwöhnt, sondern weil er den Maßstab des Erwachsenen, dem die Bewusstheit zugrunde liegt, nun amtlich nicht mehr erfüllt.

Im Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI wird festgestellt, dass die Alltagskompetenz meines Vaters in erheblichem Maß eingeschränkt ist: »Der Versicherte wurde vollständig bekleidet im Zimmer angetroffen, die Kontaktaufnahme ist freundlich. Der Sinn der Begutachtung wird nicht erfasst.« Im Gutachten, das für die sogenannte Pflegestufe 2 notwendig ist, wird meinem Vater stattdessen die Unfähigkeit attestiert, »eigenständig den Tagesablauf zu planen und zu strukturieren. Es besteht eine mangelnde Befähigung zu eigenständig strukturierter, regelmäßig...

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