1 Moral im Job – geht das?
Das Richtige tun, die richtige Entscheidung treffen. Wer möchte das nicht? Das Problem dabei: Das „Richtige” ist ein Chamäleon-Wort. Je nach Kontext und Fragestellung kann es unterschiedliche Bedeutungen annehmen. Das Richtige kann das ökonomisch Richtige sein, also das Richtige im Sinne des optimalen Einsatzes von Ressourcen; es kann das gesellschaftlich Richtige sein, also das Richtige im Sinne des größten Nutzens für die Gesellschaft als Ganzes; es kann das strategisch Richtige sein, also das Richtige im Sinne des optimalen Plans zur Erreichung eines übergeordneten Zieles.
Die Bedeutung von „richtig”, die uns in diesem Buch interessiert, ist das moralisch Richtige. Was ist in ethischer Hinsicht die richtige Handlung? Wie treffe ich die moralisch richtige Entscheidung? Und wie setze ich diese Entscheidung um? Dabei konzentrieren wir uns auf typische Situationen in unserem Berufsleben, auf alltägliche Situationen in unserem Job. Denn im Geschäftsleben begegnen uns allerorten moralische Fragen:
Sind Notlügen im Geschäftsleben manchmal erlaubt?
Wie loyal muss ich meinem Arbeitgeber gegenüber sein?
Darf ich jemanden manipulieren, wenn es einem guten Zweck dient?
Soll ich melden, dass ein Fehler vertuscht wurde, auch wenn dies meine eigene Karriere gefährdet?
Was soll ich tun, wenn ich eine Zusage oder ein Versprechen nicht halten kann?
Darf ich mich einmischen, wenn ich merke, dass etwas falsch läuft?
Was tue ich, wenn mich jemand ausnutzt?
Unter welchen Umständen darf ich ein Geheimnis verraten?
Gibt es spezielle Pflichten unter Arbeitskollegen?
Wie weit geht meine Fürsorgepflicht als Vorgesetzter?
Darf man den Fehler eines Vorgesetzten offen kritisieren?
Soll ich eingreifen, wenn ich sehe, dass ein Kollege gemobbt wird?
Ist es in Ordnung, im Bewerbungsgespräch zu flunkern, wenn man keinen geraden und lückenlosen Lebenslauf hat?
Was tue ich, wenn ich das Gefühl habe, ungerecht behandelt zu werden?
Ist es richtig, immer seine ehrliche Meinung zu sagen, auch wenn man dadurch jemanden verletzt?
Soll man unangenehme Nachrichten manchmal besser zurückhalten?
Was tue ich, wenn zwei Pflichten miteinander kollidieren?
Ist Ethik nicht immer relativ?
Warum sollte ich überhaupt moralisch handeln?
Welche Dinge sind wichtig im Leben?
Was bedeutet für mich ein glückliches, gelingendes Leben?
Solche und ähnliche Fragen führen uns mitten hinein in die Ethik. Es sind Fragen, die uns in Beruf und Alltag immer wieder beschäftigen, die uns manchmal auf der Seele liegen und uns den Schlaf rauben. Was den Fragen gemeinsam ist: Sie berühren die legitimen Interessen und Anliegen anderer Personen, aber auch meine eigenen. Und das ist typisch für moralische Fragestellungen.
Mein Anliegen in diesem Buch ist, sich mit all diesen Fragen einmal bewusst auseinanderzusetzen und nach Wegen zu suchen, wie wir zu befriedigenden Antworten gelangen und moralisch gute Entscheidungen treffen können. Ziel ist es dabei nicht, besserwisserisch und mit dem moralischen Zeigefinger Tipps und gute Ratschläge zu geben, wie man sich moralisch richtig zu verhalten hat. Die konkreten Situationen, die beteiligten Parteien und deren Interessen sind zu unterschiedlich, als dass Probleme oder Konflikte durch Patentrezepte gelöst werden könnten.
Ich möchte aufzeigen, wie man in moralisch schwierigen Situationen zu guten Entscheidungen kommen kann, welche Einflussfaktoren man berücksichtigen sollte und wie man, wenn man eine Entscheidung getroffen hat, konsequent handelt. Dazu stelle ich ein Modell moralischer Grundregeln vor, das Sie dabei unterstützen soll, zu differenzierteren moralischen Entscheidungen zu kommen. Ich nenne dieses Modell Common-Sense-Ethik. Es handelt sich letzten Endes um eine Rekonstruktion der moralischen Intuitionen unserer Alltagsmoral.
Warum lohnt es sich für Sie, sich mit ethischen Fragestellungen zu beschäftigen?
Sie können Ihre Entscheidungen auf eine solidere Begründungsbasis stellen und finden geeignetere Handlungsoptionen in ethisch anspruchsvollen Situationen.
Sie werden sicherer in der Bewertung der ethischen Qualität einer Handlung.
Sie gewinnen einen Rahmen für Ihre persönlichen ethischen Ideale, für Ihren persönlichen ethischen Kompass.
Sie können Ihr eigenes Handeln leichter überprüfen.
Sie schärfen Ihre moralischen Intuitionen.
Sie gewinnen begriffliche Klarheit und bewegen sich dadurch sicherer innerhalb Ihrer moralischen Bewertungen. Sie werden Begriffe präziser unterscheiden und steigern damit Ihre Urteilskraft. Das hilft Ihnen dabei, ethisch relevante Situationen angemessener zu interpretieren und damit stabiler in Ihren Entscheidungen zu werden.
Man muss dabei akzeptieren, dass es nicht nur eine Antwort auf eine moralische Frage gibt. Vernünftige Menschen können zu unterschiedlichen Antworten kommen, die gleichermaßen gerechtfertigt sind. Ethik ist keine Mathematik, sie ist keine exakte Wissenschaft. Unsere moralischen Urteile lassen sich nicht auf ein einfaches Erklärungsschema reduzieren. Es erfordert immer einen Blick auf die ganz konkrete Situation, wenn man zu moralisch klaren Entscheidungen gelangen möchte. Die Entwicklung der eigenen Urteilskraft ist dafür die wichtigste Voraussetzung.
Um sichere Urteile bilden zu können, spielen sowohl Vernunftüberlegungen als auch Emotionen eine wichtige Rolle. In den letzten Jahren kamen viele sozialpsychologische Experimente zu dem Ergebnis, dass Gefühle die Bewertung von Handlungen stark beeinflussen. Daher glauben nun manche Ethikexperten, moralische Fragen seien letztlich nur durch den Zugang zu unseren Emotionen zu lösen. Die Vernunft hat dabei maximal die Funktion, uns Handlungsoptionen vor Augen zu führen. Die moralische Bewertung selbst wird durch unsere Emotionen geleistet. Ich halte es für falsch, Vernunft und Emotion voneinander trennen zu wollen. Beide Aspekte sind wichtig. Ohne kühle Überlegungen und eine rationale Analyse wird man in vielen Situationen eine falsche Entscheidung treffen, und ohne Emotionen wird man möglicherweise gar keine Entscheidung treffen oder Fakten völlig falsch bewerten. Das Ideal ist, beide Fähigkeiten auszubilden und zu pflegen: seine rationale Urteilskraft zu stärken, aber auch die Fähigkeit weiterzuentwickeln, angemessene emotionale Reaktionen zu haben. Das heißt letzten Endes, einen Charakter auszubilden, der eine Balance zwischen Ratio und Emotio widerspiegelt.
Das ist auch der Grund, warum ich Ihnen in diesem Buch viele kleine Geschichten und Fälle schildere. Mit moralischen Fragen beschäftigt man sich am besten, indem man sich in konkrete Situationen hineinzudenken versucht. Ethische Fragen sind immer in komplexen Lebenssituationen verankert. Es handelt sich in der Regel nicht um eindimensionale Entscheidungssituationen. Vielmehr spielen viele Faktoren, auch emotionaler Art, mit hinein. Konkrete Geschichten helfen uns dabei, diese Faktoren besser berücksichtigen zu können und die moralischen Probleme und deren Lösungen leichter zu verstehen. In vielen Fällen ist klar, wie die moralisch richtige Entscheidung aussehen sollte. Die Situation erscheint jedoch vermeintlich unlösbar, wenn man keine Idee hat, was man nun konkret tun kann. Deshalb werde ich in diesem Buch auch immer wieder Hilfestellung bei der Frage anbieten, welche Umsetzung geeignet ist, nachdem man die richtige moralische Lösung erkannt hat. Den Stein der Weisen habe ich dabei gewiss nicht gefunden, ich bin auch kein Moralist, der anderen Menschen erklären könnte, welche die beste Entscheidung ist. Ich möchte Sie jedoch dabei unterstützen, für sich selbst mehr Klarheit in moralischen Fragen zu finden. Zudem möchte ich demonstrieren, dass es bereichernd und lehrreich sein kann, sich mit ethischen Fragen zu beschäftigen und in seinem Leben einen moralischen Standpunkt zu entwickeln.
Einen moralischen Standpunkt einzunehmen bedeutet, ethische Überlegungen in seine Entscheidungen und Handlungen einfließen zu lassen und sich im Alltagshandeln von ihnen leiten zu lassen. Es bedeutet, beständig die Interessen anderer Menschen zu berücksichtigen, sich aktiv die Frage zu stellen, ob das, was man tut, ethisch in Ordnung ist. Das führt natürlich zu Spannungen mit unseren ichbezogenen Anliegen. Denn wir stecken nun mal in unserer ganz subjektiven Welterfahrung mit all unseren Wünschen, Sorgen, Ängsten, Hoffnungen und Freuden. Wir sind zwangsläufig parteiisch, was uns und unser Leben betrifft. In erster Linie ist mir wichtig, dass es mir gut geht, dass ich ein erfolgreiches, glückliches Leben führe. Der moralische Standpunkt, der von uns verlangt, einen Schritt zurückzutreten und einen unparteiischen Blick auf die Welt einzunehmen, ist in dieser Hinsicht ein Störenfried und Quertreiber. Er fordert uns auf, vom Blickwinkel des neutralen Beobachters aus mit kühlem Kopf zu entscheiden, was die moralisch beste Handlung ist. Lohnt das überhaupt? Und wenn ja, wozu? Und kann das im Job funktionieren?
Spätestens an dieser Stelle tritt uns der smarte Geschäftsmann entgegen, der uns selbstsicher darüber aufklärt: „Einen moralischen Standpunkt? Den kann man sich leisten, wenn man Profit macht. Ansonsten ist das purer Luxus. Wir stehen im Wettbewerb, es gibt Verdrängungskämpfe. Übrig bleibt,...