Gleichgewichtsgefühl
Die Erfahrungen, die wir auf dem stehenden Pferd gemacht haben, müssen wir nun in die Bewegung übertragen: Denn Reiten ist nun einmal Fortbewegung: Aktivität in Raum und Zeit.
Kathrin zeigt hier übertrieben, welche Kräfte auf den Menschen wirken, wenn sein Pferd antritt.
Übung „Wie wirkt Bewegung?“
Setzen Sie sich wieder ganz entspannt im Sattel zurecht. Eventuell fassen Sie mit den Händen in das „Angstriemchen“ oder die vordere Sattelkammer. Versuchen Sie, so passiv wie möglich zu werden. Lassen Sie jemanden das Pferd energisch anführen: Welche Kräfte wirken auf Ihren Körper, in welchen Richtungen wird das Gleichgewicht gestört – und welche Muskeln brauchen Sie, um das wieder in Ordnung zu bringen?
Für die folgenden Übungen sollte sich das Pferd fleißig vorwärtsbewegen. Sie können am hingegebenen Zügel reiten oder jemanden bitten, Sie zu führen oder an die Longe zu nehmen. Sie schaffen damit einen Freiraum zum Lernen und Ausprobieren, können sich auf sich selbst konzentrieren und Ihre Wahrnehmung nach innen richten. Je sicherer Sie sich fühlen, desto weiter können Sie sich auf das Spiel von Anspannen und Entspannen einlassen: In der Muskulatur sind vielfältige Informationen gespeichert, wie Erfahrungen, Absichten, Erwartungen, Ängste – wir können längst nicht alle bewusst wahrnehmen, aber sie alle wirken auf unser Gleichgewichtsgefühl. Natürlich können Sie die Übungen freihändig reiten. Indem Sie sich aber mit den Händen festhalten, geben Sie Ihrem Organismus ein Signal, dass Sie gut aufpassen – er kann sich sicher fühlen. Wenn Sie mit den Händen einen Halt haben, können die Beine loslassen, werden frei zum Fühlen.
Im direkten Kontakt zwischen unserem Körper und dem Sattel oder dem Pferderücken liegt die Basis unseres Reitens. Hier konzentriert sich das Gewicht, bekommen wir die Sicherheit, die uns im Stehen der Boden gibt.
Übung „Den Sattel spüren“
Konzentrieren Sie sich zunächst nur auf den Druck, der zwischen dem Sattel und Ihrem Körper entsteht. Dann kneifen Sie das Gesäß fest zusammen, halten es einen Moment und lassen die Muskeln wieder los. Wenn Sie mögen, unterstützen Sie das Loslassen, indem Sie gleichzeitig ausatmen. Dann wechseln Sie ein paarmal zwischen Anspannen und Entspannen hin und her. Wie ändert sich Ihr Kontakt zum Sattel?
Manchmal bewirkt diese Übung allein noch gar nichts, deshalb hier gleich eine weitere:
Übung „Beine anspannen“
Ziehen Sie Ihre Knie leicht hoch und spannen die Oberschenkel so stark wie möglich an. Dann lassen Sie auch hier die Muskeln mit dem Ausatmen los. Wiederholen Sie diese Übung zwei bis drei Mal.
Wenn Sie diese Übungen mehrmals wiederholen, werden Sie merken, dass sich Ihre Auflagefläche im Sattel verändert, Sie kommen „tiefer in den Sattel“. Wenn Sie genau hinspüren, konzentriert sich der Druck Ihres Körpergewichts auf zwei Stellen: Das sind die Sitzbeinhöcker. Diese kleinen Knochenvorsprünge sind circa 4 bis 5 Zentimeter lang und befinden sich leicht kufenförmig gebogen am tiefsten Punkt des knöchernen Beckenrings. Da wir sie im Alltag kaum bemerken, sind sie den meisten von uns unbekannt – vielleicht finden auch Sie sie nicht gleich.
Gesäß zusammenkneifen – der Körper wird über den Sattel gehoben; Muskeln loslassen – das Gesäß schmiegt sich in den Sattel.
Auch der angespannte Oberschenkel hebelt das Gesäß aus dem Sattel, entspannt erlaubt er einen tiefen Sitz.
Übung „Bekanntschaft mit den Sitzbeinhöckern“
Sitzen Sie möglichst entspannt auf Ihrem Pferd (wir erinnern uns: im Sattel stehen), lassen die Beine rechts und links hinunterbaumeln und atmen ganz normal weiter. Jetzt ziehen Sie leicht den Bauch ein, lassen ihn wieder los – und ziehen ihn wieder ein, diesmal vor allem den unteren Bauch (vom Bauchnabel an abwärts). Wieder loslassen. Beim nächsten Einziehen machen Sie dem Bauch nach hinten etwas Platz, indem Sie ihm mit dem Kreuz ausweichen. Wieder loslassen, das Kreuz folgt nach vorn. Die gesamte Gesäßmuskulatur bleibt dabei locker, bewegt sich nur so viel, dass sie die Vorwärts-rückwärts-Bewegung nicht blockiert.
Sobald sich die Vorwärts-rückwärts-Bewegung spielerisch leicht anfühlt, spüren Sie zu den kleinen Kufen, den Sitzbeinhöckern hin. Wiegen Sie sich ganz leicht darauf hin und her.
Diese Übung können Sie auch auf Stuhl- und Tischkanten ausprobieren. Achten Sie vor allem darauf, dass Ihre Beine locker bleiben!
Die Sitzbeinhöcker kennenlernen: Auf den vorderen Kufenenden zu sitzen, wirkt entlastend auf den Pferderücken. Die mittlere Position wirkt neutral. Auf den hinteren Kufenenden zu sitzen, wirkt belastend auf den Pferderücken. Tatsächlich sind die Unterschiede in der Bewegung von außen nur mit geübtem Blick zu erkennen!
Die Bekanntschaft mit diesem Teil Ihres Körpers sollten Sie vertiefen. Dann merken Sie schnell, dass Sie hauptsächlich vor und zurück, in gewissem Maß jedoch auch in alle anderen Richtungen schaukeln können – und je beweglicher Sie dort werden, desto leichter schmiegen Sie sich in die Bewegungen des Pferdes ein. Dieses Schaukeln auf den kleinen Kufen, das Balancieren auf den beiden Sitzbeinhöckern, ist der Schlüssel zum losgelassenen Gleichgewichtssitz.
Allerdings ist die Beweglichkeit des Beckens ziemlich störanfällig:
Übung „Aushebeln der Sitzbeinhöcker“
Konzentrieren Sie sich darauf, auf den kleinen Kufen vor und zurück zu schaukeln und
• kneifen Sie die Gesäßmuskulatur zusammen – oder
• machen Sie ein Hohlkreuz – oder
• klammern Sie die Beine an – oder
• pressen Sie die Lippen zusammen.
Welchen Einfluss hat das auf Ihre Beweglichkeit?
Am Hohlkreuz haben wir es erlebt: Die Haltung des Rückens beeinflusst unsere bewegliche Basis. Nun heißt es, wir sollen „gerade sitzen“. Doch was ist eigentlich „gerade“? Zu dieser Frage gibt es störende Bilder (oft assoziiert mit „stramm“, die Folge ist ein Hohlkreuz) und Vorstellungen (viele Menschen stehen nicht im Lot, sondern etwas davor oder dahinter, erleben sich aber als „gerade“). Deshalb nutzen Korrekturen von außen, wenn überhaupt, nur kurzfristig. Probieren Sie es selbst aus:
Übung „Aufrechte Haltung“
Beugen Sie den Oberkörper vor – fast bis auf den Pferdehals. Dann lehnen Sie sich zurück (Sie halten sich ja fest), so weit es geht. Bewegen Sie sich zwischen diesen beiden Positionen vor und zurück, machen die Bewegung immer kleiner. Irgendwo, in der Mitte zwischen Fast-auf-dem-Pferdehals-liegen und So-weit-zurücklehnen-wie-es-nur-geht, wird sich ein Gefühl von „gerade“ einstellen. Geben Sie sich damit noch nicht zufrieden: Testen Sie diese Senkrechte aus, verändern das Vor und Zurück nur noch minimal, prüfend, tastend – bis Sie das Gefühl bekommen, ganz genau im Gleichgewicht zwischen vorn und hinten, im Gleichgewicht der Bauch- und Rückenmuskelspannung zu sein.
Dieses Gefühl für „gerade“ können Sie jederzeit abfragen. Je öfter Sie üben, desto selbstverständlicher werden Sie es wiederfinden.
Schritt 1: Probieren Sie einmal extreme Haltungen aus.
Schritt 2: Zwischen den Extremen …
… findet sich jeweils eine Mitte.
Die Übung lässt sich beliebig ausweiten: Jeder Mensch verfügt über eine objektivierbare Wahrnehmung für „gerade“, „senkrecht“, „Gleichgewicht“ und so weiter. Wer sie trainiert, findet mit der Haltung „sein Maß“, orientiert sich an den eigenen, individuellen anatomischen und physiologischen Bedingungen.
Übung „Gerader Rücken“
Ähnlich wie bei der letzten Übung wechseln Sie nun zwischen Hohlkreuz und Katzenbuckel hin und her, reduzieren auch hier die Bewegungen, testen so lange, bis sich Ihr Rücken im Gleichgewicht zwischen vorn und hinten befindet.
Michelle demonstriert die Endpunkte der Übung zwischen Hohlkreuz und Katzenbuckel.
Immer wieder klagen Reiter, besonders nach dem Unterricht, über Rückenschmerzen, die durch übermäßige Spannung ihrer Muskulatur verursacht werden. Mit dieser Übung können Sie lindern und vorbeugen. Sie lässt sich auch für das Gleichgewicht zwischen rechts und links nutzen: Kippen Sie einfach so weit es geht nach rechts – dann nach links – und fragen Sie wieder die Mitte ab.
Da wir gerade dabei sind, die Mitte...