Das Genie schlummert noch
War er eine Rose, die eine Rose im Knopfloch trug, ein »poetischer Kunstglasbläser und Zierathämmerer« (wie ein Kritiker ihn nannte) – oder ein strenger Wortmeißler, der seinem Credo »Dinge machen aus Angst« folgte? War er ein »überschminktes Frauenzimmer«, wie sein Kollege Georg Heym ihn verspottete, und »ein bißchen dumm«, was Gottfried Benn argwöhnte – oder war er ein formsüchtiger Kunstkenner, der ganz früh die Bedeutung von Thomas Mann, das Genie der Picasso und Cézanne erkannte, in Worten geradezu demütiger Ergriffenheit sich dem Schönen als Geschmackskategorie verweigerte, um das Gran Wahnsinn im Kunstwerk zu preisen? War er eine »mit großem Aufwand rotierende Bedeutsamkeitsmaschine«, haltlos, beliebig, aus deren absichtlich Ungefährem »die großen Formeln herausrauschen« – oder ein sich Leben und Liebe Versagender, um jene Gedichte zu schaffen, deren bohrender Schmerz uns noch heute frieren macht? War er ein Feintäschler, wie das französische Wort Portefeuilleur eingedeutscht wurde; also ein Preziosenfabrikant, der seine kostbar zurechtgeschliffenen Diamanten in mit edlem Samt ausgeschlagenen Saffianschatullen feilbot – oder ein Sternenfänger, dessen unermeßlicher Hunger nach Licht eine in Finsternis darbende Welt heller machte? Selbst Lobpreisende wie Stefan Zweig sprachen von »erlauchter Goldschmiedekunst«, und er selber erläuterte gelegentlich erlesene Begriffe wie »Rauten« mit dem Hinweis auf prachtvoll angeordnete Brillanten, Perlen und Rubine.
Zeitgenossen priesen und höhnten ihn. Willy Haas, der eine Generation jüngere Prager, erzählt, weder er noch irgend jemand seiner Umgebung habe auch nur den geringsten Berührungspunkt mit Rilke gehabt, und alles, »was Rilke in seinem Werk und in seinem Leben getan hat, um irgendwelche uradelige Abstammung anzudeuten oder dem Leser zu suggerieren, ist etwas, was mir, und ich glaube uns allen, furchtbar auf die Nerven gegangen ist«.
Der Schriftsteller Hans Egon Holthusen dagegen zählt die Duineser Elegien und die Sonette an Orpheus neben Valérys Charmes und dem Ulysses von James Joyce zu den maßgeblichen und horizontbildenden Meisterwerken der modernen Literatur; während eine seiner vertrauten Damen, die Fürstin Marie von Thurn und Taxis, Lyrikgeschenke mit einem »es ist Entzückendes darunter und alles ist reizend« wie Konfektpräsente quittiert – zum Hauptwerk der Elegien heißt es: »Das entzückende kleine Buch kommt zu Ihren anderen Manuscripten in dem kleinen chinesischen Möbel in der Bibliothek; eine Sienesische Madonna süß und verträumt hält darüber Wache.«
Zu den Abenteuern des Biographen gehört auch, daß selbst das Äußere seines Helden von Zeitgenossen und Augenzeugen ganz widersprüchlich dargestellt wird. Während viele, die Rilke begegneten, seine dunkel glühenden Augen unter dem dichten braunen Haarschopf bewunderten, berichtet Hedwig Fischer – die Gattin des großen Verlegers Samuel Fischer – von dem »blonden, blauäugigen« Gast, den sie 1897 in ihrer Berliner Wohnung Burggrafenstraße 3 zu Ehren eines Leseabends von Carl Hauptmann empfing – ein »zarter, stiller, gutaussehender Mensch in hochgeschlossener, schwarzseidener Weste, über der an einer Kette ein Kreuz hing«. Sie hat auch einige Briefe des Dichters aufbewahrt, in denen mal poetisch von der »Dufthungersnot« der Rosen erzählt wird, mal die Hoffnung aufscheint, ob der reiche Verleger ihm – 1908 – wohl »ein ruhiges Arbeitsjahr in Paris zu erleichtern« vermag, und der inzwischen 46jährige auch mal ungewohnt kokett davor warnt, man möge ihm die »reizend gewordene« Tochter Tutti besser nicht vorstellen, da er »ihr am liebsten nachstellen würde«.
Stefan Zweig, einfühlsamer Porträtist, eine Art Seelenschnecke, berichtet trefflich von der leisen, geheimnisvollen Unsichtbarkeit, die Rilkes Lebensform ausmachte; ein bei Gesellschaften oft unbemerkter lautloser Gast mit ein wenig slawischen Gesichtsformen, leicht melancholisch niederhängendem blonden Schnurrbart, die blauen Augen eher abwesend lächelnd: »[…] die Stille wuchs gewissermaßen um ihn, wohin er ging und wo er sich befand. Da er jedem Lärm und sogar seinem Ruhm auswich – dieser ›Summe aller Mißverständnisse, die sich um seinen Namen sammeln‹, wie er einmal so schön sagte –, netzte die eitel anstürmende Woge der Neugier nur seinen Namen und nie seine Person. Rilke war schwer zu erreichen. Er hatte kein Haus, keine Adresse, keine ständige Wohnung, kein Amt. Immer war er am Wege durch die Welt, und niemand, nicht einmal er selbst, wußte im voraus, wohin er sich wenden würde. Für seine unermeßlich sensible und druckempfindliche Seele war jeder starre Entschluß, jedes Planen und jede Ankündigung schon Beschwerung.« Jean Cocteau wird es eines Tages bereuen, das Unauffällige mit dem Unbedeutenden verwechselt zu haben; er begrüßte den vermeintlichen Domestiken im Atelier Rodins schlichtweg nicht.
Bis auf unsere Tage tönt das Echo auf Rilke und sein Werk vielfach gebrochen. Während Gottfried Benn in einem Brief an den Merkur-Herausgeber Hans Paeschke 1950 – »Ich hasse im Augenblick den Reim« – attestiert, »mein Urteil ist, dass Rilke als Letzter das Raffinierte und das Sacrale des Reims noch einmal zusammenfassen konnte«, wehrt sich der Lyriker Thomas Kling, Jahrgang 1957, gegen Rilkes »Illustrationssüchtigkeit«, seine »Überinstrumentierung«, seine »sagenhaften Kitschattacken« und findet sich in einer »manierierten Konditorei« bedient.
Dem konträr erzählte Günter Grass dem Autor dieses Buches, daß er Rilke – ausgerechnet – in Kalkutta gelesen habe und die Textur seiner »Zunge zeigen«-Gedichte sich ganz stark dem Malte verdanke; tatsächlich, liest man Grassens Schreckenshymne auf eine Stadt der Erbarmungslosigkeit (immer auf den Ton »Jetztzeit Letztzeit« eingestimmt) unter diesem Aspekt, scheint eine deutliche Anlehnung durch.
Wer nun also war dieser Rilke, der nicht Rainer hieß noch edlen Geblütes war? Der am 4.Dezember 1875 in Prag als einziger Sohn einer wenig glücklichen Ehe Geborene wurde kurz vor Weihnachten auf die Namen René Karl Wilhelm...