Harald Blonski
So vielfältig die strukturellen Formen und Systemgebilde, die Dienstleistungen und prozessualen Abläufe sowie die Anforderungen unterschiedlicher Anspruchsgruppen an die Altenhilfe sind, so komplex und facettenreich ist die daraus resultierende Risikostruktur. Was konkret seitens der Anbieter und Organisationen im stationären Bereich dieser Branche zu tun ist, welchen risikospezifischen Themen, Aufgaben und Herausforderungen sie sich gegenübersehen, zeigen die fach- und sachspezifischen Beiträge in diesem Buch auf.
Zuvor möchte der Herausgeber grundlegende Aspekte und allgemeine Zusammenhänge im Hinblick auf das Thema Risikomanagement beleuchten und einige Instrumente vorstellen, die seiner Meinung nach bei der praktischen Umsetzung hilfreich und nützlich sein können.
Der Risiko-Begriff und alle aus ihm abgeleiteten bzw. ihn beinhaltenden Derivate und Komposita wie riskant, Risikomanagement oder Risikopotenzial werden gegenwärtig auffällig häufig verwendet.
Dies mag zum einen an der Flut und Dramatik der weltweiten Berichterstattung liegen, die uns tagtäglich mit verheerenden, folgenschweren Katastrophen und Tragödien konfrontiert und die stets mit der Frage verbunden ist, ob und warum die Eintrittswahrscheinlichkeit derartiger Ereignisse nicht im Vorfeld hätte bekannt sein müssen bzw. nicht erkannt oder unterschätzt worden ist.
Es mag zum anderen darin begründet sein, dass eigens für das Risikomanagement entwickelte Rahmenkonzepte, Standards, Normen und Gesetze zu einer in Fachkreisen intensiv und engagiert geführten Debatte über und zur Beschäftigung mit dem Risikomanagement geführt haben. Als Beispiele für Regelwerke, Konzepte und Gesetze seien hier die E DIN ISO 31000 : 2011, die österreichische ON-Regel 49000, das COSO Enterprise Risk Management Framework (COSO-ERM), die DIN EN 15224, eine QM-Norm für die Gesundheitsversorgung sowie das Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) angeführt.
Aber kommt es denn nicht – so mag man einwenden – einer Dramatisierung und Begriffsverzerrung, zumindest aber einer Bedeutungsverengung gleich, wenn man den Risiko-Begriff ausschließlich negativ deutet und ihn einseitig mit Aspekten der Bedrohlichkeit in Verbindung bringt?
Vielleicht ist es eine Frage der eigenen Erfahrungen, die jemand in seinem bisherigen Leben gemacht oder die es ihm »beschert« hat, vielleicht auch eine Frage der Epoche oder Kultur, in die man hineingeboren wurde, die Frage nämlich, ob ein Mensch Risiken eher scheut und meidet oder ob sie ihn eher anziehen und er sie regelrecht sucht, weil sie irgendetwas Attraktives für ihn besitzen, sie ihm den »Kick« geben, den er »einfach braucht« und die ihn in gewisser Weise vitalisieren. Entdecker wie Roald Amundsen, Extremsportler wie Reinhold Messner und Hasardeure wie Felix Baumgartner mit seinem waghalsigen Sprung aus 39 km Höhe scheinen Menschen von diesem Schlag zu sein.
Der Slogan »No risk no fun« ist heutzutage in aller Munde, und schließlich: Erfährt und erlebt nicht gerade derjenige, der alles abzusichern bestrebt ist, dem nichts wichtiger ist als Gewissheit und der sich auf keine Unternehmung »ohne Netz und doppelten Boden« einzulassen wagt, immer wieder Enttäuschungen und »böse Überraschungen«? Wird ihm nicht immer wieder durch die Realität das Faktum vor Augen geführt, dass bei aller Akribie, Genauigkeit und Verliebtheit ins Detail die absolute Beherrschung von Situationen, Prozessen und Vorhaben unter Ausschluss jeglichen Risikos eine fixe Idee, ein absurder Anspruch und ein Ding der Unmöglichkeit ist?
Sehen wir einmal ab von den Minoritäten, die sich, aus Ruhmsucht, Ehrgeiz oder durch blinkende Sponsorenköder verführt ins Abenteuer stürzen und lassen wir – das andere Extrem – auch diejenigen außer acht, die sich aus krankhafter Furcht und Sorge, aufgrund von Zwängen, Traumata oder Erziehungsfehlern einigeln, nahezu handlungsoder entschlussunfähig werden, weil bei ihren Vorhaben und Handlungen irgendetwas schief gehen oder Unvorhergesehenes passieren könnte. Es scheint ein ganz natürliches Verhalten, ein geradezu anthropologischer Wesenszug zu sein, dass wir unser Umfeld und unser momentanes wie zukünftiges Handeln (mit) zu beherrschen, zu beeinflussen, abzusichern und zu steuern ebenso bestrebt sind wie das, worauf wir uns einlassen, was mit uns geschieht und was man mit uns tut oder vorhat.
Wenn wir uns im Alltag Situationen, Herausforderungen und Entscheidungen gegenübersehen, die für uns schlecht einzuschätzen, nicht ausreichend kalkulierbar oder mit Unsicherheit und Unwägbarkeiten besetzt sind, bezeichnen wir diese häufig als riskant.
Bedingt durch eine ständig zunehmende Komplexität der Bezüge und Netzwerke, in die sowohl der Einzelne als auch Gruppen, Organisationen und sogar Staaten und Nationen eingebunden und verstrickt sind, scheint das Risiko im zuvor beschriebenen Sinne nicht nur ein individuelles, sondern ein gesamtgesellschaftliches, um nicht zu sagen ein globales Schicksal zu sein. So betrachtet ist es durchaus berechtigt, dass Ulrich Beck aus soziologischer Perspektive von der gegenwärtigen als einer »Risikogesellschaft« spricht. Er liegt wohl richtig mit seiner Behauptung, dass in einer technisch so hochkomplexen Welt Fehler, die zu Katastrophen führen, unausweichlich seien (»Logik der Risikoproduktion«; Beck 1986).
Des Weiteren darf nicht vergessen werden, dass Risikomanagement im Wirtschaftsleben, in Organisationen und Betrieben keine auf den Einzelfall bezogene und ins persönliche Belieben einzelner gestellte Angelegenheit ist, sondern eine verbindliche, im Falle von KonTraG sogar eine per Gesetz eingeforderte Pflichtaufgabe des/der jeweils Verantwortlichen gegenüber den Kunden und anderen Anspruchsgruppen der Unternehmung. Als Basis erfordert ein gelebtes und erfolgreiches Risikomanagement, wie Kempf und Romeike betonen, »eine entsprechende Unternehmens- bzw. Risikokultur« (Kempf; Romeike 2010: 178).
Schließlich sei in diesem Zusammenhang noch auf eine Anmerkung zur Risikodefinition nach DIN EN 15224, Kapitel 3, Abschnitt 5.15 verwiesen, in der es heißt: »Der Begriff Risiko wird allgemein nur benutzt, wenn zumindest die Möglichkeit negativer Konsequenzen besteht.« (Deutsches Institut für Normung 2012: 17)
Bevor wir uns nun dem eigentlichen Thema des vorliegenden Buches nähern und uns fragen, was es denn mit dem Risikomanagement auf sich hat und was genau dieser Begriff impliziert, sei hier noch ein kurzer Blick auf die Herkunft und Bedeutung des Risiko-Begriffs, auf seine Etymologie und Semantik geworfen.
Im 16. Jahrhundert wurde das Fremdwort Risiko als kaufmännischer Begriff aus dem italienischen risico, risco entlehnt, dessen weitere Herkunft unsicher ist. Aus dem Italienischen stammt auch das französische Wort risque (Gefahr, Wagnis). Aus dem davon abgeleiteten Verb risquer wurde im 17. Jahrhundert das deutsche riskieren übernommen, im 19. Jahrhundert riskant aus dem französischen risquant (Duden 2007: 677). Im Englischen ist der Begriff seit 1621 belegt (damals in der Schreibweise risque). Die Etymologie des Begriffs Risiko lässt sich möglicherweise bis zum altgriechischen rhiza (Wurzel; Klippe) zurückverfolgen. Dieses Wort findet sich zum ersten Mal in Homers Odyssee.
Diese knappe Skizzierung der Ursprünge und Entwicklungspfade des Risiko-Begriffs mögen genügen. Wer tiefer- und weitergehend an seiner Entstehung und Entwicklung interessiert ist, sei auf entsprechende Veröffentlichungen wie die von Jonen (Jonen 2007) verwiesen.
Gegenüber anderen Sparten wie der Luftfahrt oder der Atomindustrie entwickelten sich Interesse an und Einsicht in die Notwendigkeit der Implementierung von systematischem Risikomanagement im klinischen Bereich eher zögerlich.
Dies erscheint verwunderlich, geht es doch gerade in klinischen Kontexten in puncto Risikomanagement um existenziell wichtige Prozesse und Zusammenhänge wie Bewohner- und Patientenschutz/-sicherheit, Verantwortung gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht nur in ökonomisch-materieller, sondern auch in sozial-ethischer Hinsicht und last, not least auch um Loyalität und Sicherheit gegenüber (öffentlichen oder privaten) Kapitalgebern bzw. Investoren.
Insbesondere in der stationären Altenpflege entwickelt sich das Risikomanagement einstweilen noch sehr zäh und schleppend. Zwar haben die meisten Verantwortlichen die Notwendigkeit angemessener Regelungen, Vorkehrungen und Prophylaxen erkannt, von der Planung, Umsetzung, Steuerung und ständigen Verbesserung im Sinne eines Risikomanagementsystems kann jedoch nur in seltenen Fällen die Rede sein.
Risikodefinitionen
Nachdem die Begriffe Risiko und Risikomanagement zuvor wiederholt erwähnt wurden, sollen die beiden Termini nunmehr anhand von Definitionen und Analysen genauer bestimmt und untersucht werden. Als Risikodefinitionen seien hier drei Beispiele angeführt, die mit Blick auf den Gesundheits- bzw. Pflegebereich formuliert wurden (siehe dazu auch Zapp 2011:...