Risse im Fundament?
Eine Problemanzeige
Die allerletzte Wahrheit, worum es dem Katholizismus letztlich geht, ist ohne Zweifel die Fähigkeit zur Versöhnung
Pierre Bourdieu1
Die katholische Kirche ist zweitausend Jahre alt und bildet eine weltumspannende Institution mit weit über einer Milliarde Gläubigen. Ihre Präsenz auf den unterschiedlichen Kontinenten ist von unterschiedlicher Dichte, es gibt eine Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Positionen und vielfältige Spannungen und Herausforderungen, die von der jeweiligen Situation der kulturellen Großräume abhängen. Den schrumpfenden Kirchen Europas stehen junge, wachsende Kirchen in Afrika, Asien und in Teilen Lateinamerikas gegenüber. Während in Nordamerika und Europa viel Energie auf die Frage verwendet wird, wie die Sozialgestalt der Kirche verändert werden muss, damit sie im dritten Jahrtausend ihre prägende Kraft behalten kann, sind die Ortskirchen des Südens an dieser Art von Reformdebatten wenig interessiert. Die Bekämpfung von Armut und Korruption, der Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit, die vitale Bezeugung des Evangeliums, aber auch die Auseinandersetzung mit aggressiven Formen des Islam sowie der schnell anwachsenden Pfingstbewegung sind vorrangig.2
Dieser sporadische Hinweis auf die globale Situation kann helfen, die katholische Kirche von Österreich nicht mit dem Nabel der Weltkirche zu verwechseln. Dennoch wäre es falsch, durch diesen Hinweis die Debatte um die Kirchenreform abwiegeln zu wollen, denn viele Probleme der Kirche in Österreich sind zweifelsohne auch Probleme in anderen Regionen der Weltkirche, die sich der verschärften Wandlungsdynamik der Moderne ausgesetzt sehen. Der „Aufruf zum Ungehorsam“, den der Vorstand der österreichischen Pfarrerinitiative3 am Dreifaltigkeitssonntag 2011 lanciert hat, kann daher nicht als provinziell beiseitegeschoben werden. Im Zeitalter der globalen Vernetzung hat er längst ein Echo gefunden, das weit über die Grenzen der Alpenrepublik hinausgeht.4 Worum geht es?
Altbekannte Reformforderungen bestimmen erneut die Debatte. Gefordert werden Kommunionspendung für wiederverheiratet Geschiedene, nichtkatholische Christen und fallweise auch für Ausgetretene, die Erlaubnis der Laienpredigt, die Öffnung des priesterlichen Amtes für viri probati und Frauen. Neu ist, dass die Pfarrerinitiative diese Forderungen unter das provokante Vorzeichen des „Ungehorsams“ gestellt hat. Priester, die bei der Weihe öffentlich und freiwillig ihren Gehorsam gegenüber dem Bischof versprochen haben, glauben angesichts des Reformstaus in der Kirche nicht länger schweigen zu können. Schon länger gehen sie in der Pastoral eigene Wege, die in einzelnen Punkten von den Vorgaben der offiziellen Kirchenordnung abweichen. Diese Praxis des „Ungehorsams“, die bislang von der Kirchenleitung, so meinen sie, stillschweigend geduldet wurde, legen sie nun ausdrücklich offen. Sie verstehen dies als einen Akt der Aufrichtigkeit und tun dies unter Berufung auf ihren Gehorsam gegenüber Gott und das eigene Gewissen. Einspruch gegen die Bischöfe im Namen der Loyalität gegenüber dem Evangelium – es nimmt kaum Wunder, dass diese kühne Dissensbekundung die Medien mehr beschäftigt hat als die einzelnen Punkte des Reformkatalogs. Dies dürfte auch damit zusammenhängen, dass die Akteure des Vorstoßes diesmal nicht akademische Theologinnen und Theologen sind, die kirchliche Strukturdefizite einklagen und – wie im Falle des Memorandums 2011 – ihre Vision einer der Freiheitsbotschaft des Evangeliums verpflichteten Kirche publik machen. Es handelt sich vielmehr um pastoral engagierte und erfahrene Priester, die ihr Befremden über die „Reformverweigerung Roms“ und die „Untätigkeit“ ihrer Bischöfe zum Ausdruck bringen. Sie sehen sich inzwischen durch Meinungsumfragen bestätigt, allerdings entlasten auch Mehrheiten – wenn es denn wirklich Mehrheiten sind – nicht von der Verantwortung, durch den „Aufruf zum Ungehorsam“ erhebliche Irritationen zu verursachen. Die Frage steht im Raum, wie belastungsfähig das Verhältnis zwischen Pfarrerinitiative und Kirchenleitung5 ist, wie tief der Dissens wirklich reicht? Deutet er Risse im Fundament der Kirche an, die sich zu einer echten Spaltung auswachsen könnten?
In der öffentlichen Debatte um den Vorstoß der Pfarrerinitiative ist wiederholt vor einem Schisma gewarnt worden. Katholiken, die sich selbst als orthodox bezeichnen, forderten die Bischöfe dazu auf, die Spreu vom Weizen zu trennen und die rebellischen Pfarrer mit Sanktionen zu belegen. Man dürfe dem Ungehorsam keinen weiteren Spielraum gewähren und müsse umgehend disziplinarisch einschreiten.6 Kirchenrechtler erinnerten daran, dass der öffentliche Aufruf zum Ungehorsam die Strafe des Interdikts nach sich ziehe, und legten den Bischöfen indirekt juristische Maßnahmen nahe. Im kirchlichen Gesetzbuch, dem Codex iuris canonici von 1983, findet sich in der Tat ein Passus, der vorschreibt: „Wer öffentlich wegen irgendeiner Maßnahme der kirchlichen Gewalt oder eines kirchlichen Amtes Streit der Untergebenen hervorruft oder die Untergebenen zum Ungehorsam (ad inoboedientiam) aufruft, soll mit dem Interdikt oder anderen gerechten Strafen belegt werden“ (can. 1373). Das Interdikt verhängt eine Art Sakramenten- und Gottesdienstsperre. Es umfasst – nach can. 1332 – das Verbot, die Sakramente der Kirche zu spenden und zu empfangen sowie liturgische Dienste und Ämter auszuüben. Abgesehen von der juristischen Frage, ob der Aufruf der Pfarrerinitiative die Bedingungen für ein Interdikt wirklich erfüllt, kann die Anwendung disziplinarischer Mittel immer nur die ultima ratio sein, wenn alle Bemühungen um eine dialogische Konfliktbeilegung gescheitert sind. Den Bischöfen, die das II. Vatikanische Konzil als „sichtbares Prinzip und Fundament der Einheit in ihren Ortskirchen“ (LG 23) bezeichnet hat, kommt die Aufgabe zu, Gegensätze zu versöhnen und drohende Spaltungen abzuwenden.7 In diesem Sinne hat Kardinal Christoph Schönborn die Wiener Vorstandsmitglieder der Pfarrerinitiative aufgefordert, den Aufruf zum Ungehorsam zurückzunehmen und ihre Loyalität zum Bischof zu wahren. Zugleich hat er für den Weg der Reform geworben, der in der Erzdiözese Wien unter dem Titel „Apostelgeschichte 2010“ begonnen wurde und der ein neues Zueinander von Priestern und Laien in der Kirche vorsieht.
Die Situation ist dennoch alles andere als harmlos. Schon gibt es Gruppierungen, die sich im Windschatten des „Aufrufs zum Ungehorsam“ öffentlich dazu bekannt haben, seit Jahren priesterlose Gottesdienste zu feiern. Die ZEIT spricht von „Renegaten“, die „illegale Messen“ feiern.8 Die Mitbegründerin des Kirchenvolksbegehrens „Wir sind Kirche“, Martha Heizer, rechtfertigt ihr Tun mit dem Hinweis auf eine anhaltende Dialogverweigerung der Kirchenleitung. Der Dissens paart sich hier mit Ungeduld und unverhohlener Dreistigkeit. Er wird zum subversiven Akt, der die sakramentale Grundstruktur der Kirche untergräbt. Gerade die Eucharistiefeier ist ja, wie die Liturgiekonstitution des II. Vatikanischen Konzils sagt, „Quelle und Höhepunkt des kirchlichen Lebens“ (SC 11, vgl. LG 11). In ihr wird die Communio mit Jesus Christus und die Gemeinschaft der Gläubigen untereinander vollzogen. Die Eucharistie ist überdies eine Gabe, die sich niemand selbst geben kann, die Feier der Sakramente ist gebunden an einen ordinierten Spender, der bei den gottesdienstlichen Handlungen die Intention der Kirche berücksichtigen muss, wenn das Sakrament gültig zustande kommen soll. Er hat sich seine Vollmacht ebenfalls nicht selbst gegeben, diese ist ihm vielmehr bei der Weiheliturgie durch Handauflegung und Gebet sakramental übertragen worden. Im eucharistischen Hochgebet werden die Namen des Ortsbischofs und des Papstes als des Garanten der universalkirchlichen Einheit ausdrücklich genannt. Dadurch wird zum Ausdruck gebracht, dass die Gemeinde vor Ort keine autarke Zelle ist, sondern selbst in das Netz der über die ganze Welt verstreuten bischöflichen Ortskirchen hineingehört. Die Simulation einer Eucharistiefeier ohne Priester, die mit einer kalkulierten Kompetenzanmaßung der beteiligten Akteure verbunden ist, verletzt die sakramentale Grundstruktur der katholischen Kirche. Sollten solche Früchte des Ungehorsams Schule machen, wäre die Einheit der Kirche tatsächlich in Gefahr.
Doch bewegt sich die aktuelle Reformdebatte jenseits der genannten Extreme. Allen Gesprächsteilnehmern, sowohl den Bischöfen wie den Mitgliedern der Pfarrerinitiative und ihren Sympathisanten, geht es um die Zukunft der Kirche. Keine Seite sollte der anderen das sentire cum ecclesia grundsätzlich absprechen. Es besteht Einigkeit darin, dass der aktuelle Zustand der Kirche kritisch ist und Reformen dringend notwendig sind. Strittig ist allein der Weg, der aus der Krise herausführen soll. Während die Pfarrerinitiative vor allem Strukturdefizite diagnostiziert und für entsprechende Änderungen eintritt, setzt ein Großteil der österreichischen Bischöfe auf einen anderen Weg der Reform, der der verschärften Glaubenskrise durch den Aufbau einer glaubensstarken Kirche in der Gesellschaft entgegenwirken will. Anhaltende Kirchenaustritte, Gläubigenschwund und Priestermangel, rückläufige Finanzmittel sprechen eine deutliche Sprache.
Kann man vor diesem Hintergrund am tradierten territorialen Pfarrprinzip festhalten? Lenkt die Pfarrerinitiative, die sich als pastorale Avantgarde versteht, den Blick nicht eher zurück, wenn sie die bestehenden Pfarreien um...