Die Sarrazinfalle
Eins muss man Thilo Sarrazin lassen: Er hat wenigstens etwas Bewegung in die eingeschlafene und langweilige Integrationsdebatte gebracht. Ob nun von ihm beabsichtigt oder nicht, wird heute kontroverser denn je über dieses Thema diskutiert. Natürlich war es für einige Akteure eine gute Gelegenheit, sich mit ihrer Kritik an Sarrazin moralisch zu erhöhen. Frei nach dem Motto: Sarrazin ist böse, also bin ich gut. Im Grunde genommen hatten diese selbsternannten Verteidiger von Multikulti auf einen Prügelknaben gewartet, um in den Fokus der Medien kommen, um sich selbst zu profilieren. Die zum großen Teil nachvollziehbaren Reaktionen waren leider fast ausschließlich emotionaler und reflexhafter Natur. Mit einer kritischen, inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Buch hatte dies oft nicht viel zu tun. Immer wieder tauchte der Vorwurf auf, Sarrazin sei ein Rassist. Ich denke, da machen es sich die Damen und Herren zu einfach. Sarrazin als Rassisten zu bezeichnen ist schlechthin eine Verharmlosung des Rassismus. Beschämend ist es darüber hinaus, dass diese Beschimpfungen gerade von denjenigen stammen, die das Buch gar nicht gelesen haben. Nein, ich nehme Sarrazin nicht in Schutz, ich finde die Art und Weise gefährlich, wie mit jemandem umgegangen wird, der eine seltsame Position vertritt. Auch ich bin mit vielen Dingen, die er im Laufe der Medienhysterie von sich gegeben hat, nicht einverstanden.
Das, was Sarrazin und Konsorten nicht wahrhaben wollen, ist ein unvermeidlicher Prozess. Jede Gesellschaft ist ständig im Wandel. In den letzten 50 Jahren hat sich die deutsche Gesellschaft nicht nur aufgrund der Gastarbeiter, sondern auch aus anderen Gründen stark verändert. Man mag das nun gut finden oder nicht. Seit Jahren wird – auch schon vor Sarrazin – immer wieder über die angeblichen oder tatsächlichen Identitätskonflikte der Nachfahren der ersten Gastarbeitergeneration gesprochen. Die Sarrazin-Debatte macht einmal mehr deutlich, dass auch viele „deutsche“ Deutsche aus einem Identitätskonflikt heraus agieren. Ja, wir in Deutschland haben ein Integrationsproblem. Dieses Problem besteht aber auch mit denjenigen Parallelgesellschaften, in denen Sarrazin und Konsorten verkehren. Solange die erste Gastarbeitergeneration brav ihre Arbeit gemacht hat und in der Öffentlichkeit nicht weiter aufgefallen ist, war alles in Ordnung. Als die nachfolgenden Generationen, hier geboren und aufgewachsen, Deutschland als ihre Heimat betrachtete, wurde das Klima rauer. Viele von ihnen bewegen sich selbstbewusst und sichtbar immer mehr in die Mitte der Gesellschaft. Aufgrund dieses neuen Selbstbewusstseins entsteht in einigen anderen Teilen der Bevölkerung Unsicherheit. Man ist sich seiner eigenen „deutschen“ Identität nicht mehr sicher, Deutschland scheint sich abzuschaffen. Sarrazin spricht diesen Menschen aus der Seele. Doch besser eine wirkliche Debatte als kuscheliges Multikulti-Gerede. Also los:
Vertreter einer unbarmherzigen Bürgerlichkeit
Sarrazin versteht sich als ein Vertreter einer neuen Bürgerlichkeit der Eigenverantwortung, der Leistungsbewussten. Die Vertreter dieser neuen Bürgerlichkeit finden es verantwortungslos, Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe zu beziehen, auf Kosten anderer zu leben. Denn wer will, der angeblich kann. Sie sehen nicht, dass der Markt für viele gar keine Vollbeschäftigung mehr ermöglicht mit gerechten Löhnen entsprechend der geleisteten Arbeit. Sie halten jeden, der „freigesetzt“ wurde oder nicht bereit ist, sich zu Billigstlöhnen zu verkaufen, für einen Faulpelz und Sozialschädling, eben für einen Schmarotzer. Außerdem kränkt jeder Hartz IV-Empfänger solche Leute ästhetisch. Er verschmutzt den öffentlichen Raum durch seine bloße Anwesenheit.
Deswegen wird ja schon längst gefordert Hartz IV zu kürzen, wenn dessen Empfänger rauchen und Bier oder billigen Rotwein trinken. Denn Unbeschäftige sitzen auf Parkbänken, rauchen, trinken Bier oder knabbern am Döner. Sie pissen gegen Bäume oder sind zu laut beim Tischtennisspiel und erschrecken damit die Kinder der Besserverdienenden. Deren Mütter werfen schmutzige Windeln ins Gebüsch und halten ihre Kleinkinder zum Scheißen und Pissen über die Büsche. Und selbstverständlich gehen auch die Besserverdienenden in den Park zum Picknick und hinterlassen gerne den Abfall anderen. Sie mögen das Prekariat nicht, verhalten sich oft aber gar nicht grundsätzlich anders.
Zum Prekariat gehören viele, die schon seit Generationen Deutsche sind, dazu gehören die vier Millionen Analphabeten oder die Schüler ohne Abschluss. Diese Missstände haben nichts mit der Religion zu tun. Die ausgesiedelten Russlanddeutschen, von denen viele ins Prekariat abgedrängt wurden, sind Christen, orientierungslos, aber keine Muslime. Der Islam ist nur ein Vorwand. Sarrazin und seine Anhänger halten ja jede Religion für Aberglauben und Aberglauben für schädlich in einer aufgeklärten Gesellschaft. Das religiöse Etikett soll davon ablenken, dass es um eine soziale und politische Angelegenheit geht, um eine kulturelle sofern es die Bildung und Ausbildung anbelangt.
Darin liegt unter anderem die polemische und törichte Verengung Sarrazins. Das Problem sind die Arbeitslosen, die Bildungsfernen, die alt gewordenen Hoffnungslosen, die aus der Gesellschaft Ausgegliederten, für die die sogenannten neuen Bürgerlichen nicht weiter zahlen wollen. Das eigentliche Problem ist eines der sozialen Verantwortungslosigkeit und egoistischen Verwilderung der Besserverdienenden. Früher ließ sich die bürgerliche Mitte durchaus vom christlichen Gebot lenken, dem Nächsten zu helfen. Dafür gab es einmal die katholische Soziallehre. Der Rückzug der Kirche ins Private und ihre weitgehende öffentliche Sprachlosigkeit lässt eine Lücke, die umgekehrt veranschaulicht, wie sehr sozialpolitische Forderungen durch religiöse erfolgreich ergänzt werden könnten.
Völlig absurd ist es, wenn Sarrazin nicht erkennen will, wie viele ehemalige Türken – obschon Muslime – in der deutschen Mittelschicht angekommen sind. Hier gibt es durchaus Parallelen zum Antisemitismusstreit nach 1876. Damals hieß es, die Ostjuden, die Einwanderer, ließen sich nicht integrieren oder assimilieren. Auch damals wurde ein rein soziales Problem zum religiösen umfunktioniert, zur Judenfrage in einer christlichen Gesellschaft, die es so schon gar nicht mehr gab. Alle, auch diejenigen, die sich auf die Seite der deutschen Juden stellten, waren sich darin einig, diese müssten Deutsche werden, was hieß, ihre Religion aufgeben.
Das will Sarrazin so nicht sagen und überhaupt kein deutscher Politiker oder Gesellschaftwissenschaftler. Schwer zu sagen, wie fromm oder nur religiös die Muslime sind. Eines ist aber sicher und von Religionssoziologen belegt: Der Verlust des Glaubens beschleunigt gerade in den ohnehin bedrängten Unterschichten das Abdriften ins Asoziale. In diesem Sinn kann jede Religion, weil sie Halt gewährt, tatsächlich sozial sehr vorteilhaft wirken.
Es geht im Grunde darum, die Kraft der Religion wieder zu erkennen und anzuerkennen, wie sehr sie gerade in säkularistischen Zeiten und unter sich laufend verändernden Verhältnissen gebraucht wird. Nicht der Islam oder terroristische Islamisten gefährden uns, das tun unkontrolliert spielende Finanziers, Wettbewerbsideologen, auf ihren Vorteil bedachte Gewinnsüchtige, die jedenfalls auf ihre abenteuerliche Rendite spekulieren und das Gemeinwohl für eine romantische Idee halten.
Untergang des Abendlandes?
Thilo Sarrazin schürt mit seinem Buch und seinen Äußerungen in der Öffentlichkeit die Angst vor dem Untergang des Abendlandes. Er sieht in bildungsfernen Schichten eine Bedrohung unseres Gemeinwesens. Sein biopolitisches Bedrohungsszenario ist einfach gestrickt und deswegen wohl auch so beliebt: Diese bildungsferne Unterschicht werde eines Tage aufmucken und das Land übernehmen. Eine „naive Migrationspolitik“ habe Deutschland in diese Lage gebracht, meint Sarrazin. Die europäischen Nationalstaaten, so könnte man es zusammenfassen, haben demnach die alte romantische Identität von Territorium und Rasse verloren. Als Sündenbock wird diesmal statt des „Ausländers“ der „Muslim“ auserkoren. Der Volkszorn zielt auf die Muslime statt auf die Finanzjongleure und ihre Parallelgesellschaften, die für die eigentlich brennenden Probleme unserer Zeit verantwortlich sind.
Sarrazins Erfolg zeigt aber immerhin an, dass zahlreiche Menschen in Deutschland sich um ihre Zukunft ängstigen. Es könnte eine Chance sein, wenn bestimmte Vorbehalte und Ängste in der Bevölkerung angesprochen werden. Das ist deutlich weniger schlimm, als diese unter den Teppich zu kehren. Und Sarrazin mag ein Brandstifter sein, ein Rassist oder Rechtsradikaler ist das langjährige SPD-Mitglied nicht. Das würde eine Verharmlosung der Rassisten bei der NPD und anderswo bedeuten. In seiner öffentlichen Buchpräsentation in Potsdam bemerkte denn auch Sarrazin selbst verwundert, dass die Hunderte Seiten, auf denen er die Deutschen kritisiert habe, kaum polarisierten, seine Passagen über die Integration aber inzwischen eine heftige Kulturdebatte ausgelöst hätten. Man hätte sich gerade von der Heerschar der Berufsmigranten, die sich in der Öffentlichkeit als Anti-Sarrazine erfolgreich in Szene gesetzt haben, erwarten dürfen, dass sie – trotz der waghalsigen Aussagen, die sich Sarrazin erlaubt hat – etwas besonnener und...