Das Interview
Um Daten und Informationen über Familien zu erheben, habe ich zwei unterschiedliche Zugangsformen gewählt. Zunächst habe ich Untersuchungen über Familien ausgewertet und dabei Publikationen aus Deutschland und den Herkunftsländern (vor allem der Türkei) berücksichtigt. Da es mein Anliegen war, die Migranten selbst zu Wort kommen zu lassen, habe ich als Methode das Interview (mit Tonbandaufzeichnung) gewählt, in dem die befragten Personen und Familien Schwerpunkte setzen konnten. Denn das Interview ist die sicherste Methode, um detaillierte und tiefgehende Informationen zu bekommen. Für dieses Buch habe ich die mündliche Befragung gewählt, weil viele der Befragten keine höhere Schulbildung haben und somit Fragebögen möglicherweise nicht korrekt ausfüllen können.
Im Vorfeld der Interviews habe ich die Migrantenfamilien beobachtet. In einem zweiten Schritt habe ich versucht, über eine Analyse der Situation die hypothetisch wichtigen Elemente herauszufiltern, indem ich mich mit dieser Situation auseinandergesetzt und die Reaktionen der Beobachteten ermittelt habe. Anschließend habe ich einen Interviewfragebogen entwickelt, der die relevanten Themen sowie die für die Situation wichtigen Aspekte und Elemente enthält. Das Hauptziel des Interviews ist es, die subjektiven Erfahrungswerte der Befragten in der zuvor erlebten und von mir analysierten Situation zu erfassen.
Im Rahmen eines Interviews, das auf Tonband aufgezeichnet wird, ist es oft schwierig, den Kontakt zu den Interviewpartnern herzustellen. Um ein vertrauensvolles und offenes Gespräch zu gewährleisten, habe ich mit den Interviewpartnern oder Vertrauenspersonen mehrere Vorgespräche geführt und dabei den Gegenstand des Interviews konkret und deutlich dargelegt. Ich habe mich im Fach- und Kollegenkreis erkundigt, um geeignete Familien zu finden. Die Interviewpartner sollten die gesamte Bandbreite abdecken, weshalb ich mit türkischen bzw. arabischen Migranten der ersten, zweiten und dritten Generation Interviews durchgeführt habe, um festzustellen, welche Erfahrungen sie in Deutschland gemacht haben. Für dieses Buch habe ich in München, Berlin und Dortmund mit 22 Familien insgesamt 28 Interviews (18 Einzel- und zehn Gruppeninterviews) mit 61 Personen zwischen 14 und 69 Jahren durchgeführt.
Jedes Interview dauerte zwischen 45 und 90 Minuten – einige Gruppeninterviews über zwei Stunden – und wurde in der Regel in deutscher Sprache geführt. Den Interviewten wurde angeboten, notfalls auch türkische Ausdrücke zu verwenden; einige haben dieses Angebot angenommen. Arabische Ausdrücke wurden von einem fachkundigen Doktoranden übersetzt. Dass die Interviews überwiegend auf Deutsch geführt wurden, liegt daran, dass viele Gesprächspartner die deutsche Sprache besser beherrschen als die türkische oder arabische. Außerdem konnte ich so auf eine Übersetzung verzichten, bei der möglicherweise Bedeutungsnuancen verloren gegangen wären. Nach den Interviews wurde jedes Mal intensiv diskutiert.
Die 61 Interviewteilnehmerinnen und -teilnehmer – 32 Männer und 29 Frauen – gehören der ersten, zweiten und dritten Migrantengeneration an. Elf der 61 Interviewpartner besitzen zwar einen türkischen, arabischen bzw. deutschen Pass, geben aber an, Kurden zu sein. 21 Interviewpartner stammen aus arabischen Ländern, wie Irak, Libanon oder Syrien, die restlichen vierzig Interviewpartner kommen aus der Türkei. Zehn Befragte gaben an, Muslime schiitischen Glaubens zu sein, vierzehn waren Aleviten und 37 Sunniten. Der Altersdurchschnitt beträgt 33,6 Jahre. Knapp zwei Drittel der Befragten (39) sind in Deutschland geboren und aufgewachsen. Bei den nicht in Deutschland geborenen Interviewpartnern beträgt die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in Deutschland 14,9 Jahre, wobei betont werden muss, dass vier Interviewpartner seit weniger als fünf Jahren in Deutschland leben. Knapp ein Drittel der befragten Personen sind im Besitz eines deutschen Passes. Insgesamt kann der Aufenthaltsstatus der Befragten als sehr sicher bezeichnet werden. Zum Zeitpunkt der Befragung waren acht der Befragten Hausfrauen, sechs arbeitslos, neunzehn Schüler/Student, neun Angestellte bzw. Beamte, sechs selbstständig, fünfzehn Arbeiter, vier befanden sich im Ruhestand. Sechzehn Befragte, die sich nicht in Ausbildung befanden, haben eine abgeschlossene Berufsausbildung. Ursprünglich stammen die meisten aus den ärmeren, ländlich geprägten Gebieten der Türkei, Syriens, des Irak oder Libanon.
Konservativ-autoritäre Familien
Bei den konservativ-autoritären Familien stehen die traditionellen Werte und Normen im Mittelpunkt, die die Eltern aus ihrem traditionellen Kontext adaptiert haben und an ihre Kinder weitervermitteln. Es herrscht eine geschlechtsspezifische Erziehung vor, bei der die formale Bildung der Mädchen als unwichtig erachtet wird. Um die Tradition zu bewahren, werden Ehepartner aus der eigenen Ethnie bevorzugt, auch aus den Herkunftsländern. In der Regel haben die Eltern in Deutschland keine Berufsausbildung und sind als Arbeiter oder Hilfsarbeiter tätig. Die Herkunftsorte dieser Familien sind meist kleinere Kreisstädte oder Dörfer, in denen die Tradition bis heute ein wichtiger Bestandteil des innerfamiliären Zusammenlebens ist. Darüber hinaus sind diese Familien kinderreich, d. h., es gibt oft mehr als drei Kinder. Bei der ersten Generation kann von einer überwiegend ländlich-dörflichen Sozialisation ausgegangen werden, die auf die Folgegenerationen übertragen werden soll. Das Bildungsniveau und die Deutschkenntnisse der Eltern und Kinder sind als gering zu veranschlagen. Einbürgerungen werden selten vollzogen.
Leistungsorientierte Familien
Familien dieses Typs legen großen Wert auf die Bildung und Berufsausbildung. Werte und Normen sowie religiöse Einstellungen werden dem Studium oder der Berufsausbildung untergeordnet. Der Erziehungsstil kann als autoritär bezeichnet werden, die Eltern haben hohe Erwartungen an ihre Kinder. Diese richten sich an beide Geschlechter, auf geschlechtsspezifische Erziehung wird verzichtet. Während das formale Bildungsniveau der Eltern als gering oder mittel eingestuft werden kann, sind bei den Kindern in der Regel hohe Abschlüsse (Abitur oder Hochschulabschluss) zu beobachten. Diese Diskrepanz im Bildungsniveau lässt sich damit begründen, dass die Eltern über die Schul- und Berufsausbildung der Kinder ihr eigenes Bedürfnis nach sozialem Aufstieg und gesellschaftlichem Ansehen zu realisieren versuchen. Auch bei den Deutschkenntnissen gibt es in den Familien sehr große Unterschiede. In vielen Fällen fungieren die Kinder als Dolmetscher oder Übersetzer für ihre Eltern. Ehepartner werden nicht nach Ethnie und Religion gewählt, sondern nach Bildung und Bildungsniveau.
Moderne Familien
Bei den modernen Familien sind beide Elternteile gleichermaßen an der Erziehung der Kinder beteiligt und haben das gleiche Mitspracherecht innerhalb der Familie. Wenn es um erzieherische Fragen geht oder darum, welche Schule das Kind besuchen soll, entscheiden beide Elternteile gemeinsam mit dem Kind, das letzte Wort wird also nicht vom Vater gesprochen, sondern es wird im familiären Konsens entschieden. Die klassischen Geschlechter- und Erziehungsrollen sind hier aufgebrochen, Mädchen und Jungen werden die gleichen Rechte und Pflichten eingeräumt. Das Bildungsniveau der Eltern und Kinder ist bei diesem Familientyp sehr hoch. Die Familienmitglieder der modernen Familien sind in der Regel eingebürgert. Die Familien haben meistens ein bis zwei Kinder. Sowohl die Mütter als auch die Väter haben ein Hochschulstudium bzw. das Abitur. Voreheliche Partnerschaften kommen unter bestimmten Bedingungen vor, Ehepartner...