Einführung
Das Filmfestival in Cannes gehört zu den renommiertesten und wichtigsten Kulturereignissen des Jahres. Auch im Frühjahr 2012 richtet sich die Aufmerksamkeit der Filmliebhaber weltweit auf das ehemalige Fischerdorf an der französischen Mittelmeerküste.
An einem Freitagabend dringt vor dem berühmten Palais des Festivals eine getragene Melodie durch die schwüle Luft, die dreißig Jahre zuvor für einen Film über Hunger, Sehnsucht, Unschuld, Gewalt, Verbrechen, Betrug und die Macht der Erinnerungen geschrieben wurde.
Es war einmal in Amerika ist ein Epos – sowohl was seine Entstehungsgeschichte angeht (es dauerte zwölf Jahre, das Skript zu schreiben, und die Dreharbeiten zogen sich über elf Monate hin), als auch was die Vision des Regisseurs betrifft. Sergio Leones Lieblingsversion war fast viereinhalb Stunden lang. Der Film hatte 1984 mit einer leicht gekürzten Fassung in Cannes Premiere und verzückte das Publikum – ein Gast erinnerte sich an fünfzehnminütige Standing Ovations. Aber das Schicksal, das den Film nach dem Festival ereilte, war ebenso legendär wie katastrophal. Die Verleiher zerhackten den Film auf die halbe Länge und verliehen der Erzählung eine andere Struktur, was fast zwangsläufig zu negativen Kritiken und lauen Verkaufszahlen führte. Leone geriet schnell in Vergessenheit und starb fünf Jahre später, ohne noch einen einzigen Film gemacht zu haben.
Mit der Zeit jedoch kam der Film zu Ehren – was zum einen daran lag, dass sein Regisseur posthum Ruhm erlangte, zum anderen wurden immer neue Versionen veröffentlicht, die sich Schritt für Schritt dem Originalschnitt annäherten. Darüber hinaus bewerteten einige seiner Verfechter ihn als Meilenstein seines Genres, als Inbegriff des amerikanischen Gangsterfilms.
Und so wird an diesem Abend im Mai 2012, achtundzwanzig Jahre nach seiner Premiere, eine restaurierte Version von Es war einmal in Amerika in just dem Filmtheater in Cannes gezeigt, wo die Erstaufführung stattgefunden hatte – der Film dauerte fünfundzwanzig Minuten länger als beim ersten Mal. Es ist in Cannes ein Anlass wie jeder andere für eine typische Luxusgala.
In der einsetzenden Dämmerung betritt der Star des Films, Robert De Niro, den legendären roten Teppich, während aus den Lautsprechern Ennio Morricones opulente und gespenstische Filmmusik ertönt.
De Niro hat guten Grund, sentimental zu sein. Bereits achtmal war er in Cannes zu Gast, zweimal gewann er hier den Hauptpreis, und erst im Jahr zuvor stand er der Jury vor. Sein Leben lang hat er diesen Ort in verschiedenen Funktionen besucht.
Sicherlich ist es ebenfalls aufwühlend, dass Leone nicht hier ist, dass De Niro die anderen Stars wiedertrifft, von denen er manche seit dem Dreh nicht mehr gesehen hat, und vor allem die Tatsache, sein jüngeres Ich auf der Leinwand zu betrachten.
Jedoch hat De Niro all das schon viele Male zuvor erlebt, und man sagt ihm nach, bei solchen Gelegenheiten stets eine unergründliche und stoische Miene zur Schau zu tragen und abgeklärt, ja desinteressiert zu wirken.
Aber irgendetwas setzt ihm an diesem Abend zu, Gefühle, die er normalerweise nur in dem engen Rahmen einer Filmrolle oder in den verborgenen Gemächern seines Privatlebens enthüllt. Während er die Stufen hinaufsteigt, kommen ihm die Tränen. Später sind Fotos im Umlauf, die ihn neben seiner Frau im Smoking zeigen, wie er beim Versuch, seine Gefühle im Zaum zu halten, die Zähne zusammenbeißt.
Vielleicht liegt es an der Musik, über den traurigen Streicherklängen ist Gheorghe Zamfirs liebliche und melancholische Panflöte arrangiert.
Vielleicht liegt es aber auch am Wetter: Es ist schwül, feucht, diesig.
Oder vielleicht ist es auch das Bewusstsein, dass die Chance, einen Film wie Es war einmal in Amerika zu machen, so ausgesprochen selten ist und nicht wiederkommt, das Bewusstsein, dass Filme, wie das Leben, an uns vorbeiziehen können.
Solche Gedanken und Gefühle passen nur zu gut zu den reumütigen Motiven in Leones Film, dessen Geschichte unter einem schlechten Stern stand.
Aber darüber hinaus ist es auch ein passender Ausgangspunkt für die Betrachtung des Lebens und Werks von Robert De Niro.
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Als er begann, Es war einmal in Amerika zu drehen, war Robert De Niro fast unbestritten der beeindruckendste und unwiderstehlichste Filmschauspieler weltweit. Das ist eine kühne Behauptung angesichts damals noch aufstrebender Titanen der Leinwand wie Al Pacino, Dustin Hoffman, Jack Nicholson, Jon Voight, Robert Duvall und Gérard Depardieu und alter noch aktiver Meister wie Jack Lemmon, Paul Newman, Max von Sydow, Peter O’Toole, Michael Caine, Marcello Mastroianni oder gar Laurence Olivier (wenn er denn dazu geneigt war, einen Film zu machen) oder Marlon Brando.
Aber der Robert De Niro des Jahres 1982 hob sich sogar von solchen vielversprechenden oder arrivierten Kollegen ab.
Im Frühling 1981 hatte er innerhalb von sechs Jahren seinen zweiten Oscar für seine Rolle in Wie ein wilder Stier gewonnen. Seine schauspielerische Leistung wurde umgehend als eine der größten, die jemals auf Film gebannt worden war, erkannt – basierend auf einer erstaunlichen physischen Verwandlung und starker Emotionen. In den 1970er Jahren hatte er sich schnell vom Darsteller in fragwürdigen Independentfilmen zum Star in solchen Meilensteinen wie Hexenkessel, Der Pate – Teil II, Taxi Driver, 1900 und Die durch die Hölle gehen entwickelt. (Seinen ersten Oscar bekam er für Der Pate, in dem er fast ausschließlich mit einem sizilianischen Akzent spricht, den er sich extra für den Film angeeignet hatte.) Er arbeitete mit den besten jungen Regisseuren aus Hollywood: Brian De Palma, Francis Ford Coppola, Michael Cimino und besonders Martin Scorsese, mit dem er in zehn Jahren fünf Filme drehte; ebenso gehörten Bernardo Bertolucci und Elia Kazan dazu. Zu seinen beiden Academy Awards kamen zwei Nominierungen hinzu, vier Nominierungen der British Academy of Film and Television Arts (BAFTA) und insgesamt sieben Preise von den wichtigsten amerikanischen Kritikerverbänden.
Seine Wandlungsfähigkeit ist legendär, und er war bereit, große Risiken einzugehen, indem er sich in seine Rollen derart einarbeitete, wie es zuvor kein Schauspieler aus der Schule des Method Acting getan hatte. Und immer ging er daraus stärker, mutiger, besser hervor. Er hatte eine übernatürliche, geheimnisvolle Aura und vermittelte ein Gefühl von Gefahr, Poesie, Sex, Einsamkeit, Wagnis, Intensität, Überraschung und Nervenkitzel. Er war ein so aufregender Filmschauspieler, wie es seit der Blütezeit von Brando und James Dean keinen mehr gegeben hatte. Sein Name auf der Kinotafel wirkte wie ein Magnet. Und im Alter von achtunddreißig Jahren fing er überhaupt erst richtig an.
Doch manchmal fällt es dreißig Jahre später schwer, den anfänglichen Ruhm von De Niro zu erkennen angesichts des Wirrwarrs seiner späteren Karriere.
Die Veränderung ging schleichend vonstatten. Nach Es war einmal in Amerika trat er über ein Jahrzehnt lang in anspruchsvollen Filmen mit namhaften Kollegen auf: Brazil, Mission, Angel Heart, The Untouchables – Die Unbestechlichen, Midnight Run – Fünf Tage bis Mitternacht, Wir sind keine Engel, Sein Name ist Mad Dog, Heat, Wag the Dog – Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt, Jackie Brown, Ronin. Mit Martin Scorsese drehte er drei weitere Filme: Good Fellas – Drei Jahrzehnte in der Mafia, Kap der Angst und Casino. Darüber hinaus debütierte er mit einem einfühlsamen und anrührenden Film, In den Straßen der Bronx, als Regisseur. Mit der Zeit nahm De Niro dann immer kleinere Rollen an und arbeitete in Nebenrollen und hatte Cameo-Auftritte, anstatt tragende Rollen zu übernehmen. Doch immer wurde er von seinen Kollegen respektiert und für Oscars für Zeit des Erwachens und Kap der Angst nominiert. Und er blieb der Schauspieler, der in den amerikanischen Kinos am häufigsten gesehen, imitiert und am meisten respektiert wurde.
Jedoch spielte er in keinem weiteren Kinohit mit, bis 1999 die Komödie Reine Nervensache in die Kinos kam. Es sollte der erste Film seiner Karriere werden, der mehr als 100 Millionen Dollar einspielte. (Zum Vergleich: Arnold Schwarzenegger und John Travolta sowie vielleicht passender Dustin Hoffman und Jack Nicholson hatten bis zu diesem Zeitpunkt jeder schon das Fünffache erzielt.) Es war ein intelligenter Film, der sich De Niros Aura des harten Burschen zunutze machte und ihm die Chance gab, sein Talent für Komik zu zeigen, das er seit den 1960er Jahren wohl hatte, aber immer hinter der ernsten Method-Acting-Fassade verbarg. Im folgenden Jahr trat De Niro in Meine Braut, ihr Vater und ich auf, eine Komödie, die weder so klug wie Reine Nervensache noch so sorgfältig um seine filmische Figur herum gebaut war: Natürlich wurde es ein noch größerer Kinohit. Und er präsentierte De Niro auf neue Weise, sowohl für die Zuschauer als auch für die Filmemacher, die sein Image in der Öffentlichkeit trüben und die Bedeutung seines Vermächtnisses in Frage stellen sollte.
Es folgten zwei Fortsetzungen von Meine Braut, ihr Vater und ich. Diese Trilogie spielte weltweit...