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E-Book

Roger Bacon - Lehrer der Anschaulichkeit

AutorMara Huber
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl112 Seiten
ISBN9783640253951
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Doktorarbeit / Dissertation aus dem Jahr 1984 im Fachbereich Philosophie - Philosophie des Mittelalters (ca. 500-1300), Note: magna cum laude, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, 207 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Roger Bacons Philosophie wurde zu seinen Lebzeiten wie in der Forschung bis heute häufig als 'unfranziskanisch' angesehen. Während ausgewogene Darstellungen selten blieben, machte die eine 'Schule' aus ihm das unerkannte, weil leider mittelalterliche und leider katholische Genie ihrer eigenen Vorstellung von 'moderner Wissenschaftlichkeit', die andere einen Querschläger und Wirrkopf. Auf diesem Stand blieb die Gesamteinschätzung Bacons, und in den letzten Jahrzehnten wurden nur noch Teil- und Randaspekte seiner Philosophie behandelt. In dieser Arbeit wird gezeigt, daß gerade der zentrale und spektakuläre Teil dieser Philosophie, die wissenschaftstheoretische Begründung des Experiments und ihre metaphysisch-epistemologischen Voraussetzungen, eine Ausprägung franziskanischer Geistigkeit ist - dabei wird auch zum erstenmal eine Deutung des neugefundenen Texts de signis vorgetragen. INHALTSVERZEICHNIS: I. DIE BEDEUTUNG DES EINZELNEN UND DIE FRANZISKANISCHE BEWEGUNG 1. Einzelnes und Allgemeines, ein Grundproblem der Philosophie 2. Der franziskanische 'Weg der Bejahung' - die Transzendenz im Einzelnen 3. Die Vermittlung der Idee Franz von Assisis: Anschaulichkeit 4. Von der Praxis der Anschaulichkeit zur Philosophie der Anschaulichkeit 5. Zwischen Anschaubarkeit und Verstehbarkeit - die Sprache der Bilder 6. Roger Bacon OFM - Transzendenz des Einzelnen in einer anschaulichen Philosophie II. DAS VERHÄLTNIS VON EINZELNEM UND ALLGEMEINEM BEI BACON 1. Das Sein der Einzeldinge und der Universalien 2. Das Einzelne und das Universale in der Erkenntnis III. BACONS THEORIE DER VERANSCHAULICHUNG 1. Zeichen 2. Die experimentelle Wissenschaft IV. EXKURS: Einzelnes und Universale bei Giotto V. AUSBLICK: Wissenschaft vor und nach Descartes VI. BIBLIOGRAPHIE Addenda

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II. DAS VERHÄLTNIS VON EINZELNEM UND ALLGEMEINEM BEI BACON

 

1. Das Sein der Einzeldinge und der Universalien

 

Bacons Auffassung von der Transzendenz im Einzelnen drückt sich in der Universalienfrage in einem gemäßigten Realismus aus. Dies ist freilich ein recht dehnbarer Begriff, der unterschiedliche Varianten bezeichnet. Er schließt aber einige andere Standpunkte aus, so den von Johannes von Salisbury bei Rosselin von Compiègne festgemachten frühscholastischen Nominalismus, nach dem das Universale nur ein Wort ist. Nach Bacon hat das Universale wirkliches Sein, und zwar sowohl in der Seele als auch in den Dingen.

 

Quidam autem sophiste volunt ostendere quod universale nichil est nec in anima nec in rebus, et confundunt in hujusmodi fantasiis, scilicet, quod quicquid est in singulari est singulare, quia potquam singulare subjectum est; tunc non erit nisi singulare et individuum, ... sed illud destruit fundamenta rerum et philosophie.

 

Set quia universale habet aliud esse, propter hoc non est dicere quod solum habeat esse in intellectu.[44]

 

Wäre das Universale nur ein Wort, dem jeglicher Wirklichkeitsgehalt fehlte, so könnte es nichts in den Dingen bezeichnen und wäre selbst nichts. Es blieben nur die Einzeldinge zurück, aber vollkommen ungeordnet, und ohne daß Aussagen über sie möglich wären. Das Universale ist also notwendig sowohl Erkenntnis – als auch Seinsprinzip. Freilich genügt dies noch nicht, um Bacon mit Crowley[45] als "extreme realist" zu bezeichnen. Auch gegen diese bei Salisbury favorisierte Lösung hat Bacon ähnlich starke Worte gefunden. Während die Nominalisten "Sophisten" tituliert wer­den, erhalten die Platoniker die entgegengesetzte Bezeichnung, mit der wohl in etwa "Einfaltspinsel" gemeint sein dürfte:

 

Nam homines imperiti adorant universalia, propter hoc quod Aristoteles dicit in primo Posteriorum, quod universale est semper et ubique, singulare est hic et nunc, et 2° De Anima, dicit quod esse universale est esse perpetuum et divinum, singulare est corruptibile, et non manet semper.[46]

 

"Set hec solvuntur breviter", heißt es an dieser Stelle weiter; und zwar nicht, indem diese Eigenschaften des Universale bestritten werden, sondern indem gezeigt wird, daß es sie nicht unabhängig vom Einzelnen hat. Das Universale ist nicht, wie jedes Individuum, hier und jetzt: aber nicht, weil es nirgends wäre, sondern weil es über den Dimensionen Raum und Zeit steht.[47] Selbstverständlich ist es darin der göttlichen Natur ähnlicher als das Einzelne. Aber gäbe es die Einzeldinge nicht, so könnten auch die Universalien nicht Bestand haben. Zwar überdauern sie die Zerstörung eines einzelnen Dinges, weil sie in einem anderen weiter existieren können. Doch gäbe es gar kein Einzelding, so würde auch das Universale verschwinden, und dies ist keine völlige Unzerstörbarkeit; es ist Unzerstörbarkeit per accidens, eine nicht wesentliche Unzerstörbarkeit.

 

Quoddam est perpetuum omnino, et tale non dependet secundum esse suum a corruptibili; aliud est perpetuum per accidens, corruptibile tamen per se, et sic universale est perpetuum, quia corrupto uno singulari remanet et continuatur in alio; set si omnes corrumperentur, non remaneret immo corrumperetur omnino.[48]

 

Universalien sind also dem Sein nach abhängig von den Einzeldingen: dies ist das kennzeichnende Merkmal des gemäßigten Realismus. Gleichzeitig wird aber aus Bacons Ablehnung des Nominalismus deutlich, daß seiner Meinung nach auch umge­kehrt die Einzeldinge von den Universalien abhängen: die Leugnung der Wirklichkeit von Universalien zerstört nicht nur die Grundlage der Philosophie, sondern auch der Dinge. Noch ist damit die Rangordnung nicht ausgemacht zwischen dem Einzelnen, das doch dasjenige ist, was man in der Welt antrifft, und dem Universale, das in seiner Überdimensionalität immerhin größere Ähnlichkeit mit dem höchsten, dem göttlichen Sein aufweist. Weiterhin ist das Innewohnen der Universalien in den Dingen, der Transzendenz im Einzelnen noch zu belegen. Es ist ja auch eine wechselseitige Abhängigkeit bei gleichzeitiger Trennung dieser beiden Seinsprinzipien denkbar. Zur Klärung dieser Fragen unterscheidet Bacon verschiedene Bedeutungen der Aussage, Universalien gehörten zum Seienden:

 

Quedam entis sunt quia ad entia sunt principia, et hoc modo universalia, quia principia sunt cognoscendi entia inferiora vel singularia. Secundo modo sunt quedam entis quia in entibus sicut forma que est in subjecto, et hoc modo universalia, quia sunt in singularibus. Tertio modo sunt quedam entis quia ab entibus causantur, et hoc modo ... etiam universalia que causaliter a singulari­bus, ut jam videbitur, procedunt, et sic patet quod proprie loquendo universalia non sunt entia, communiter tamen entia quia entis sunt.[49]

 

Universalien sind "Seiendes" als Erkenntnisprinzip des Einzelnen, das anders als jene als eigentlich Seiendes, "entia" statt "entis" bezeichnet wird. Die zweite Definition, Universalien wohnen als "formae" den Einzeldingen inne, ist die des Aristotelismus (Thomas sagt inhaltlich dasselbe[50]). Der originellste Satz ist der letzte, nachdem die Universalien ursächlich vom jeweiligen Einzelnen abhängen, im strengen Sinne daher sogar nichts Seiendes, sondern nur zum Sein Gehöriges sind. Er wird noch näher betrachtet werden müssen: man könnte aus ihm schließen, daß die den Dingen innewohnenden Universalien, der transzendente Gehalt, nicht vollkommen wirklich sei, da er doch nach diesem Satz nicht eigentlich seiend ist. Oder er könnte eine andere Seinsweise besitzen, die dann zu bestimmen wäre.

 

Schließlich könnte mit dem dritten Modus auch noch etwas anderes als der abstrakte Seinsgehalt gemeint sein, von dem ja schon beim zweiten modus die Rede war; dann müßte geklärt werden, was dies Andere ist, denn eigentlich hat ja das Universale nur zwei Seiten – die psychische und die "objektive", d.h. in den Gegenständen.[51] Eine andere Variante mit drei Seinsweisen des Universale bietet sich hier zum Vergleich an. Auch hier findet man, als dritten Modus, den klaren aristotelischen Ausdruck vom wirklichen und natürlichen Sein in jedem Einzelding. Der erste modus ist die Natur, in die sich viele Individuen teilen und die von ihnen allen ausgesagt werden kann, der zweite ist mit "Begriff" zu übersetzen.

 

Universale tripliciter consideratur; uno modo in quantum est communis natura participata a multis et de multis predicabilis; secundo modo in quantum est intentio et unum preter multa; tertio modo quantum ad suum esse actuale et naturale, scilicet secundum quod est in hoc singulari vel in illo. Primo modo non habet esse abstractum vel separatum, sed unitum ipsis singularibus; secundo modo habet esse abstractum et accipitur a singularibus separatum, ... tertio modo habet esse omnino conjunctum.[52]

 

Aus dem Zusammenhang, in dem diese Passage steht, ergibt sich, daß nur der zweite modus, dessen Sein, wie es hier heißt, als getrennt und abstrakt aufgefaßt wird, sich auf die Erkenntnis bezieht; die beiden anderen, mit den Individuen verbundenen Seinsweisen beziehen sich auf das Sein. Der dritte modus, den man mit dem davor zitierten zweiten, "sicut forma ..." gleichsetzen kann, ist nach dieser Passage nun ohne Zweifel volle Wirklichkeit, "esse actuale". Der Satz von der ursächlichen Abhängigkeit des Universale vom Einzelnen bedeutet demnach keine Minderung der Wirklichkeit der innewohnenden Transzendenz, er bedeutet nicht, daß das Individuum seine eigene Transzendenz bewirkt, sondern bezieht sich auf den hier an erster Stelle angegebenen Begriff des Universale als "natura communis". Eine gemeinsame Natur kann es in der Tat erst dann geben, wenn es Individuen gibt, die sie teilen. Bacons Formulierung erinnert hier an Abailards "status communis", und es ist wohl auch etwas Ähnliches gemeint. Abailard erarbeitete sich im Lauf seines Lebens einen gemäßigten Realismus, doch ging er vom Nominalismus aus; er wurde, wie auch Johannes von Salisburys Einstufung zeigt, vom "Image" des Nominalisten nicht mehr frei. Bacon aber bettet die Aussage vom Universale als durch das Einzelne verursachte, gemeinsame Natur in einen Gesamtzusammenhang ein, der zeigt, daß es noch mehr als diese ist. Es gibt Passagen, in denen er eindeutig feststellt, daß das Universale nicht erst beim Vergleich mehrerer Individuen entsteht, sondern jedem, auch einem isolierten Individuum als Wesen, Washeit oder "quidditas" zukommt und gleichzeitig mit ihm ins Sein tritt; denn jedes Einzelne ist ein Etwas, gehört zu einer species, die sein Sosein bestimmt.

 

QUERITUR an universale sit aliquid in actu. Quod sic videtur: generato illo homine, generatur homo; set iste homo generatus est aliquid in actu, ergo multofortius homo, quia sequitur illud.

 

Posito solo uno individuo constat quod alica species sibi respondet, omne enim individuum alicujus speciei est, ergo posito solo Sorte, erit homo qui est species et universale; set non est nisi in Sorte, ergo manet universale in uno singulari.[53]

 

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