„[104] >>- und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren.
Wahrlich, mit andern Augen, meine Brüder, werde ich mir dann meine Verlorenen suchen; mit einer anderen Liebe werde ich euch dann lieben<<.“[1]
Zarathustra, Von der schenkenden Tugend (I. p. 97-98)
Wir befinden uns im Jahre 1844 inmitten des kleinen Dorfes Röcken, genauer gesagt im von der Kirche überschatteten Pfarrhaus, in dem am 15. Oktober Friedrich Wilhelm Nietzsche als Sohn des protestantischen Pastors Carl Ludwig Nietzsche und dessen Frau Franziska Nietzsche (vormals Oehler) das Licht der Welt erblickt. Noch ahnt keiner welch herausragende Wirkung der Pastorensohn für das Geistesleben der folgenden Jahrzehnte haben wird, wie visionär und radikal er seiner Zeit gegenübertreten wird und – wie sehr er in Misskredit gebracht werden wird.
Nietzsche bleibt nicht das einzige Kind des Paares, eine Schwester, Elisabeth Nietzsche, folgt 1846. Man sollte nun meinen, dass der kleine Friedrich in einer familiären Idylle aufwächst, in der Religion, Fleiß und Musikalität gelebt werden. Nun passiert der Familie ein Schicksalsschlag, den vor allem Nietzsche zeitlebens nicht verwinden wird: Carl Ludwig Nietzsche erliegt 1848 einer schweren Gehirnerkrankung. Die junge Witwe zieht darauf mit den beiden Geschwistern, zwei Tanten und der Großmutter väterlicherseits nach Naumburg und ist darauf bedacht, ihre beiden Kinder fromm zu erziehen, ihnen einen gesunden Körper zu bewahren und das alltägliche Leben wieder aufzunehmen. Sie versucht ihren „Fritz“ davor zu bewahren, „´anders als die andern` zu sein, sich ausschließlich dem Lesen, Dichten und der Musik zu widmen.“[2]
1858 beginnt der junge Friedrich seine Ausbildung an der berühmten Landesschule Pforta, Montinari schreibt über diese:
„Die Schule genoß ein hohes Ansehen wegen ihres Erziehungssystems, ihrer einfachen und gesunden Lebensweise – Leibesübungen wurden keineswegs vernachlässigt – und wegen des hohen Niveaus ihrer Lehrer. Die sechs Jahre, die Nietzsche in Pforta verbrachte, waren für seine Bildung entscheidend. Der strenge Tagesablauf, die fast militärische Disziplin, die anspruchsvollen Lehrpläne waren für Nietzsche eine heilsame Erfahrung, [...].“[3]
Hier kann sich der junge Nietzsche dichterisch, „philosophisch“ und musikalisch entfalten, er komponiert und übt sich im Klavierspiel. Er beginnt sich auch für die griechische Kultur zu interessieren – eine Begeisterung, die er wenig später in seiner Philosophie zum Ausdruck bringen wird. Zusammen mit seinen Freunden eifert er nun musikalisch und dichterisch um die Wette, immer mit dem Ziel, sich selbst zu übertreffen, sich selbst zu überwinden. 1862 entstehen im Zuge dieses Wettbewerbes zwei philosophische Abhandlungen: Fatum und Geschichte sowie Willensfreiheit und Fatum. Kurz bevor Nietzsche Schulpforta im Jahr 1864 verlässt und sein Studium aufnimmt, entsteht eine Abhandlung mit dem Titel Zur Geschichte der Theognideischen Spruchsammlung; in ihr schimmern schon „[..] Motive aus der Geburt der Tragödie [...].“[4] Gemeinsam mit seinem Freund Paul Deussen beginnt er im Herbst desselben Jahres sein Studium, Theologie und Philologie, in Bonn, beendet aber enttäuscht seinen Aufenthalt nach bereits zwei Semestern; Nietzsche kann dem studentischen Leben insbesondere dem eintönigen Lebenswandel der studentischen Verbindungen nichts abgewinnen, goutiert hat Nietzsche diesen auf jeden Fall: Schließlich hält sich die These, dass ein in dieser Zeit begangenes sexuelles Abenteuer des jungen Studenten inklusive (angeblicher) syphilitischer Ansteckung wesentlich zu seinem geistigen (und physischen) Verfall in späteren Jahren beigetragen haben soll.
Nach familiären Zerwürfnissen studiert Nietzsche ab 1865 in Leipzig, wo er unter der Obhut des Philologen Friedrich Ritschl steht, welcher nach akademischen Differenzen von Bonn nach Leipzig „emigrierte“ – mit vielen seiner studentischen Anhänger im Schlepptau.
Mittlerweile hat Nietzsche das Studium der Theologie aufgegeben; er kann den frommen Glauben seiner Mutter nicht teilen, zu sehr hat er sich von Gott und Kirche entfernt. In den folgenden vier Semestern verschreibt er sich ganz der Philologie und macht sich mit der Philosophie Schopenhauers vertraut, welche seine künftigen philosophischen Arbeiten sehr beeinflussen wird. In Leipzig lernt er auch Erwin Rohde kennen und schätzen – die beiden Männer werden Freunde. Ihr erhaltener Briefwechsel hat viel zu einer umfassenden Nietzsche-Interpretation beigetragen.
Nach einjährigem Dienst in der reitenden Artillerie in Naumburg kehrt Nietzsche nach Leipzig zurück, wo er sich mit Philosophen wie Demokrit, Platon und Laertius Diogenes beschäftigt. In diesem Umfeld, das heißt als „[...] Gast im Hause Ritschl und bei dem Orientalisten Hermann Brockhaus, der mit einer Schwester Richard Wagners verheiratet [...]“[5] ist, lernt er 1868 Richard Wagner kennen – eine Person, die, wie auch Arthur Schopenhauer, Nietzsche wesentlich prägt. Diese freundschaftliche Beziehung wird einige Jahre danach ihr außerordentliches Konfliktpotential offenbaren.
Im Februar 1869 wird Nietzsche an die Universität Basel berufen; unterstützt durch den Einsatz Ritschls und hinsichtlich seiner 1870 erschienenen Publikation Analecta Laertiana.
„Am 23. März 1869 wurde Nietzsche von der philologischen Fakultät Leipzig aufgrund seiner im Rheinischen Museum veröffentlichen Aufsätze zum Doktor der Philologie ernannt. Am 17. April nahm er die schweizerische Staatsbürgerschaft an und legte die preußische ab.“[6]
Nietzsche unterrichtet an der Universität Basel von 1869 bis 1879. Er sticht hervor durch sein pädagogisches Talent wie auch durch seine Bewunderung für seinen Kollegen Jacob Burckhardt. Seine Lehrtätigkeit ist ereignisreich: 1870/1871 bricht der Deutsch-Französische Krieg aus, der zu einer Einigung Deutschlands unter Bismarck (und Preußen) führt und bei Nietzsche tiefsten Missmut auslöst. Auch der ab 1869 intensivierte Kontakt zum Hause Wagner stimuliert und inspiriert Nietzsche, sowie auch seine leidenschaftliche Auseinandersetzung mit der Person des Sokrates. All diese (exzessiven) Erfahrungen gipfeln 1872 in dem Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik und in den Schriften Unzeitgemäße Betrachtungen (1873-76) – Nietzsches Interesse an der Philosophie steigert sich weiter. Es folgen weitere bekannte Werke wie Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister (1876-80) und Morgenröthe – Gedanken über die moralischen Vorurteile (1880-81).
Während seiner Universitätstätigkeit verschlechtert sich Nietzsches physischer Zustand stetig, sodass er 1879 den Dienst quittiert, die Universität samt einer bescheidenen Pension verlässt und vorerst zur Rekonvaleszenz in das Oberengadin flüchtet. In den kommenden Jahren wird Nietzsche zum rastlosen Wanderer werden – immer auf dem Weg durch Italien, Schweiz, Deutschland und Frankreich – mit einzelnen ausgewählten Stationen. Eine davon, Sils-Maria in der Schweiz, erkürt sich der „Philosoph“ als Sommerresidenz, wo er fruchtbare Gedanken fassen und entwickeln kann, unter anderem durch intensive Auseinandersetzung mit Spinozas Denken. Unter all diesen günstigen Einflüssen entsteht Die fröhliche Wissenschaft (1881-82) – Nietzsche strebt nach neuem. Inspiriert durch die Krisen und die Enttäuschungen des Jahres 1882, die Nietzsche vor allem im zwischenmenschlichen Bereich ereilen, findet er die Kraft für sein wohl berühmtestes Werk Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen (1883-85), in welchem Nietzsches meist diskutierte philosophische Ansätze zu finden sind, zum einen der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen, zum anderen die folgenschwere Konzeption oder Lehre vom Übermenschen. Der Nietzsche von 1872 hat sich merklich gewandelt:
„Der Nietzsche von Also sprach Zarathustra vollzieht eine Art Flucht nach vorn, er versucht die Werte der bestehenden Gesellschaft umzustürzen, um wieder zu einer rein irdischen Vision des Menschen und des Lebens zu gelangen. Dieser Versuch geschieht in völliger Einsamkeit, er ist ganz und gar individuell.“[7]
Nietzsche entfremdet sich nicht nur von seiner Familie, sondern auch von seinen Freunden mehr und mehr. 1886 veröffentlicht Nietzsche (auf eigene Kosten) Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel zu einer Philosophie der Zukunft und kurz darauf Zur Genealogie der Moral (1887). Ab 1880 beschäftigt Nietzsche ein weiterer problematischer Gedanke, den er als Wille zur Macht tituliert. 1886 fasst er die Idee eines Werkes auf dieser Basis mit dem Titel Der Wille zur Macht. Umwerthung aller Werte. Das Ergebnis seiner Studien sind nummerierte und gegliederte Fragmente, welche unter vier Teile zu subsumieren sind. Eine Veröffentlichung kommt jedoch nicht zustande;...