I.
GRUNDLAGEN.
SPÄTMITTELALTERLICHES ROM. VON
DER ANTIKEN ZUR MITTELALTERLICHEN STADT. DAS STADTBILD UM 1400
VOM MITTELALTER ZUR RENAISSANCE. Das Quattrocento änderte in Rom alles. Für einen besseren Einblick in die Ausgangslage und in die besonderen römischen Verhältnisse hat diese Übergangszeit zudem den Vorteil, daß in ihrer unmittelbaren Vorgeschichte, im 14. Jahrhundert, Papstgeschichte und Stadtgeschichte zeitweilig auseinandertreten. Das Papsttum, nach seinem Triumph über das staufische Kaisertum schon bald von den erstarkten weltlichen Mächten brüsk von der Höhe seiner – mit Bonifaz VIII. noch gesteigerten – Ansprüche herabgeholt, übersiedelt 1309 von Rom nach Avignon unter den Schutz und Einfluß des französischen Königs. Fortan verlaufen, bis zur Rückkehr des Papsttums 1377 nach Rom, beider Geschichten für sieben Jahrzehnte getrennt voneinander, so daß sie auch getrennt beobachtet werden können und die spezifisch römischen Züge deutlicher zutage treten. Oder wie man in einem treffenden Bild gesagt hat: Als sich der Strom der Papstgeschichte zeitweilig aus seinem römischen Bett in ein anderes wälzte, wurden am Grunde des leeren Flußbettes die Wasserläufe sichtbar, die, sonst unerkannt, aus genuin römischem Untergrund dem großen Strom zuflossen.[1]
Was da an eigenem Beitrag zutage trat, verkörpert sich in der Gestalt des – damals wie heute umstrittenen – römischen Notars Cola di Rienzo (1313–1354). Die Abwesenheit der Päpste ließ Raum für Rückbesinnung auf eigene Bedeutung unabhängig vom (und gegebenenfalls auch gegen das) Papsttum. Cola di Rienzo verstand es, daraus eine bizarre Rom-Ideologie zu formen: ein aus antiken Reminiszenzen und mystischen Vorstellungen seltsam gemischtes, schwärmerisch übersteigertes Programm, das sich grell abhob von der düsteren römischen Wirklichkeit, die auf manche wirkte, als sei Rom «einst Haupt, jetzt Schwanz der Welt» (Boccaccio, Decamerone V 3). Tatsächlich fällt es manchmal schwer, diesen Mann ernstzunehmen. Aber Anhänger und Gegner nahmen ihn ernst, denn er wußte auch zu handeln. Als selbsternannter «Tribun» ergriff er in zwei Anläufen, 1347 und 1354, in Rom die Macht. In lauten Manifesten rief er «das ganze heilige Italien» zur Einigung unter der Führung Roms auf. Immerhin gelang ihm, was den Zeitgenossen fast ebenso unerreichbar schien: den großen Adel, Colonna und Orsini, zeitweilig aus der Stadt zu drängen, obwohl deren Klientelen fast die ganze städtische Gesellschaft erfaßten. Solche revolutionär anmutenden Züge und das dramatische Ende auf dem Kapitol regten den jungen Friedrich Engels zu einem Dramen-Entwurf, den jungen Richard Wagner zu seiner frühen Oper «Rienzi, der letzte der Tribunen» an, deren flammende, wie in einem Feuerball endende Reden bekanntlich den jungen Hitler hinrissen.
Die frühere Forschung, an der deutschsprachige Gelehrte in besonderer Weise beteiligt waren, stellte die Gestalt des Tribunen in den Mittelpunkt und kam dabei, von Jacob Burckhardt («von Anfang an ein armer verlorener Tor», eine «wunderliche Komödie») bis Konrad Burdach (der «überkühne Führer, der in das Zukunftsland der Sehnsucht den Weg bahnen wollte»), zu ganz unterschiedlichen Urteilen. Die neuere Forschung hingegen interessierte sich mehr für seine Wirkung: weniger für seine Person als für seinen gestaltenden und polarisierenden Einfluß auf Gesellschaft und Institutionen, weniger für den Mythos als für den Realitätsgehalt eines politischen Traums, der nur in Rom geträumt werden konnte. Für unseren vom Trecento ins Quattrocento gerichteten Blick muß diese Frage nach der Wirkung der Ansatzpunkt sein.[2]
Dazu muß man tiefer als früher in das römische Geflecht sozialer Gruppen, regionaler Klientelen, politischer Parteiungen eindringen und zu richtigen Zuordnungen kommen, die mit schematischen Vorstellungen von mittelalterlicher Ständegliederung nicht zu erreichen sind, sondern aus der lokalen Überlieferung erarbeitet werden müssen. Innerhalb des Adels – und darauf ist in Rom unbedingt zu achten – ist zu unterscheiden zwischen dem klar umrissenen Baronaladel von nur etwa einem Dutzend Familien wie Colonna, Orsini, Savelli mit ausgedehntem Territorialbesitz in der weiteren Umgebung Roms, der ihrer Stellung in der Stadt Nachdruck verlieh (nobiles maiores, magnates), und dem in der Stadt sitzenden Adel aus zahlreichen, in ihren Stadtvierteln einflußreichen Familien (nobiles, milites, cavallerotti): rund 100 Familien mehr oder weniger alten Ursprungs, teilweise bis ins 12. Jahrhundert zurückreichend, nach oben gegen die barones deutlich abgegrenzt, aber nicht nach unten abgeschlossen, so daß neue Familien in diese Schicht aufsteigen konnten. Daß in Italien Adel auch in der Stadt saß und sich nach unten öffnete, kommentierten Beobachter aus dem Norden mit Befremden. Das «Volk», der popolo, von dem Cola di Rienzo anfangs getragen wird und dem er den Weg bahnt, ist – und schon das erklärt seinen Erfolg – eine aufsteigende Mittelschicht aus Grundbesitzern, Agrarunternehmern, Kaufleuten, Juristen und Notaren, qualifizierten Handwerkern, kurz: was man im damaligen Italien den popolo grasso nannte, und nicht der politisch rechtlose popolo minuto.[3]
Dieser differenzierte Aufriß der römischen Gesellschaft läßt bereits ahnen, daß hier dynamische Prozesse im Spiel sind, die über Standesgrenzen hinweggehen. Darin erweist sich die Klientel als der wichtigste Faktor, Klientelismus als das brauchbarste Gliederungsprinzip: Personen und Familien auch unterschiedlichen Standes, Stadtadel wie popolo, Klerus wie Laien, verbindet («querlaufend», trasversale nennt der Italiener heute ähnliche politische Gruppierungen) die Orientierung auf einen handelnden Protagonisten, auf eine führende Adelsfamilie. In Rom sind das Colonna und Orsini. Ihnen gab ihre Klientel alles, von ihnen erwartete sie alles: Schutz vor Feind und Gericht, Protektion im sozialen Aufstieg, Pfründe oder kirchliche Ämter an römischen Kirchen durch Intervention eines Colonna- oder Orsini-Kardinals. Auf rund 80 namhafte Familien schätzt man die Klientel der Colonna, darunter auch Familien der Popolari, obwohl diese grundsätzlich mehr den Orsini zuneigten.
Um diese sozialen, politischen, wirtschaftlichen Zugehörigkeiten festzustellen, ist die prosopographische Methode das beste Instrument. Unter ‹Prosopographie› versteht man, im Unterschied zur Biographie von Einzelpersonen, die kollektive Biographie von ganzen Gruppen, etwa: die Familien der römischen Führungsschicht in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts; das Gefolge der römischen Kardinäle; die Klientel der Colonna usw. Da werden sozusagen mehrere Einzelleben übereinanderkopiert zum Gesamtbild einer Gruppe. Daß es dann Individuen gibt, die auf mehreren prosopographischen Gruppenphotos erscheinen, differenziert das Bild und spricht nicht gegen die prosopographische Methode. Diese Methode ist von Mediävisten in den letzten Jahren vielfach mit Erfolg angewendet worden. Sie erfordert freilich eine immense Vorarbeit: Aus den unterschiedlichsten lokalen Quellen müssen zu allen erreichbaren Namen vereinzelte Informationen gesammelt und in Zusammenhänge gebracht werden (den einzelnen Namen gemeinsame Nachbarn, Zeugen, Prokuratoren, Patrone usw.). So werden aus Namen Personen, und daraus kann dann das Netz gewoben werden, das die prosopographische Forschung so sinnvoll macht.
Auf das Rom Colas di Rienzo angewendet, ergeben sich aus solcher Forschung zwei große Verbände, deren einer, die Orsini-Klientel und ihre Patrone, der Agitation des Tribunen weit zugänglicher war als die andere. Dem wird der Tribun realistischerweise Rechnung tragen und damit aus seiner intendierten Rolle supra partes in römische Parteiung zurückfallen. Beide Klientelen werden auch weiterhin Bedeutung haben, ihre Zusammensetzung wird darum noch näher zu bestimmen sein.[4]
Die Anziehungskraft Colas di Rienzo scheint zeitweilig tatsächlich die erstrebte einigende, die klientelären Bindungen lockernde, emanzipatorische Wirkung gehabt zu haben. Und obwohl der Tribun – vom Adel angefeindet, vom päpstlichen Legaten beargwöhnt, vom Volk nicht mehr ertragen – nach kurzer Rückkehr 1354 blutig endete, hinterließ sein fulminantes Auftreten doch eine...