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E-Book

Rudolf Steiner

Leben und Lehre

AutorHeiner Ullrich
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783406612060
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Ob Waldorfpädagogik, biologisch-dynamische Landwirtschaft, ganzheitliche Medizin oder organische Architektur: Fast jeder ist schon - freiwillig oder unfreiwillig - in die Einflusszone Rudolf Steiners geraten. Heiner Ullrich porträtiert knapp und kenntnisreich den Begründer der Anthroposophie und seine umfassende, kaum einen Lebensbereich auslassende Lehre. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Waldorfpädagogik, dem größten Erfolg Rudolf Steiners. Rudolf Steiner (1861-1925) hat sein Leben in seiner Autobiographie als eine geradlinige Entwicklung zu höherer Erkenntnis dargestellt. Spätere Biographen sind diesem Selbstbild gefolgt. Eine kritische Gesamtdarstellung von Leben und Lehre des Esoterikers, den Kurt Tucholsky den «Jesus Christus des kleinen Mannes» nannte, ist dagegen längst überfällig. Heiner Ullrich beschreibt die erstaunliche Karriere Steiners vom Sohn eines kleinen Bahnbeamten in der österreichischen Provinz über den Goethe-Enthusiasten und Prediger der Theosophie bis zum weltweit beachteten Begründer der Anthroposophie. Er bietet einen verständlichen Überblick über die anthroposophische Lehre und beschreibt ihre wichtigsten Anwendungsfelder von der Landwirtschaft über Heilpädagogik und Medizin bis hin zur Waldorfpädagogik.

Heiner Ullrich, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Mainz, gilt als einer der besten Kenner der anthroposophischen Pädagogik. Sein Buch «Waldorfpädagogik und okkulte Weltanschauung» (3. Auflage 1991) hat die Diskussion über Rudolf Steiner nachhaltig beeinflusst. Für die international renommierte «Continuum Library of Educational Thought» hat er den Band zu Rudolf Steiner verfasst (in englischer Sprache, 2008).

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Leseprobe

Zweites Kapitel
Die Lehre


Das fundamentale Anliegen von Steiners Werk ist die Erneuerung der mystischen Erfahrung in einer wissenschaftlichen Kultur, denn es geht ihm im Kern um die Vereinigung der inneren geistigen Welt der Person mit dem in Natur und Geschichte sich offenbarenden göttlichen All-Einen inmitten eines geistvergessenen, positivistisch-materialistischen Zeitalters. In einem ersten «goetheanistischen» Zugang wird von Steiner zunächst philosophischerkenntnistheoretisch und in einem zweiten «anthroposophischen» Zugang dann geisteswissenschaftlich-überrational das Grundschema der Gnosis expliziert, wonach das Ich durch Unwissenheit oder Schuld in einen Zustand der Entzweiung und Entfremdung von seinem geistigen Ursprung geraten ist, aus dem es durch Selbst- und Welterkenntnis wieder zur universalen Einheit zurückfinden kann (siehe Koslowski 1988). Die Aufgabe des einzelnen ist die Entfaltung seiner intellektuellen Anschauungskraft, diejenige der Gemeinschaft die (Wieder-)Vergeistigung aller Bereiche des kulturellen Lebens, darunter auch der Erziehung.

Goetheanismus: Das erkenntnistheoretische Frühwerk


Schon der junge Steiner leidet unter der Entmythologisierung der Welt durch die exakten Naturwissenschaften und die kritische Philosophie. In den inneren Tiefen seines Ich findet er dagegen noch das früheren Zeiten geläufige geistige Universum. In seinen vor-theosophischen Schriften versucht Steiner, diese mystische All-Einheitserfahrung in bewusster Opposition zum Kritizismus Kants und zur hierin erfolgenden Begrenzung der objektiven Erfahrung erkenntnistheoretisch zu begründen. Er geht davon aus, dass dem menschlichen Denken über die von Kant gezogenen Erkenntnisgrenzen alles erreichbar ist, was zur ‹Erklärung der Welt› nötig ist. Seine «Erkenntnistheorie führt zu dem positiven Ergebnis, dass das Denken das Wesen der Welt ist und dass das individuelle menschliche Denken die einzelne Erscheinungsform dieses Wesens ist» (GA 2, 79). Im selbstbewussten Erkennen erfolgt «ein stetiges Hineinleben in den Weltengrund». Das Geistige hat sich in den «Weltorganismus» emaniert; seine höchste und vollendete Wirklichkeitsform ist das Denken in dem Menschen, der den Denkinhalt – die ewigen Ideen – zur Erscheinung bringt. In der «intellektuellen Anschauung» kann der Mensch die Ideen unmittelbar erleben und sich dadurch mit dem Weltgrund selbstlos (wieder-)vereinigen.

Voraussetzungslose Erkenntnistheorie

Steiners Grundgedanken sind die folgenden: Die Erkenntnistheorie soll voraussetzungslos anheben, das heißt, sie kann ihren Anfang nur mit dem machen, was nicht selbst schon in das Gebiet des Erkennens gehört. Dazu muss ein Bereich aufgesucht werden, der außerhalb beziehungsweise unmittelbar vor der Erkenntnis liegt. Diese erste Stufe der Weltbetrachtung ist das «unmittelbar Gegebene», die «reine Erfahrung»; sie ist eine rein passive Anschauung, an der das Denken keinen Anteil hat. Steiner hält den Satz, die Welt sei unsere Vorstellung, für ein «Vorurteil» und auch für ungeeignet, um an den Anfang einer erkenntnistheoretischen Reflexion zu treten; er bedeute schon vorab eine gedankliche Qualifizierung der Wahrnehmungswelt. Es sei für das unbefangene Denken unerfindlich, was an der unmittelbar gegebenen Erfahrung der Wirklichkeit dazu berechtige, sie für eine bloße Vorstellung zu halten. Auf der Stufe des unmittelbar Gegebenen tritt uns die Wirklichkeit als zusammenhanglose Mannigfaltigkeit von Empfindungen, Wahrnehmungen, Gefühlen, Phantasien, Vorstellungen, Begriffen und Ideen entgegen; der «Weltinhalt» liegt unvollständig und ungeordnet vor uns, so wie er von unseren leiblichen und geistigen Organen wahrgenommen wird.

Nun finden wir aber gerade im unmittelbar Gegebenen auch als Erfahrung ein «Element», das als Gegebenes zugleich ein von uns Hervorgebrachtes ist und uns über die Zusammenhanglosigkeit hinausführt: das Denken. Das Denken ist «eine höhere Erfahrung in der Erfahrung», das Element, das gleichsam über sich und über die übrige Wirklichkeit «Licht verbreitet». Tritt uns in der Sinneswahrnehmung die Welt von der Seite der Vielheit und Zersplitterung entgegen, so erscheint sie uns im Denken, von der zweiten Stufe der Weltbetrachtung aus, als harmonisch geordnetes Gefüge der Ideen. In der Aktivität des Denkens vollzieht sich die Wiedervereinigung des unmittelbar Gegebenen mit den Begriffen und Ideen. Die gewöhnliche Sinneserfahrung ist nur die halbe Wirklichkeit; die andere Hälfte ist für unser geistiges Auffassungsvermögen vorhanden. Indem der Mensch wahrnimmt, empfindet und fühlt, zieht er sich in die «Enge des eigenen Wesens» zurück, geschieht seine Individuation. Als Individuum ist ihm indes nicht die volle Wirklichkeit zugänglich. Erst im Denken ist das Element gegeben, das ihn wieder mit dem «allgemeinen Geschehen des Kosmos» verbindet. Steiner bringt diesen Dualismus auf die Formel: «Indem wir empfinden […], sind wir einzelne, indem wir denken, sind wir das All-eine Wesen, das alles durchdringt.»

Dabei ist die bloß verstandesmäßige von der vernunftgemäßen Form des Denkens zu unterscheiden. In der bloßen Verstandestätigkeit werden nur Einzelgedanken festgehalten, bleibt die Welt eine künstliche Mannigfaltigkeit, die mit dem «Wesen der Wirklichkeit» nichts zu tun hat. In der Vernunftansicht von der Welt vereinigt der Mensch die künstlich getrennten Glieder, erfasst er vollständig die Einheit der Welt. Es gibt nur einen «Gedankeninhalt der Welt», und unser individuelles Denken ist nichts weiter als ein «Hineinarbeiten» unseres Selbst in dieses Gedankenzentrum. Unser Bewusstsein ist also nicht so vorzustellen, dass es Gedanken erzeugt und bewahrt; es ist gleichsam das Auge, das die Ideen als die wirkenden Weltgesetze erschaut, um sie im Denkakt selbst zur Erscheinung zu bringen. Descartes’ Grundsatz «Ich denke, also bin ich» hält Steiner für falsch; nicht meine Subjektivität denkt, sie «lebt vielmehr von des Denkens Gnaden». Das Denken existiert als Kosmos der Ideen jenseits von Subjekt und Objekt. Unser Geist ist das «Organ», das die Ideenwelt beobachten kann wie die Sinne die Erscheinungen.

Diesen Vorgang nennt Steiner «intellektuelle Anschauung» oder «Intuition»; sie stellt die dritte Stufe der Weltbetrachtung dar. Intuition ist die im rein Geistigen stattfindende Selbstbeobachtung des Denkens, das bewusste «Erleben» seiner «Wesenheit». Die Ideen können hierbei von allem Empirisch-Materiellen frei als die reinen Weltgesetze oder Weltkräfte, als die universalia ante res erfasst werden. Die Ideen sind für Steiner nicht lediglich notwendige Vernunftbegriffe, denen kein Gegenstand der Erfahrung entspricht; sie sind vielmehr die «kraftenden» Urbilder und Gesetzgeber aller Dinge. In ihrer Gesamtheit sind sie das «Wesen der Welt». Für Steiner sind der Erkenntnis keine unwiderruflichen Grenzen gesetzt; allenfalls gibt es im Individuum zufällige Schranken, die mit dem Fortschreiten von der Wahrnehmung über das Denken zur intellektuellen Anschauung überwunden werden. In der Intuition der Ideen ist innerhalb unseres Bewusstseins das Wesen der Dinge rein erfahrbar.

Steiner hält es daher für erwiesen, dass dem menschlichen Denken alles erreichbar ist, was zur «Erklärung der Welt» nötig ist. Schließlich ist ja «das Denken das Wesen der Welt». Mit anderen Worten: Die gesetzmäßige Harmonie des Weltalls kommt in der menschlichen Erkenntnis, im selbstbewussten Denken, zur Erscheinung. Als Auseinandersetzung oder Dialog des «Weltwesens» mit sich selbst, der sich im Bewusstsein des Menschen ereignet, ist die Wissenschaft «der Abschluss des Schöpfungswerkes». Fällt das Denken im Menschen ein Urteil, so ist es folglich der in die Ideen «eingeflossene Inhalt des Weltgrundes selbst», der in der Aussage zum Ausdruck kommt. Durch seine vollständige Emanation in den «Weltorganismus» treibt der «Weltenlenker» die Welt nunmehr voran; er hat dem selbstbewusst denkenden Menschen die Aufgabe auch der praktischen Vollendung des «Weltprozesses» übertragen. Im menschlichen Handeln begegnet uns daher «unmittelbar das unbedingte Handeln jenes Urgrundes» selbst; die Ziele, die sich der Einzelne setzt, sind nichts anderes als die Ziele des «Weltengrundes». Die Erkenntnis, dass die «Gesetze» des eigenen Handelns notwendig Teil der allgemeinen Gesetzmäßigkeit des Weltgeschehens sind, macht den Menschen seiner Bestimmung bewusst.

Der gesamte Erkenntnisprozess ist für Steiner ein «Entwicklungsprozess zur Freiheit». Denn mit der eigenen «moralischen Intuition» löst der Einzelne die in der Handlung sich verwirklichende Idee aus der Ideenwelt los und legt sie seinem Willen zugrunde. Steiner verbindet am Ende seiner Philosophie der Freiheit überraschenderweise seine idealistische Erkenntnistheorie mit der freigeistigen Position des ethischen Individualismus. Im Schlussabschnitt des Werkes finden sich dazu die folgenden Aussagen:

Der Monismus kennt keinen Weltenlenker, der außerhalb unserer selbst unseren Handlungen Ziel...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel3
Impressum4
Inhalt5
Einleitung: Das Rätsel Steiner9
Erstes Kapitel: Lebensgang und Gedankenwelt13
Kindheit und Jugend in der Fremde13
Student und Hauslehrer in Wien (1879–1889)16
Ein ungeliebtes Brotstudium16
Ein idealistisches Credo19
Archivar in Weimar (1890–1896)26
Die Philosophie der Goetheschen Naturforschung26
Ein philosophischer Doktor ohne Karriere32
Höllenfahrt in Berlin (1897–1902)34
Ein individualistischer Anarchist34
Die Bekehrung zur Theosophie40
Der weltanschauliche Führer (1902–1912)43
Die Geheimlehre der Helena Petrovna Blavatsky43
Die Vorträge des Doktor Steiner48
Von der Theosophie zur Anthroposophie53
Der Weg ins Goetheanum (1905–1924)59
Freimaurerische Kulte60
Mysteriendramen als Gesamtkunstwerke62
Die Erfindung der Eurythmie64
«Der Bau wird Mensch»: Das Goetheanum68
Neue Zeiten, neue Konzepte (1919–1925)75
Ein organisches Gesellschaftsmodell in revolutionären Zeiten (1919)76
Eine Schule für die Waldorf-Astoria-Zigarrenfabrik (1919)82
Geistige Heilkunst (1920)87
Eine geistesaristokratische Kirche (1922)91
Lebendiger Boden (1924)93
Eine neue Heilpädagogik (1924)94
Erschöpfung und Tod96
Zweites Kapitel: Die Lehre97
Goetheanismus: Das erkenntnistheoretische Frühwerk97
Voraussetzungslose Erkenntnistheorie98
Der Rückgriff auf den Neuplatonismus102
Der Idealismus des frühen Steiner105
Wissenschaft als Weltanschauung108
Anthroposophie: Die Grundlehre Steiners111
Auf dem Weg zur Erkenntnis114
Kosmologie: Das Entwicklungsgesetz der Welt119
Anthropologie: Der Mensch als Bürger zweier Welten128
Die Dreigliedrigkeit des Menschen134
Reinkarnation und Schicksalsverkettung139
Vier Temperamente142
Die Lebensalter des Menschen146
Hauptfelder angewandter Anthroposophie151
Entwicklungsgemäße Erziehung151
Intuitive Medizin158
Biologisch-dynamische Landwirtschaft165
Drittes Kapitel: Rezeption und Kritik173
Hagiographen und Kritiker173
Die «Grenzenlosigkeit» der Anthroposophie176
Die Rückkehr des mythischen Denkens180
Eine moderne Form der Gnosis191
Rassenlehre und Völkerpsychologie196
Viertes Kapitel: Der größte Erfolg: Die Waldorfpädagogik203
Leitlinien der pädagogischen Arbeit203
Die pädagogische Führung durch den Klassenlehrer206
Der genetisch-organische Aufbau des Lehrplans211
Epochenunterricht und goetheanistische Lehrmethode214
Die rhythmische Gestaltung des Schullebens217
Die kollektive Schulleitung222
Der Waldorfkindergarten223
Anthroposophische Heilpädagogik230
Wirklichkeit und Wirkungen der Waldorfpädagogik234
Soziale Herkunft und Lernerfolge von Waldorfschülern234
Lebensläufe ehemaliger Waldorfschüler236
Beziehungen zwischen Klassenlehrern und Schülern239
Waldorfschulen als pädagogische Gegenwelten241
Nachwort: Steiner als Lebensreformer243
Anhang247
Zeittafel249
Literatur253
Bildnachweis260
Register261
Zum Buch272
Über den Autor272

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