Kapitel 2
»Wir haben nicht damit gerechnet, wie sehr das Putin auf die Palme bringt.«
Im November 2006 krümmte sich Alexander Litwinenko in einem Londoner Krankenhauszimmer vor Schmerzen. Litwinenko, ein 43-jähriger ehemaliger Beamter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, lebte als politischer Dissident im Exil in England. Seit Wochen hatte er sich unentwegt erbrochen, litt unter qualvollen Krämpfen und verlor an Lebenskraft – das Ergebnis eines mysteriösen Giftes, das in seinen Körper eingedrungen war, nachdem er sich zum Tee mit zwei ehemaligen russischen Nachrichtendienstagenten in einer Hotelbar am Grosvenor Square getroffen hatte. In dem Bewusstsein, dass er nur noch kurze Zeit zu leben hatte, unterschrieb Litwinenko eine Aussage, die auf den Mann hinwies, von dem er glaubte, dass er seinen Mord angeordnet hatte: Wladimir Putin.
»Sie haben gezeigt, dass Sie so barbarisch und unbarmherzig sind, wie Ihre schärfsten Kritiker behaupten«, erklärte Litwinenko in der Aussage. Dann fuhr er fort: »Sie werden es vielleicht schaffen, einen Mann zum Schweigen zu bringen, aber das Aufheulen des Protests aus aller Welt, Herr Putin, wird für den Rest Ihres Lebens in Ihren Ohren hallen. Möge Gott Ihnen dafür vergeben, was Sie nicht nur mir, sondern auch dem geliebten Russland angetan haben.«
Litwinenko starb zwei Tage später an Herzversagen. Und als sein kraftvolles J’accuse laut auf einer Pressekonferenz verlesen wurde, stürzte er die britische Regierung in ein politisches und diplomatisches Dilemma. War es möglich, dass Litwinenko, der britischer Bürger geworden war, recht hatte – dass der Präsident der Russischen Föderation seinen Mord angeordnet hatte? Würde Putin so weit gehen, einen Mord auf britischem Boden begehen zu lassen? Wenn dem so wäre, wie sollte die Regierung antworten?
Scotland Yard startete eine polizeiliche Untersuchung von Litwinenkos Tod. Aber die nahm Zeit in Anspruch und richtete sich auf die Feststellung der Schuldfrage. Die Regierung von Premierminister Gordon Brown hielt jedoch ein schnelleres Vorgehen für erforderlich – eine nachrichtendienstliche Untersuchung, um eine etwaige Beteiligung der russischen Regierung aufzudecken und herauszufinden, was der Fall Litwinenko über Putins Regime aussagte. Beauftragt mit dieser Aufgabe, wandte sich der MI6, der britische Spionagedienst, an seinen Russlandexperten, Christopher David Steele.
Der Cambridge-Absolvent mit dem fotografischen Gedächtnis kannte das Terrain gut. Zwischen 1990 und 1993 hatte er unter diplomatischem Schutz in Moskau als Spion gedient. Es war die turbulente Zeit, als die Sowjetunion zusammenbrach, die Russische Föderation geboren wurde und die kommunistische Partei einen Putsch inszenierte, um die Kontrolle zurückzugewinnen – jedoch von einem trotzigen Boris Jelzin niedergeschlagen wurde, der auf einen Panzer kletterte und den Verschwörern Widerstand leistete. Steele sah mit an, wie sich die Auseinandersetzung auf den Straßen Moskaus entwickelte, und sandte ausführliche Berichte nach London.
Anschließend diente Steele in Paris und kehrte dann nach London zurück, um Chefanalyst des MI6 für Russland zu werden. Auf diesem Posten informierte Steele den Premierminister, die Außenminister und andere britische Regierungsvertreter darüber, was sie über Entwicklungen im Kreml wissen mussten.
Als er sich in den Litwinenko-Fall vertiefte, suchte Steele nach Mustern. Er fand bald welche. Ein paar Wochen vor Litwinenkos Vergiftung wurde Anna Politkowskaja, eine von Russlands prominentesten Journalistinnen, vor ihrem Moskauer Apartment erschossen. Politkowskaja war eine furchtlose Kritikerin Putins und eine unbarmherzige Chronistin von Russlands Menschenrechtsverletzungen in der kriegsgeschundenen russischen Republik Tschetschenien gewesen. Und sie war eine Freundin Litwinenkos, mit dem sie zusammengearbeitet und den sie häufig in London besucht hatte. Zwei Morde innerhalb von Wochen, die Opfer waren Freunde und ausgesprochene Gegner Putins. Steele glaubte, dass das kein Zufall war.
Es kam zu einem Wendepunkt in dem Fall, als ein britischer Arzt herausfand, dass es sich bei dem Gift, das in Litwinenkos Tee geschüttet wurde, um Polonium 210 handelte, eine hoch radioaktive Substanz, die fast ausschließlich unter der Kontrolle von Russlands Atombehörde stand. Jemand von sehr weit oben musste die Herausgabe dieser Substanz an die beiden russischen Attentäter genehmigt haben, die von Moskau nach London geflogen waren, um Litwinenko zu treffen. (Die beiden russischen Funktionäre hatten eine radioaktive Spur hinterlassen – in Hotelzimmern, Badezimmern und einem Flugzeug von British Airways.)
Kurz darauf war Steele im Besprechungszimmer der Regierung in Whitehall und berichtete Brown und seinen ranghöchsten Ministern, was er herausgefunden hatte. Das war sehr wahrscheinlich ein staatlich gelenkter Mordanschlag, sagte er ihnen, und der Auftrag kam vermutlich von Putin – über Nikolai Patruschew, damals Direktor des FSB, der Nachfolgeorganisation des KGB. Steele schätzte die Wahrscheinlichkeit auf 80 bis 90 Prozent.1
Die Tragweite war enorm. Ein Mordanschlag mitten in London mit radioaktivem Gift, das viele Stellen kontaminierte – das schien eine bedrohliche Wendung von Putin zu sein, dem autoritären, nationalistischen, gerissenen und pugilistischen Staatsmann, der seit 2000 Russlands Präsident war. »Wenn die Al Kaida so etwas getan hätte, wären die Menschen Sturm dagegen gelaufen«, sagte Steele später seinen Kollegen. »Überall in London gab es Spuren von Polonium. [Brown und seine Minister] waren regelrecht erschüttert. Soeben hatte ein Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen einen Akt des Nuklearterrorismus verübt.«
Die Frage lautete, was nun zu tun war? Sollte die britische Regierung an Putin Vergeltung üben und deutlich machen, dass er damit nicht durchkommen würde? Das waren keine Fragen, mit denen sich Whitehall gern befassen wollte. Browns Regierung wies einige russische Diplomaten aus, verhängte aber keine Sanktionen, und die Geschäfte mit Moskau gingen weiter wie gewohnt.
Zu denjenigen, die auch wenig Lust verspürten, sich mit den beunruhigenden, durch Litwinenkos Mord aufgeworfenen Fragen auseinanderzusetzen, gehörte der Partner vom MI6 jenseits des Atlantiks: die CIA. Als Steeles US-Nachrichtendienstkollegen über seine Schlussfolgerungen im Fall von Litwinenko in Kenntnis gesetzt wurden, zeigten sie sich nicht sonderlich betroffen. »Das ist euer Problem, nicht unseres«, sagten sie.
Ein Jahrzehnt nach dem Mord an Litwinenko sollte die US-Regierung einer ähnlichen Situation gegenüberstehen: Wie man auf einen Angriff von Putin reagiert. Und Steele würde wieder mitten im Getümmel stehen.
Anfang 2009 besuchte Michael McFaul, ein amerikanischer Russlandexperte, in Moskau seinen alten Freund Garri Kasparow, den ehemaligen Schachweltmeister. Kasparow, ein Mann mit buschigen Augenbrauen und resolutem Auftreten, war ein bekannter russischer Oppositionsführer und leidenschaftlicher Gegner Putins geworden. Aber jetzt hatten McFaul und Kasparow eine Meinungsverschiedenheit über eine einfache, jedoch grundlegende Frage: Konnten die Vereinigten Staaten Geschäfte mit einer russischen Regierung machen, die immer noch von Putin kontrolliert wurde?
McFaul hatte viele Jahre in Russland zugebracht und den Aufstieg des russischen Staats nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion studiert. Und er war sehr viel mehr als nur ein objektiver, rein faktenorientierter Akademiker, der die Geschichte aufzeichnet. Anfang der 1990er-Jahre, als sich die Sowjetunion im chaotischen freien Fall befand, war McFaul ein Masterstudent Mitte zwanzig und leidenschaftlicher Gefährte der jungen Aktivisten, die sich für Demokratie und einen freien Markt stark machten und auf Veränderungen drängten. Er beriet sie zu Strategien und brachte sie mit Regierungsbehörden und Stiftungen im Westen zusammen, die ihre Bemühungen unterstützen konnten. Einige Russen verdächtigten McFaul, ein CIA-Spion zu sein, der heimlich das Sowjetsystem – und was danach kommen würde – zum Vorteil Washingtons untergraben würde. Sie haben sich geirrt. Aber das war nun einmal oft der sowjetische Blickwinkel.
Mehr als ein Dutzend Jahre später arbeitete McFaul tatsächlich für die US-Regierung. Barack Obama, ein junger Senator, war gerade zum ersten afroamerikanischen Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden. McFaul, der Obama während seines Wahlkampfs beraten hatte, war der Weichensteller des neuen Präsidenten im Hinblick auf dessen Russlandpolitik, arbeitete im Weißen Haus und instruierte den Nationalen Sicherheitsrat in Bezug auf Moskau.
Nach der stürmischen Periode während der Jahre von George W. Bush hatte Obama seine Absicht eines »Neuanfangs« der Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Russland erklärt. Niemand in Obamas engerem Kreis gab sich der Illusion hin, dass das leicht sein würde. Putin und Russland hatten sich zunehmend feindlicher – und aggressiver – gegenüber amerikanischen und westlichen Interessen verhalten. Im August 2008 war Russland in Georgien zur Unterstützung prorussischer Separatisten einmarschiert. Aber wie die neue Mannschaft von Obama es einschätzte, gab es Grund zu der Annahme, dass nun ein neues Kapitel aufgeschlagen werden konnte.
Putins Amtszeit als Präsident war im vorangegangenen März abgelaufen, Nachfolger wurde sein Schützling, Dmitri Medwedew. Putin lauerte jedoch weiterhin im Hintergrund als Premierminister und stellte die Macht hinter dem Thron...