I.
Wie ich wurde, was ich bin
Meine Heimat
Ich könnte zwar überall wohnen, aber … 1970 kam ich als Student nach Kiel. Im Sommersemester hatten wir, weil es damals so heiß war, ein Seminar, Makro I, am Strand, in Strande bei Kiel. Wir setzten uns in den Sand und philosophierten über die Wirtschaftswissenschaften. Ich schaute über die Förde zum Marine-Ehrenmal nach Laboe, sah das Wasser, die Spiegelung des Lichts, und da wurde mir schlagartig klar: Hier willst du sein, hier willst du leben. Hier empfand ich ein Wohlgefühl, das ich bis heute anderswo so nicht empfunden habe. Mein ganzes Leben habe ich seither an der Ostsee verbracht. Hier habe ich gelebt und geliebt, hier arbeite ich als Strafverteidiger, und hier habe ich Politik gemacht. Für Schleswig-Holstein, aber auch für das ganze Land. In der FDP, der Partei, der ich es selbst nicht immer leicht gemacht habe. Sie war aber immer meine politische Heimat und wird es auch bleiben.
Es dauerte zwar noch einige Jahre, bis ich meinen Traum von einem Haus in Strande erfüllen konnte. Aber irgendwann war es so weit, und seither denke ich immer wieder an jenen Sommertag 1970 zurück. Ich könnte tatsächlich überall leben, ich fühle mich an vielen Orten wohl. Ich könnte auch in den Bergen leben, ohne dass mir sofort das Meer und seine Weite fehlen würden. Aber hier im hohen Norden, am Ostseestrand, nur hier habe ich das Gefühl des vollkommenen Aufgehobenseins. Das Gefühl von Heimat.
Der Derwisch von Braunschweig
Angefangen hatte alles 300 Kilometer südlich, im östlichen Niedersachsen. Der Bundestag hatte gerade den Vertrag zur Gründung der Montanunion ratifiziert, des europäischen Wirtschaftsverbands und Vorläufers der EG, Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl; Elisabeth II. hatte in London den Thron bestiegen, und die Briten hatten Helgoland an die Deutschen zurückgegeben, als ich an einem Montag im März geboren wurde, in Lehndorf, einem kleinen Vorort von Braunschweig. Wie bei den meisten Menschen speisen sich meine Erinnerungen an die Kindheit zumeist aus Erzählungen der Eltern, darüber, wie es früher einmal war. Es gab vor allem viele Geschichten über die Unbotmäßigkeiten meiner Kindheit und Jugend. Ich war, wie meine Mutter immer sagte, ein Derwisch. Ein sehr unruhiger Junge, der alles Mögliche ausgefressen und ständig Mist gebaut hat. Ich war ein Nestflüchter und bin häufiger abgehauen. Zum Beispiel aus dem Kindergarten, wo es mir einfach nicht gefiel. Ich wollte immer etwas erleben. Und jedes Mal, wenn ich verschwunden war, brach bei meinen Eltern, den Kindergärtnerinnen und später bei den Lehrern regelrechte Panik aus: Wo ist das Kind jetzt schon wieder? Wo treibt der Junge sich nur wieder rum? Der Junge, der war einfach unterwegs, spielte mit anderen Kindern aus der Nachbarschaft oder streifte mit ihnen durch Wald und Felder. Kein Hindernis konnte meine kleinen Ausbrüche stoppen. Wurden die Türen abgeschlossen, bin ich einfach zum Fenster raus. Wir wohnten damals quasi auf dem Dorf, am Stadtrand von Braunschweig. Und spannender als Kindergarten und Schule war es allemal, sich in der Natur herumzutreiben. Dort andere Jungs zu treffen und mit ihnen etwas zu unternehmen. Sobald es mir irgendwo zu langweilig wurde, bin ich gegangen. Und mir war oft langweilig. Im Kindergarten mussten wir Mittagsschlaf halten, und das war mit Abstand das Langweiligste, was ich mir vorstellen konnte. Sich mitten am Tag für zwei Stunden hinlegen? Obwohl man in dieser Zeit so viel Spannendes hätte erleben können? Ich konnte ohnehin nie einschlafen, und während die Kindergärtnerinnen am Tratschen waren – anstatt auf uns Kinder zu achten –, bin ich ausgebüxt. Langeweile war mir immer schon suspekt. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Und das ist, so könnte man sagen, ein prägender Wesenszug in meinem Leben.
Meine Mutter stammte aus Grottkau bei Breslau, Oberschlesien, mein Vater aus Oebisfelde bei Stendal in Sachsen-Anhalt. Als nach dem Krieg die Menschen scharenweise aus Oberschlesien flüchteten, kamen auch meine Großeltern mütterlicherseits nach Sachsen-Anhalt. Kennengelernt hatten sich meine Eltern noch während des Kriegs. Mein Vater, 1920 geboren, war Pilot bei der Luftwaffe. Meine Mutter, Jahrgang 1924, Luftwaffenhelferin. Mein Vater war sich bewusst, dass er nach Ende des Kriegs nicht in der Sowjetischen Besatzungszone bleiben konnte, wenn er – wie alle ehemaligen Wehrmachtsoffiziere – nicht inhaftiert und vor Gericht gestellt werden wollte. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als sich in den Westen durchzuschlagen. Das tat er zunächst allein, meine Mutter blieb erst einmal in Oebisfelde. Hier kamen auch meine beiden älteren Geschwister zur Welt. Meine Schwester Sigrid wurde 1945 geboren, mein Bruder Siegfried zwei Jahre später.
Mein Vater hatte inzwischen in Braunschweig Arbeit gefunden, als kaufmännischer Angestellter beim Schrottunternehmen Cederbaum. An jedem Wochenende machte er heimlich »rüber«, immer in der Gefahr, verraten und verhaftet zu werden. Es dauerte aber noch bis 1950, ehe er meine Mutter und meine Geschwister in einer Nacht-und-Nebel-Aktion holen konnte, raus aus der frisch gegründeten DDR nach Niedersachsen.
Die Erzählungen meiner Eltern hörten sich dramatisch an, denn die Flucht ging über einen Fluss über die Grenze in den Westen. Manches Mal habe ich versucht, mir vorzustellen, wie mein Leben verlaufen wäre, wäre die Familie in Oebisfelde geblieben und ich in der DDR geboren und aufgewachsen. Natürlich bin ich froh, dass es nicht so gekommen ist. Und dann denke ich, dass es schlicht Zufälle sind, die darüber entscheiden, wie das eigene Leben weiter verläuft.
Meine Familie zog zunächst in einen Vorort von Wolfsburg und später ein paar Kilometer weiter nach Braunschweig, wo ich geboren wurde. Wir lebten zu dem Zeitpunkt in einer kleinen Wohnung in der Kleinen Straße 6. Fünf Personen auf wenigen Quadratmetern. Alles war beengt und wirklich übersichtlich. Unsere Wohnung gehörte wildfremden Menschen, den Eheleuten Wehrmann, die im selben Haus wohnten. Sie wurden im Laufe der Zeit zu zwei der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Ich nannte sie Tante Elli und Onkel Kurt, und diese beiden – das mag seltsam klingen – haben mein Leben wesentlich mehr geprägt, als es meine eigene Familie tat. Meine Mutter fand schon bald einen Job als Verkäuferin, und mein Vater handelte mit Schrott. Wir hatten unser Auskommen, das Leben war nicht gerade karg, aber doch ohne besonderen Komfort. Das Klo befand sich außerhalb des Hauses. Es gab weder Dusche noch Badewanne. Man wusch sich in der Küche, so war das damals. Und einmal die Woche nahm mein Vater uns Kinder mit in die Firma, weil man dort wunderbar heiß duschen konnte. Samstag war Duschtag, und das war immer etwas ganz Besonderes.
Man stellt sich ja gerne die Frage, wer man ist und woher man kommt. Schlage ich mehr nach meinem Vater aus, und was habe ich von meiner Mutter mitbekommen? Bei mir ist diese Frage leicht beantwortet: Wenn ich heute in den Spiegel schaue, sehe ich meinen Vater. Die aktivere, dominantere Person in meiner Familie war meine Mutter. Sie gab den Ton an, und wenn sie mal nicht weiterwusste, drohte sie uns Geschwistern immer mit Worten wie: Wartet mal, bis Vater nach Hause kommt, dann gibt’s richtig Ärger. Nur, mein Vater wollte alles, nur keinen Ärger. Er war zumeist ein ausgeglichener Mensch, der am liebsten seine Ruhe hatte. Manchmal aber musste er, allein um meiner Mutter einen Gefallen zu tun, ein väterliches Machtwort sprechen. Und dann konnte es passieren, dass es auch Schläge auf den Hintern gab. Wenn sich das anbahnte, war ich derjenige, der schon geschrien hat, bevor es mit der Abreibung losging. Weil es dann nicht so viele Schläge geben würde, so mein Kalkül. Die Rechnung ging auch auf, meistens jedenfalls, und ich kam recht glimpflich davon. Vom Vater geschlagen zu werden, das klingt heute schlimmer und brutaler, als ich es damals empfunden habe. So sahen die Erziehungsmaßnahmen aus, ohne dass ich sie empfehlen würde. Und ich kann nicht sagen, dass ich darunter besonders gelitten hätte. Trotz der – seltenen – Schläge, stand ich meinem Vater emotional sehr nah, sogar näher als meiner Mutter, was eigentlich ungerecht ist. Denn mit ihr verbrachte ich deutlich mehr Zeit als mit ihm, sie war diejenige, die uns letztlich erzogen hat, während mein Vater wegen seiner Arbeit viel seltener zu Hause sein konnte.
Wenn ich sage, meinem Vater war es am liebsten, wenn man ihm seine Ruhe ließ, dann meine ich damit auch das schwierige Feld der Vergangenheitsbewältigung. Bei uns war es nicht anders als in vielen Familien ehemaliger Wehrmachtssoldaten: Von seiner Kriegsgeschichte, von den Jahren im Nationalsozialismus, dem Erleben von Tod und Gewalt hat mein Vater fast nie etwas erzählen wollen. Und wenn er es tat, dann nur sehr ungern. Sobald man auf das Thema Krieg zu sprechen kam, wurde mein Vater einsilbig. Und daran rüttelten wir auch lange Zeit nicht, versuchten nicht, ihm etwas zu entlocken. 1969, ich stand kurz vor dem Abitur, es war die Zeit der 68er-Studentenbewegung, gingen wir Schüler auf die Straße. Erst da habe ich zum ersten Mal den Versuch gestartet und meinen Vater geradeheraus gefragt, wie das für ihn so war in jener Zeit. Doch auch da blockte er ab.
Erst viel später hat er angefangen zu erzählen. Das war Mitte der Achtziger, mein Vater war mittlerweile pensioniert, ich stand bereits im Beruf, und zum ersten Mal führten wir ein Vater-Sohn-Gespräch. Mein Vater war Pilot der Luftwaffe gewesen und war im Krieg Einsätze geflogen. Er war nie Mitglied der NSDAP, aber er war damals ein überzeugter Nationalsozialist, mit einem fast...