Kapitel 2
Glauben Sie nicht, was Sie denken:
Wie Relevanz unser Leben bestimmt
»Denken ist schwer, darum urteilen die meisten.«
Carl Gustav Jung
Relevanz zum Runterspülen
Erste Frage: Wussten Sie, dass konservative Politiker sich den Po eher mit der linken Hand abwischen, während linke Politiker dafür eher ihre rechte Hand bemühen?
Zweite Frage: Wollten Sie es wissen?
Dritte Frage: Fragen Sie sich gerade, wie zum Teufel man das herausgefunden hat?
Die unerhörte Information verdanken wir einer Studie des britischen Wissenschaftlers Gary Lewis.15 Sie bezieht sich auf die sogenannte Social-Priming-Theorie. Sie besagt, dass Menschen, die zuvor unbewusst für ein bestimmtes Thema sensibilisiert wurden, anschließend entsprechende körperliche Reaktionen zeigen können. So beobachteten Forscher, dass Menschen sich langsamer bewegten, wenn sie zuvor mit dem Thema Altern konfrontiert wurden – etwa durch Bilder, die ihnen gezeigt wurden.
Auf der Grundlage dieser Theorie habe er britische Abgeordnete darüber befragt, welche Hand sie nach dem großen Geschäft zur Spurenbeseitigung bevorzugten, so Lewis über seine Studie. Publiziert wurde sie in dem renommierten Magazin Psychology and Psychotherapy.16 Interessant ist, neben dem frappierenden Zusammenhang zwischen politischer Einstellung und Handgebrauch, auch die prominente Riege von Befragten, die sich dieser Studie im Dienst der Wissenschaft stellten: Teilgenommen hätten unter anderen die Parlamentarier Boris Johnski, Terese Maybe und Placido Domingo. Ein Abgeordneter namens Nigel F. Arage habe dagegen kein Interesse am Forschungsgegenstand gezeigt.17
Spätestens nach dieser Aufzählung ist Ihnen klar, dass ich Ihnen gerade einen Bären aufbinde. Das Erschütternde ist nur: Die Studie, die Gary Lewis frei erfunden hat, ist tatsächlich im besagten Fachmagazin erschienen. Und das, obwohl die Zeitschrift von sich behauptet, jeden Beitrag vor Veröffentlichung einer Qualitätsprüfung zu unterziehen, der sogenannten »Peer-Review«. Wäre das tatsächlich geschehen, wäre vermutlich irgendjemand über die fiktiven Politikernamen gestolpert – ganz zu schweigen von Lewis’ angeblichem Arbeitsplatz, dem »Institut für interdisziplinäre Politik- und Fäkalwissenschaften«.
Mit seiner Aktion wollte der Wissenschaftler allerdings nicht nur Spaß haben, sondern auf ein reales Problem aufmerksam machen: Forscher stehen heute unter enormem Druck, ihre Ergebnisse möglichst oft und breit zu publizieren. Und es gibt Magazine, die das ausnutzen und sich die Publikation bezahlen lassen – während sie gleichzeitig damit werben, durch angebliche Peer-Reviews wissenschaftliche Standards einzuhalten.18
Alles relevant, nur die Fakten nicht: ein Trend, der uns in unserer Intelligenz beleidigt und doch um sich greift. Der Grund, warum das so gut funktioniert, ist eigentlich ein erfreulicher: Menschen sind von Natur aus neugierig. Wir wollen so viel wie möglich wissen. Solange wir unter Kontrolle haben, was wir an Informationen aufnehmen, ist das eine gute Sache. Wenn wir Informationen konsumieren, die fürs Klo sind, nicht so sehr. Von letzteren gibt es leider immer mehr, die den relevanten Informationen Konkurrenz machen – ein Zustand, mit dem wir lernen müssen umzugehen. Dafür ist es hilfreich zu verstehen, wie das eigentlich funktioniert: »Wissen« beziehungsweise »Wissenserwerb«.
Relevanz und Wissen
Jeder Mensch verfügt über Wissen – die einen mehr, die anderen weniger, okay. Doch wie unterscheiden wir, welcher Teil unseres Wissens, das es in der Welt gibt, für unser Leben oder für eine bestimmte Situation relevant ist? Wie konstruieren wir uns unsere ganz persönliche Relevanz – und darauf beruhend unser Leben, Denken und Handeln?
Auf diese existenziellen Fragen suchte der Philosoph, Soziologe und Jurist Alfred Schütz (1899 bis 1959) in seiner Publikation Die Strukturen der Lebenswelt Antworten. Darin betrachtete er, wie Menschen Wissen erwerben, und warum sich das Wissen und der Umgang damit von Mensch zu Mensch unterscheidet – je nachdem, welche Erfahrungen sie im Lauf ihres Lebens machen.
Wir haben Wissen, weil wir vom Moment unserer Geburt an versuchen, Situationen zu bewältigen. Seit dem ersten Wimpernschlag ermöglichen unsere Sinne uns die Erfahrung der Realität. Legt ein Kind die Hand auf die heiße Herdplatte, empfindet es Schmerz und wird den Vorgang sicher nicht wiederholen. Das Wissen darüber, dass eine Herdplatte heiß sein kann, »sedimentiert« sich in seinem Gedächtnis. In der primären Sozialisation, also im Vorschulalter, und in der sekundären Sozialisation, also bis zum Alter von 17 bis 20 Jahren, wird Wissen vor allem auf abstraktem Weg in der Schule oder in der Familie vermittelt. Das Kind, der Jugendliche sedimentiert weiter Wissen.19
Der Begriff »Sedimentieren« geht auf die Geologie zurück: Wie der Boden besteht auch unsere Erinnerung, also unser durch Erfahrung angesammeltes Wissen, aus unterschiedlichen Schichten, die sich nach und nach durch die Bewältigung von Situationen im Leben ablagern – sowohl bewusst als auch unbewusst. Auf diesen Wissensvorrat greifen wir permanent zurück. Und wir sind als Menschen deshalb unterschiedlich, weil wir in unseren Biografien trotz vielleicht ähnlicher Voraussetzungen unterschiedliche Herausforderungen meistern mussten.
Aus genau diesem Grund sind für unterschiedliche Menschen auch unterschiedliche Informationen, Erfahrungen und Wissensbereiche interessant: Wir leben unterschiedlich, und deshalb hat verschiedenes Wissen Bedeutung dafür, wie wir unseren Alltag bewältigen. Für mich als regelmäßigen Redner etwa ist das Wissen, wie man auf der Bühne vor Tausenden Menschen mit einem Blackout umgeht, ein wichtiger Baustein für die Bewältigung meines Alltags. Wenn Sie dagegen nie vor größeren Menschenmengen sprechen, ist diese Information für Sie ziemlich nutzlos.
Die Tatsache, dass Menschen in derselben Situation völlig unterschiedlich denken, entscheiden und handeln, ist auch der Grund, warum wir unterschiedliche Prioritäten setzen – im Leben allgemein, und auch in unserem Wissenserwerb und in unserer Kommunikation. Diese Prioritäten sind gleichbedeutend mit »Relevanzen«. Verkürzt gesagt bilden die Relevanzen, die wir aufgrund unserer Lebenssituationen und Erfahrungen setzen, um unser Wissen und unser Handeln zu organisieren, unsere individuellen Relevanzstrukturen. Jeder Mensch hat also seine eigenen. Sie sind dafür verantwortlich, dass wir die Welt unterschiedlich und auch selektiv wahrnehmen.
Deshalb ist Relevanz keine Schablone, die wir bequem über alles Wissen in der Welt legen könnten, um alle auf einen Schlag gleich schlau zu sein. Relevanz ist etwas hochgradig Individuelles. Wie Sie Wissen erwerben, wie Sie damit umgehen und welche Prioritäten Sie setzen, um mit Ihrem individuellen Wissensvorrat Ihr Leben zu gestalten, verändert sich mit jeder einzelnen Situation, die Sie je bewältigt haben, und mit jeder einzelnen Erfahrung, die Sie je gemacht haben. Ihre Relevanzstrukturen sind so individuell wie ein Fingerabdruck. Diese hochgradig individuellen Strukturen, die Ihren Wissenserwerb steuern und Ihren Umgang mit Informationen formen, sind so etwas wie der Werkzeugkasten, mit dem Sie Ihr Leben bewältigen. Niemand hat denselben Werkzeugkasten wie Sie – denn niemand hatte immer dieselben Baustellen wie Sie.
So weit, so gut – wenn wir denn tatsächlich nur hilfreiches Wissen erwerben würden. Leider erwerben wir aber nicht nur, wie Schütz in seiner Theorie voraussetzt, hilfreiches Wissen – schon gar nicht, seit die Massenmedien und das Internet so viel Ablenkung für uns bereithalten. Wir sind schlampig geworden mit unserem Wissenserwerb – und das wirkt sich natürlich auf unsere Relevanzstrukturen aus, die erworbenes Wissen priorisieren. Wir halten es mit der Relevanz oft wie mit der Ernährung: Wir stopfen alles Mögliche in uns rein, das nicht gut für uns ist.
Illusion des Wissens
Relevanz bestimmt also unser Leben, ob wir das wollen oder nicht. Die Relevanz oder Irrelevanz von Botschaften, die wir an uns heranlassen, steuert unser Denken und Handeln und nimmt direkten Einfluss auf unsere Prioritäten. Im Alltag orientieren wir uns permanent an Relevanzkriterien. Wir machen uns diesen Prozess nur in aller Regel nicht bewusst.
Auch wenn wir noch so aufgeklärte, vernünftige und rational denkende, hochqualifizierte Individuen sind: Die Relevanz hat die meisten von uns weit besser im Griff als wir unsere Relevanz. Ich denke, also bin ich relevant? Schön wär’s. Der vielleicht größte Irrglaube über das Denken ist, dass wir es unter Kontrolle hätten.
Wir denken uns topinformiert, sind es aber nicht. Deshalb treffen wir falsche Entscheidungen.20 Allein aufgrund der Tatsache, dass alles Wissen theoretisch per Mausklick zugänglich ist, halten wir uns für schlauer, als wir sind – doch wir zapfen all das verfügbare Wissen nicht wirklich an. Vielmehr berufen wir uns mehr denn je auf den Wissenskonsens in unserem selbst gewählten oder durch soziale Prägung erworbenen Umfeld; einschließlich der digitalen Blase, in der wir uns aufhalten. Mit allem anderen fühlen wir uns im Alltag völlig überfordert.
Kein Mensch könnte zum Beispiel alle Studien über Ernährung konsumieren – zumal noch schnell vor dem Abendessen. Also halten wir uns an das, was wir in einem Internetforum unserer Wahl, von der...