Russland I
Volles Risiko
Am 31. Oktober 2018 hielt im Weißen Haus in Washington eine russische Läuferin eine Rede. Die Drogenkontrollbehörde der USA, die direkt dem Büro des Präsidenten unterstellt ist, hatte sie eingeladen. Der Rahmen war prachtvoll: Flaggen, Wandgemälde, viel Marmor und Stuck, hohe Decken.
Die Sportlerin kam gleich zur Sache. Als Athletin sei sie Teil des russischen Dopingsystems gewesen. Sie habe betrogen. Und jetzt spreche sie darüber. Als Whistleblowerin versuche sie seit sechs Jahren zu zeigen, dass sie sich geändert habe und dabei helfen wolle, dass der Sport sauber werde.
»Ich begann mit siebzehn, auf Wettkampfniveau zu laufen«, erzählte die Sportlerin. »Mit zwanzig begann mein Trainer, mir Testosteron zu geben. Da hat es angefangen. Bald bekam ich Epo-Spritzen, nahm Steroide und mehr. Nachdem ich all die Dopingsubstanzen genommen habe, habe ich heute gesundheitliche Probleme. Mein Ferritin-Wert ist zwanzigmal höher, als er sein sollte. Ärzte sagen mir, durch mein Training werde das Extra-Ferritin in meinem Körper verbraucht. Wenn ich aber aufhöre zu trainieren, muss ich eine andere Lösung finden – oder ich sterbe an einer Eisenvergiftung.«
Die Sportlerin, damals zweiunddreißig Jahre alt, heißt Julia Stepanowa. Ihre Rede war nicht die einzige bei der Tagung, aber aus meiner Sicht die eindringlichste. Ihre Worte hallten bedeutungsschwer durch den Raum. Die Teilnehmer wirkten gebannt.
Mein Respekt konnte durch den eindrucksvollen Auftritt von Julia Stepanowa tatsächlich nicht mehr wachsen. Ohne die Entschlossenheit und den Mut dieser früheren Spitzenläuferin und ihres Mannes Witali hätte die ARD das systematische Doping in der Sportnation Russland nicht aufdecken können. Es hätte keine unabhängige Kommission ermittelt. Der russische Leichtathletikverband wäre nicht aus dem Internationalen Leichtathletikverband IAAF verbannt worden. Die Welt hätte nicht erfahren, in welchem Ausmaß russische Sportler gedopt wurden. Und wie auch hohe Funktionäre außerhalb Russlands davon profitierten. Ohne Julia und Witali Stepanow wäre auch nicht ein anderer Russe in die USA geflüchtet und dort zum Kronzeugen des russischen Staatsdopings geworden. Niemand hätte erfahren, wie viele Sportarten in Russland von dem staatlich unterstützten Dopingsystem betroffen waren.
Auch für mich wäre manches anders gelaufen, wenn die Stepanows sich nicht entschieden hätten, mit dem russischen Dopingsystem zu brechen und es mit ihrem Insiderwissen von außen zu bekämpfen. Mit ihrer Bereitschaft auszupacken, begann für mich eine Russlandrecherche, die so schnell nicht enden sollte. Journalistisch habe ich viel aufdecken können, unsere Arbeit hat hohe Anerkennung erfahren. Persönlich brachte mir die Beschäftigung mit der Sportmacht Russland manches Mal auch Unannehmlichkeiten.
Was hat mein Interesse an Russland geweckt? Zunächst ein Kongress von Sportmedizinern in Wien 2010, an dem ich selbst gar nicht teilgenommen habe. Dort trat ein Forscher aus Russland auf, ein renommierter Mann, Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Moskau. Ein Teilnehmer des Symposiums wandte sich später an mich. Was der Russe vorgetragen hatte, empörte ihn. Der Forscher habe von einem neuen Mittel geschwärmt, das Muskeln wie aus dem Nichts wachsen lasse. Es sei für medizinische Zwecke entwickelt worden, habe aber bei gesunden Menschen Nebeneffekte, die man doch mal ausprobieren solle, bei sich selbst etwa. Oder man könne es gern auch mal der Gattin mitbringen. So hatte sich der Russe dem Kongressteilnehmer zufolge geäußert.
Wir hatten damals überlegt, dieser Spur nachzugehen, und der Mann trat dann auch in Hannover bei einem weiteren Fachkongress auf. Wirklich verfolgt haben wir die Sache aber nicht. Bis mir der Wissenschaftler Ende des Jahres 2013 wieder einfiel. Er war ja aus Russland. Und im Februar empfing sein Heimatland die Sportwelt zu den Olympischen Winterspielen in Sotschi.
Ich schickte dem Forscher eine Mail und fragte, ob er mir etwas zu seiner Arbeit erzählen könne. Dabei gab ich mich als Manager von Olympiateilnehmern aus. Der Fisch biss an, sofort. Wir verabredeten uns für Januar 2014 in Moskau.
Völlig unbekannt war ich als Journalist zu dem Zeitpunkt nicht mehr. Doch in Russland dürfte mich damals kaum jemand gekannt haben. Trotzdem tarnte ich mich. Ich habe das danach nie wieder getan, würde es wohl auch nicht wieder machen, aber damals, in diesem Fall, schien es mir hilfreich. Vor meinem Abflug besorgte ich mir bei einem Maskenbildner vom Theater einen künstlichen Vollbart. Zudem wechselte ich meine Brille, trug nun ein Modell mit dicken dunkelbraunen Rändern und breiten Bügeln.
An einem weißen Wintertag im Januar 2014, einem Samstag, saß ich dem Wissenschaftler in einer Gaststätte in Moskau gegenüber. Wir waren fast die einzigen Gäste. Ich hatte eigentlich mit einer längeren Gesprächsanbahnung gerechnet. Doch er vermittelte mir den Eindruck, dass er schnell zur Sache kommen wolle. Der Mann, zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt, berichtete von seiner Forschung und dem Wundermittel, das er »Fullsize MGF« nannte. »Es wirkt im Muskel doppelt so stark wie ein herkömmlicher Wachstumsfaktor«, erklärte er mir. Bisher werde es nur in geringen Mengen hergestellt und sei sehr teuer, aber eben nicht nachzuweisen. Zwei bis drei Tage vor dem Wettkampf sei der beste Zeitpunkt für eine Injektion.
Ich ahnte, dass hieraus eine interessante Geschichte werden könnte, und wollte keine Zeit verlieren. Also fragte ich ihn ohne Umschweife, ob ich eine Probe des Mittels nach Deutschland mitnehmen könne. Ich würde es dort in einem geheimen Labor auf Echtheit untersuchen lassen, danach könnten meine Sportler es testen. Das war für ihn in Ordnung, nur: Er hatte keine Probe dabei.
Nun musste ich überlegen. Ich wollte an diesem Samstag noch weiter nach Sotschi fliegen, um dort Sonntag früh zum Hintergrundgespräch Grigori Rodtschenkow zu treffen, den Chef des Dopingkontrolllabors der bevorstehenden Olympischen Winterspiele. Am Sonntagabend sollte mein Flieger von Moskau zurück nach Berlin gehen.
Ich fragte den Wissenschaftler in der Gaststätte, ob er mir die Probe vielleicht schon morgen am späten Nachmittag übergeben könne. Dann wäre ich wieder in Moskau.
Kein Problem, antwortete er.
Ein anderes Problem konnte der unkomplizierte Forscher hingegen nicht lösen. Als wir uns verabschiedeten, war mir das noch nicht klar. Aber bald danach: Im Laufe des Nachmittags löste sich nämlich langsam mein falscher Bart. Den hatte ich mir vor dem Treffen morgens im Hotel sorgfältig angeklebt. Einen Ersatzbart hatte ich aber nicht mitgenommen, ausreichend Theaterkleber, um ihn erneut zu befestigen, ebenfalls nicht. Dass ich den Forscher gleich zweimal kurz hintereinander treffen würde, hatte ich nicht in Betracht gezogen.
Ich flog ans Schwarze Meer und traf am Sonntagmorgen auf dem Olympiagelände Grigori Rodtschenkow. Der Leiter des Moskauer Dopinglabors dachte wahrscheinlich, ich hätte einen Tick: Während unseres Gesprächs umschloss eine meiner Handflächen unentwegt meine Kinnpartie.
Allzu lang sprachen Rodtschenkow und ich nicht miteinander. Ich fragte mich später, ob sein Staat ihm schon damals misstraute und ihn von Agenten beobachten ließ. Ich selbst erfuhr jedenfalls zwei Jahre danach, dass mein Trip ans Schwarze Meer wahrgenommen worden war. Russische Medien berichteten, 2014 sei Seppelt in einem Flugzeug auf dem Weg von oder nach Sotschi gesehen worden, ein Passagier habe ihn trotz falschen Bartes erkannt.
Für den Moment war ich froh, wieder im Flugzeug zurück nach Moskau zu sitzen, eine Hand am falschen Bart. Als Treffpunkt hatte der Wissenschaftler nur »belarus station« angegeben, den Weißrussischen Bahnhof im Nordosten Moskaus. Es dämmerte bereits, als ich auf dem verschneiten Vorplatz ankam. Als würde hier gleich eine Szene für einen Agentenkrimi gedreht, standen Grüppchen von Soldaten herum, vielleicht waren es auch Polizisten. Auf mich wartete ein Mann in hoch geschlossenem Mantel, der eine landestypische Fellmütze trug. Ich selbst hatte mich ebenfalls eingemummelt. Aus gegebenem Anlass verbarg ein dicker roter Schal das untere Drittel meines Gesichts.
Der Mann deutete auf ein Auto. Ich stieg ein und erkannte dort den Wissenschaftler. Mit meinem Smartphone nahm ich das Treffen unauffällig auf.
Zum Glück war dem Russen auch diesmal nicht an ausufernder Kommunikation gelegen. »Sie bekommen ein Milligramm erst mal so, damit Sie prüfen können, dass es rein ist«, teilte er mir mit. »Ich kann Ihnen dann später mehr anbieten. Sie erhalten hier die optimalen Dosierungstipps, können das noch vor Sotschi nehmen. Wem Sie es dann geben, interessiert mich nicht.« Für eine Hundert-Gramm-Lieferung seien hunderttausend Dollar zu zahlen, sagte er.
Ich verabschiedete mich. Dann schritt ich zügig in ein Restaurant im Bahnhofsgebäude und dort auf die Toilette. Der Bart ließ sich leicht lösen. Weg damit, dachte ich nur. Erleichtert flog ich noch am Abend zurück nach Berlin.
Zu Beginn der folgenden Woche lag die Probe schon auf dem Tisch des Dopingkontrolllabors der Kölner Sporthochschule. Dorthin hatte ich sie sofort nach meiner Rückkehr per Kurier geschickt. Die Biochemiker vor Ort hatten ein solches Mittel vorher noch nie auf dem Tisch gehabt und analysierten die Substanz sofort. »Wir haben festgestellt, dass es authentisches MGF ist«, sagte uns Professor Mario Thevis. Diese bei Dopingtests nicht nachweisbare neuartige Substanz sei als »hochwirksam« in puncto Muskelwachstum...