Die Bühne glänzt tiefblau wie ein Gletschersee, dessen Eis zu betreten gleichzeitig so verlockend wie riskant ist. Gigantische Scheinwerfer tauchen die Halle in gleißendes Licht, wenig später in schimmerndes, dunkles Rot. Die Spannung steigt.
Das Studio Berlin-Adlershof fasst mehr als 1000 Menschen. Hier sind schon Weltstars und Poplegenden aufgetreten. Heute Abend sind Herbert Grönemeyer, die schwedische Popikone Zara Larsson, Olly Murs, Tom Odell, Lukas Graham und die britische Chartstürmerin Jess Glynne mit dabei. Ausnahmekünstler, die es geschafft haben, über Landesgrenzen hinaus gefragt sind und mit ihren Songs die Menschen begeistern, berühren und bewegen. Hier, auf einer funkelnden Bühne sind sie in Tuchfühlung mit dem Publikum gekommen. Und genau das ist der Traum der vier jungen Menschen, die sich jetzt hier versammelt haben. Für sie bedeutet diese Bühne die Welt. Sie wollen ihr Bestes geben – es ist Sonntag, der 16. Dezember 2018, 15 Minuten nach acht.
Unzählige Kameras sind in Position gebracht. Dazu eine Menge an Helfern: Bühnenmitarbeiter, Ton- und Lichttechniker, Stylisten mit ihren Puderdosen und Pinseln, das Team von Regie und Aufnahmeleitung, Vocal-Coaches und viele andere. Sie alle bleiben verborgen für die zwei Millionen Zuschauer, die gerade vor dem Fernseher sitzen.
Das Finale von The Voice of Germany ist ein gigantisches Spektakel, bei dem es um Talent, einen großen Traum und die nötige Portion Glück geht.
Mehrere Tausend mutige Sängerinnen und Sänger haben sich vor Monaten den Scouts der Sendung gestellt. Nur wenige Hundert, besonders talentierte schafften es in die engere Wahl. Dann wurde es mit jeder Runde des Wettbewerbs härter, weiterzukommen. Sogenannte Blind Auditions, Battles und Sing-Offs und das Halbfinale sind unerbittliche Filter auf dem Weg nach oben. Nur vier nervenstarke, außergewöhnlich begabte Menschen schaffen es schließlich, ins Finale einzuziehen. Es geht um die eine, die beste Stimme unseres Landes. Es geht um The Voice of Germany, die am Ende des Abends von Millionen Zuschauern ausgewählt wird. Eine Frau und drei Männer haben es in diese letzte Runde geschafft und werden bald als Musiker und Sänger ins Rampenlicht treten: Jessica, Benjamin, Eros und Samuel. Für wen wird sich in den nächsten Stunden der Lebenstraum erfüllen?
Die Bühne, der Ort der Entscheidung, erstreckt sich mehr als 30 Meter über die komplette Hallenbreite. Jede Emotion der Sänger wird durch die Kameras auf ein riesiges LED-Panel übertragen. Nur einer kann das Finale, das live im Fernsehen übertragen wird, gewinnen. Einer der vier ist Samuel Rösch. Er ist mit einem guten Vorsatz gekommen: »Erwarte nichts, aber sei auf alles vorbereitet.«
Ich habe die Regieanweisungen im Kopf, bin vorbereitet und ich kenne jeden Schritt, den ich in den nächsten Sekunden gehen werde. Das hier ist eine andere Nummer als das Halbfinale, die Blind Auditions, die Battles, die Sing-Offs und andere Vorentscheidungen der letzten Monate. Obwohl ich am Nachmittag zur Generalprobe exakt an der gleichen Stelle stand, fühlt es sich in diesem Moment völlig anders an. Mein Herz schlägt so stark, dass ich einen absurden Augenblick lang denke, jeder kann es sehen. Ich schlucke, versuche tief in den Bauch zu atmen.
Iwan, der Techniker, hat gute Arbeit geleistet. Die maßgefertigten, In-Ears genannten Kopfhörer spüre ich kaum in meinem Gehörgang. Nahezu unsichtbar garantieren sie mir einen perfekten Klang, damit ich meine eigene Stimme auf der Bühne gut hören kann, auch die Ansagen von Moderatoren und der Regie. Alle anderen Geräusche sind gedämpft.
Die Stimme aus dem Off unterbricht alle weiteren Gedanken: »Und hier kommt live aus Berlin das Finale von The Voice of Germany 2018.« Wir sind auf Sendung!
Dass gerade mehr als zwei Millionen Menschen zuschauen, versuche ich zu verdrängen. Als erster der vier Finalisten werde ich direkt in das Medley von Olly Murs einsteigen. Ich bin angespannt, könnte schwören, die Luft in der Halle vibriert.
Die Spannung entlädt sich, als Olly, das britische Pop-Idol, zu singen beginnt. Er steht hinter der letzten Zuschauerreihe. Beifall brandet auf, Fans kreischen.
2150 Augen folgen dem Lichtkegel, in dem sich Olly Richtung Hauptbühne bewegt. Er hat offensichtlich Freude daran. Geschmeidig tanzt er zwischen den begeisterten Fans die Treppen herunter auf mich zu.
Ich stehe zwischen Michael Patrick Kelly, meinem Coach, und Michi Beck von Die Fantastischen Vier, dessen Füße im Takt wippen, und weiß, jetzt kommt der Moment. Gleich werde ich das Mikro hochnehmen, und dann muss ich den Ton exakt treffen. Meine Kehle fühlt sich trocken an. Noch fünf Meter, noch drei, zwei – ich atme tief durch, höre das »Go« aus der Regie in meinem Ohr, schaue direkt in die Kamera und konzentriere mich noch kurz darauf, Ollys Hand abzuklatschen.
Geblendet vom Licht der Scheinwerfer, vergesse ich die Welt um mich herum, nehme Ollys Rhythmus auf und singe meinen Part: »Dear Darling, please excuse …«.
Ohne zu stolpern, erreichen wir beide die Hauptbühne. Zwei Schritte links, dann die Drehung zum Publikum. Ich setze mich an den Bühnenrand und schaue Eros, Jessica und Benjamin, den anderen Finalisten, bei ihrer Performance im Anfangsmedley zu. Alles läuft ab wie ein Film. Ich bin dabei und sehe mich zugleich von außen. Ziemlich surreal. Gemeinsam bringen wir den Einstiegssong hinter uns.
Geschafft – das Intro ist gut gelaufen. Der glänzend blaue Grund, er hat mich getragen.
Wie eine Welle verbreitet sich rauschender Applaus durch das Studio, umfängt uns und bringt mich zurück in die Realität. Die Moderatoren übernehmen gut gelaunt ihren Part, und ich verlasse die Bühne.
In der Pause warte ich backstage auf den Einsatz für mein Solo. Große Sofas stehen in einem separaten Raum, man kann sich ungezwungen bewegen. Ich bin einigermaßen entspannt. Doch auch hier gibt es Kameras, die zeitweise auf Sendung gehen und den Zuschauern das Gefühl geben, mit einem Blick hinter die Kulissen hautnah an uns dran zu sein. Und egal wohin ich gehe – es ist immer ein sogenannter Runner dabei. Im Gewirr der Studiogänge kann man sich leicht verirren und riskiert, seinen nächsten Einsatz in der Show zu verpassen.
Vier Songs muss ich heute Abend performen. Als Nächstes folgt ein Solo, danach zwei Lieder im Duett – eines mit meinem Coach Michael Patrick Kelly und das zweite mit Lukas Graham, einem dänischen Popstar.
In den Konzerten mit meiner Band PaperClip singe ich wesentlich mehr Songs. Allerdings kenne ich diese Lieder dann auch schon in- und auswendig. Wir haben die Stücke selbst getextet oder ausgewählt, sie oft geprobt und musikalisch immer weiterentwickelt.
Das Finale von The Voice of Germany ist eine ganz andere Herausforderung. Vier Lieder habe ich zugeteilt bekommen, deren Text, Melodie und Interpretation ich in nicht mal einer Woche in Kopf und Herz bekommen muss. Willst du gut sein als Sänger, dann brauchst du Bilder und Emotionen zu jedem Text – diese brauchen Zeit, um zu reifen. Ich hatte genau drei Tage. Das sind 72 Stunden, in denen man wenig isst, wenig schläft und alles gibt, um die Songs kennen- und lieben zu lernen.
Am letzten Dienstag verkündete mir Michael Patrick Kelly: »Du wirst als Solo beim Finale ›In diesem Moment‹ singen.« Ich kenne den Song des verstorbenen Sängers Roger Cicero bislang nur vom Hören. Ihn nun selbst zu singen und zu interpretieren ist für mich eine große Nummer! Herausforderung und Ehre zugleich. Cicero, der Ausnahmekünstler. Der Mann, der immer sagte: »Wenn du die Wahl hast, ob du stehen bleibst oder tanzt, dann hoffe ich, du tanzt.« Ein Künstler, der für seine Leidenschaft Musik alles gegeben hat.
Ein großes Vorbild für mich – und zugleich ein warnendes Beispiel. Denn ich habe im letzten halben Jahr, im »The-Voice-Fieber«, selbst gespürt: Du musst alles geben. Es war eine intensive Zeit der Vorbereitung, die ein hohes Tempo erfordert.
Und es wird erwartet, dass du mitziehst.
Es braucht Durchsetzungsvermögen, um etwas anders machen zu wollen, als es sich Regie und Produktion vorstellen. Viel leichter ist es, einfach das zu machen, was andere gut finden. Sie wollen dir helfen, das Outfit, die Performance und die Statements für die Kamera auszusuchen.
Ich will mir treu bleiben, mich selbst nicht verlieren. Und dafür brauche ich einen festen Grund, eine innere Tiefe, in der ich Halt finde, wenn außen alles an mir zerrt. In wenigen Wochen »Musikbusiness« habe ich schnell begriffen: Wenn du keine eigene Überzeugung hast oder wenn du nicht sagst, was du willst oder brauchst, dann sagen es dir die anderen.
Bei meinem Soloauftritt zu »In diesem Moment« weiß ich, was ich will. Ich will Klarheit und Ruhe auf der Bühne. Choreografen schauen auf die Bewegungen, das Publikum will vermeintlich »Action«. Doch ich bin dem Lied und seinem Verfasser etwas schuldig: pure Präsenz. Ich werde deshalb einfach nur auf der Bühne stehen. Roger Ciceros Worte mit meiner eigenen Geschichte verbinden. Es sind irgendwie inzwischen auch meine Worte, ich finde mich jedenfalls gut darin wieder. Und ich singe in dem Wunsch, Roger Cicero könnte das alles nun miterleben.
Die Regie unterbricht meine Gedanken mit einem Knacken im Ohr, und ein Assistent holt mich zurück in die Studiohalle. Es ist so weit.
Ich steige die wenigen Stufen hinauf, gehe in die Mitte der jetzt dunkelblau schimmernden Bühne und stehe fast verloren zwischen den...