|17|Kapitel 2
Diagnostik und Behandlung der Depression
2.1 Epidemiologie
Laut einer Studie der WHO zählen depressive Störungen zu den wichtigsten Volkskrankheiten (Lopez, Mathers, Ezzati, Jamison & Murray, 2006). Üstün, Ayuso-Mateos, Chatterji, Mathers und Murray (2004) gehen davon aus, dass unipolare Depressionen in den Industrieländern bis 2020 unter den das Leben beeinträchtigenden oder verkürzenden Krankheiten nach der koronaren Herzerkrankung die größte Bedeutung haben werden.
Die 12-Monats-Prävalenz der unipolaren Depression liegt bei Frauen bei 10,6 % und bei Männern bei 4,8 % (Jacobi et al., 2014). Depressionen treten in jedem Lebensalter auf. Sowohl der Zeitpunkt der Ersterkrankung als auch der Verlauf der Depression sind von Person zu Person sehr unterschiedlich, wobei ein bedeutsamer Anstieg im Jugendalter zwischen 15 und 18 Jahren besteht (Hankin et al., 1998). Die Suizidrate (vollendete Suizide) steigt stetig mit dem Alter und ist am höchsten bei älteren Männern (Althaus, Stefanke, Hasford & Hegerl, 2002). Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes nehmen sich in Deutschland insgesamt mehr als 10.000 Menschen pro Jahr das Leben (2015).
Die Symptome einer Depression führen zu einer starken Beeinträchtigung des körperlichen und psychischen Befindens (Katon, Lin, Russo & Unutzer, 2003) und zu erheblichen Auswirkungen auf die sozialen Beziehungen und die Arbeitsfähigkeit der Erkrankten (Ormel et al., 1999). Depressive Arbeitnehmer haben zudem deutlich mehr Arbeitsunfähigkeitstage und vorzeitige Berentungen als nicht depressive Arbeitnehmer (Ormel et al. 1994; VDR-Statistik: Verband deutscher Rentenversicherungsträger, 2004). Die direkten und indirekten Kosten betragen in Deutschland jährlich bis zu fast 22 Milliarden Euro (Allianz, 2011).
Als protektive Faktoren gelten der Familienstand (verheiratet sein), das Vorhandensein einer vertrauensvollen persönlichen Beziehung, Berufstätigkeit (Jacobi et al., 2004) sowie sozioökonomische Faktoren (insb. ein höheres Bildungsniveau; Bijl, Ravelli & van Zessen, 1998).
2.2 Ätiologie
Allgemein ist eine komplexe Interaktion zwischen genetischen Faktoren, frühkindlichen Erfahrungen, psychosozialen Faktoren und somatischen Erkrankungen für die Entstehung und den Verlauf depressiver Störungen verantwortlich (DGPPN et al., 2015). Depressive Störungen treten in Familien gehäuft auf. Das Risiko, an einer Major Depression zu erkranken, ist bei Kindern mit einem erkrankten Elternteil etwa sechsmal höher als für Kinder unauffälliger Eltern (Downey & Coyne, 1990).
Es existieren verschiedene Modelle für die Entstehung einer Depression. Sie tritt laut dem Vulnerabilitäts-Stress-Modell von Zubin und Spring (1977) dann auf, wenn zusätzlich zu einer Vulnerabilität (Genetik, Lebensgeschichte) umweltbedingte Stressfaktoren hinzukommen. Wenn diese Stressoren für den Betroffenen als unkontrollierbar wahrgenommen werden, spricht man laut Seligman (1992) von einer Erlernten Hilflosigkeit. Das Verstärker-Verlust-Modell von Lewinsohn (Lewinsohn, Lewinsohn, Munoz, Youngren & Zeiss, 1986) geht dagegen davon aus, dass eine Depression dann entsteht, wenn im Vorfeld Belohnungen wegfallen, welche für die Person bedeutsam waren. Das Depressionsmodell nach Beck (|18|Beck, Rush, Shaw & Emery, 1981) hingegen stellt die Vermutung auf, dass kognitive Verzerrungen (negative Sicht der Welt, der eigenen Person und der Zukunft) eine Depression auslösen und aufrechterhalten.
2.3 Erscheinungsbild und Diagnostik
Ebenso vielgestaltig wie die Entstehungsmodelle sind die Erscheinungsformen der Depression. Während bei den einen Betroffenen eher die typischen depressiven Symptome wie Traurigkeit, Freud- und Antriebslosigkeit im Vordergrund stehen, sind bei anderen eher Anspannung und Gereiztheit zu beobachten.
Für die Diagnostik unterscheidet die ICD-10 zwischen leichten (F32.0), mittelgradigen (F32.1) und schweren (F32.2) depressiven Episoden (Dilling, Mombour & Schmidt, 2015). Der Schweregrad der depressiven Störung richtet sich nach der Anzahl der Haupt- und Zusatzsymptome. Mindestens zwei der drei (bei einer schweren Episode: drei) Hauptsymptome müssen mindestens zwei Wochen bestehen. Die Patienten leiden zusätzlich zu den Hauptsymptomen unter zwei (leichte Episode, F32.0), drei- bis vier (mittelgradige Episode, F32.1) bzw. mindestens vier (schwere Episode, F32.2) Zusatzsymptomen. Eine schwere depressive Episode kann zusätzlich „mit psychotischen Symptomen“ (F32.3) klassifiziert werden, wenn Wahnideen, Halluzinationen oder ein depressiver Stupor auftreten.
Hauptsymptome depressiver Episoden sind nach der ICD-10 depressive, gedrückte Stimmung, Interessenverlust und Freudlosigkeit sowie Verminderung des Antriebs.
Zusatzsymptome sind nach ICD-10:
verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit
vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit
negative und pessimistische Zukunftsperspektiven
Suizidgedanken, erfolgte Selbstverletzung oder Suizidhandlungen
Schlafstörungen
verminderter Appetit
Zudem lassen sich depressive Störungen nach der ICD-10 nach der Verlaufsform (monophasisch, rezidivierend oder chronisch) klassifizieren. Rezidivierende depressive Störungen sind solche, die sich durch wiederholte depressive Episoden charakterisieren lassen. Zentrales Kriterium ist, dass in der Vorgeschichte mindestens eine depressive Episode stattgefunden hat. Die Besserung zwischen den Episoden ist im Allgemeinen vollständig.
Bei mindestens 50 % der Erkrankten kommt es nach der Ersterkrankung zu mindestens einer weiteren depressiven Episode (Wittchen, Müller, Schmidtkunz, Winter & Pfister, 2000). Die Wahrscheinlichkeit einer Wiedererkrankung erhöht sich nach zweimaliger Erkrankung auf 70 % und liegt nach der dritten Episode bei 90 % (Kupfer, 1991). Bei etwa 15–20 % entwickelt sich eine chronische Depression, die über zwei Jahre andauert (Keller et al., 1992).
Einer der Hauptrisikofaktoren für ein Rezidiv sind Restsymptome, die nach dem Ende der depressiven Episode weiter andauern (Nierenberg, Petersen & Alpert, 2003).
Der Übergang von der Bestimmung der relevanten Form und den Ursachen der Depression hin zu einer personalisierten Diagnostik, als Grundlage für eine entsprechend personalisierte Behandlung, ist fließend. Aufgrund der Komplexität der Störung bedeutet dies für die Diagnostik, dass diese auf mehreren Ebenen durchgeführt werden soll:
ein klinisches Interview (Abfragen der Haupt- und Zusatzsymptome und frühere Episoden),
Selbstbeurteilungs- (z. B. das Beck Depressions-Inventar Revision, BDI-II; Hautzinger, Keller & Kühner, 2006) und Fremdbeurteilungs-Fragebögen (z. B. Hamilton-Depressions-Skala – Deutsche Fassung, HAMD; Collegium Internationale Psychiatriae Scalarum, 2015),
Bestimmung von Blut- und Hormonwerten, Liquordiagnostik,
Körperfunktionstests, wie z. B. ein EKG,
spezifische Gentests, z. B. für das Ansprechen auf bestimmte Medikamente,
eine Bildgebung des Gehirns,
eine neurologische und neuropsychologische Untersuchung und
ein EEG.
So kann auch eine somatische, insbesondere hirnorganische Ursache ausgeschlossen werden. Je nach den in der Diagnostik bestimmten Einflussfaktoren ist dann auch die Behandlung darauf anzupassen.
2.4 Behandlung
Laut Leitlinien für unipolare Depression der DGPPN (DGPPN et al., 2015) richtet sich die Wahl der geeigneten Behandlungsform nach klinischen Faktoren (Symptome und Symptomschwere), dem Erkrankungsverlauf und der Patientenpräferenz.
Zur Behandlung akuter leichter depressiver Episoden wird eine Psychotherapie empfohlen. Bei einer mittelschweren Depression empfiehlt sich entweder eine |19|Psychotherapie oder eine Behandlung mit Medikamenten. Bei schweren und rezidivierenden sowie chronischen Depressionen, Dysthymie und Double Depression sollte eine Kombinationsbehandlung ...