Das Geheimnis des al-Suli
Ein uraltes Manuskript zeigt eine Aufgabe des berühmten al-Suli, die über viele Jahrhunderte nicht gelöst werden konnte. Ein wahres Kleinod der arabischen Schachkunst, das eine Brücke bis zur Gegenwart schlägt. Al-Suli nahm das Geheimnis seiner Inspiration mit ins Grab.
Eine rätselhafte Stellung, 12. Jahrhundert
Aus dem Manuskript des Abu’l-Fath Ahmad al-Sinjari, 12. Jh.
Schwarz ist am Zug, Weiß gewinnt
„Diese Aufgabe ist sehr alt und dennoch konnte weder al-Adli noch irgendjemand anderer sagen, ob sie unentschieden oder gewonnen ist. Noch hat sie irgendjemand erklären oder die Lösung zeigen können, weil sie so schwierig ist. Es gibt niemanden auf der Welt, der sie gelöst hat, außer, wenn ich es ihm gezeigt habe. Ich habe auch nie gehört, dass es irgendjemanden früher gegeben hätte, der dazu fähig gewesen wäre, denn hätte jemand diese Aufgabe gelöst, würde er die Lösung aufgeschrieben haben oder sie jemandem gezeigt haben.“ So zitiert Abu’l-Fath in seinem Schachmanuskript aus dem 12. Jahrhundert den Schachmeister al-Suli und gibt die ersten beiden Züge, die uns al-Suli verrät, als Hinweis zur Lösung an: 1…Kd5 2.Kb4 Kd6.
Wahrlich stolze Worte eines Mannes, der sich seines Wissens und Könnens wohl bewusst war. Aber klingen sie angesichts der harmlos wirkenden Stellung nicht wie eine maßlose Übertreibung? Wer war dieser al-Suli, der mit vollem Namen Abu Bakr Muhammad ibn Yahya ibn Abdullah ibn al-Abbas ibn Muhammad ibn Sul Tigin hieß und der vor mehr als tausend Jahren seinen Zeitgenossen ein Rätsel aufgab, das diese nicht zu lösen vermochten? Um diese Fragen zu beantworten, lassen Sie uns in die Zauberwelt des arabischen Schachs eintauchen.
Türkische Handschrift (undatiert), Forschungsbibliothek Gotha
Unter dem Schwert des Islam
In nicht einmal hundert Jahren nach dem Tod des Propheten Mohammed (ca. 570–632) hatten die arabischen Nomadenstämme ein Weltreich errichtet. Das halbe byzantinische Asien, ganz Persien, Ägypten und der größte Teil Nordafrikas bis nach Spanien wurden erobert. Diese geradezu explosionsartige Ausbreitung und religiöse Unterwerfung des halben Mittelmeerraumes durch das „Schwert des Islam“ kann als das außergewöhnlichste Ereignis der mittelalterlichen Geschichte bezeichnet werden. Von den Persern übernahmen die Araber etwa im 7. Jahrhundert unter anderem auch das Schachspiel und führten es zu ungeahnter Blüte und Popularität, da sich der Islam im Gegensatz zum Würfeln und anderen Glücksspielen zu diesem Spiel indifferent verhielt. Der Koran erwähnt das Schachspiel nicht explizit, ein Glücksfall der Geschichte, denn der Prophet beurteilte Spiele an sich als überflüssig und als ein Hindernis auf dem Weg der rechten Erkenntnis. In den folgenden Jahrhunderten bildeten sich aufgrund dieser Unsicherheit die gegensätzlichsten Urteile über das Schachspiel. Je nach konservativer oder liberaler Auffassung kamen die Exegeten zum Schluss, dass das Schachspiel verflucht, unbedenklich oder gar nützlich sei. Das half bei der schnellen Verbreitung des Schachspiels, allerdings erhielten die dekorativen Figuren der Perser in den vom Islam beherrschten Regionen abstrakte Formen. Bereits um die Mitte des 9. Jahrhunderts war die Institutionalisierung des Schachs so weit fortgeschritten, dass es regelrechte Kategorien für die Leistungsstärke von Schachspielern gab. Die Schachspieler wurden in fünf bzw. sechs Klassen eingeteilt, die besten Spieler waren in der höchsten Klasse („Aliyat“) versammelt. In dieser Klasse gab es nie mehr als drei Spieler gleichzeitig. Es scheint keine gesellschaftlichen Schranken in der Praxis des Spiels gegeben zu haben; Frauen, Vornehme und Sklaven spielten ebenso wie die Söhne der Kalifen. Es etablierten sich Berufsspieler, Schachtheorie und Manuskripte entstanden, Wettkämpfe, zum Teil um hohen Einsatz, wurden ausgetragen. Der legendäre, in Bagdad herrschende Kalif H?r?n ar-Raš?d (763–809), der sich mit einer glänzenden Schar von Dichtern, Wissenschaftlern und Künstlern aller Art umgab, wurde zu einem großen Förderer des Schachspiels. Mit ihm und unter seinen Nachfolgern entstand das goldene Zeitalter des arabischen Schachs. Die Namen der größten Meister dieser Epoche, wie al-Adli (800–870), ar-Razi (825–860), al-Lajlaj (900–970), und eben unser al-Suli (ca. 880–946) waren überall bekannt und populär.
Persische Miniatur (undatiert), London
Wenig wissen wir über das Leben al-Sulis. Er war ein „Nadim“, eine Mischung aus Gesellschafter, Sekretär, Vertrauter, Dichter und Schachspieler am Hofe der Abbasiden. Er gehörte zum Gesellschaftskreis des Kalifen Muktafi (875–908) und später zu dem seines Nachfolgers Muqtadir (895–932). Schließlich war er auch einer der Gesellschafter des Kalifen Radghi (907–940), nachdem er zuvor sein Lehrer gewesen war. Nach dem Tod Radghis fiel er in Ungnade und musste unter dem neuen Kalifen Muttaqi ins Exil nach Basra gehen, wo er in Armut starb, anderen Quellen zufolge sogar getötet wurde.
Er war als der herausragende Schachspieler seiner Zeit bekannt. Seine Fähigkeiten waren sprichwörtlich, und man sagte über einen hervorragenden Schachspieler noch bis ins 13. Jahrhundert: „Er spielt Schach wie al-Suli.“
Miniatur aus einer persischen Handschrift (undatiert), Paris, Nationalbibliothek
Kunstvolle Mansuben
Eine Schachpartie entwickelte sich damals wegen der im Vergleich zum gegenwärtigen Schach eingeschränkten Gangart der Figuren langsam und behäbig. Es dauerte gut zwanzig Züge und mehr, bis die Eröffnung absolviert war und sich ein interessantes Spiel ergeben konnte. Daher entstand schon früh die Idee, von einer bestimmten Eröffnungsstellung („tabiya“) aus weiterzuspielen, um Zeit zu sparen. Es sind ca. ein Dutzend dieser Eröffnungsstellungen namentlich bekannt, die zum Teil klangvolle Namen, wie „Mujannah“ (Flankeneröffnung), „Sayyal“ (Strom, Flut) oder „Saif“ (Schwert) tragen. Berühmte Meister analysierten Eröffnungen bis tief ins Mittelspiel, gaben strategische Ratschläge und verfassten Manuskripte. Gespielt wurde seit jeher um Einsatz, der von Geld und Gütern bis hin zu Gliedmaßen, Konkubinen und Sklavinnen reichen konnte. Das Matt war aufgrund der geringeren Kraft der Figuren ein seltenes Ereignis und wurde mit mehrfachem Einsatz belohnt. Daher blühte schon von Anfang an die Kunstform der Schachkomposition. Eine Schachaufgabe wurde „Mansube“ genannt, in der versteckte, feine Gewinnwege zum seltenen Matt führten. Natürlich wurden auch hier Wetten auf die Lösung abgeschlossen.
Persische Miniatur, 14. Jahrhundert, London, Royal Asiatic Society
Unser Diagramm zeigt eine der berühmtesten Mansuben. Um sie zu lösen muss man wissen, dass die Figuren andere Zugmöglichkeiten hatten als heute, wo dieses Endspiel ein völlig uninteressantes Unentschieden wäre. Der „Sh?h“ (König) bewegte sich wie der moderne König ein Feld in jede Richtung, ausgenommen, wenn ein solches Feld von einem gegnerischen Stein beherrscht wurde. Der Wesir (Minister, Persisch „farz?n“), die zweite Figur in unserer Aufgabe, zog im Gegensatz zur heutigen Dame nur ein Feld diagonal in jede Richtung. Das Spiel war zu Ende, wenn der gegnerische König mattgesetzt wurde oder wenn er aller seiner Figuren beraubt war, aber nicht mattgesetzt werden konnte; dies war der „Beraubungssieg“.
Lösung eines Jahrtausendrätsels
Nachdem die Stellung viele Jahrhunderte als unlösbar galt, nahmen sich Ende des 20. Jahrhunderts wieder einige Schachforscher der Sache an. Doch erst dem russischen Großmeister Juri Awerbach, der viele Jahrzehnte als „Endspielpapst“ galt, gelang die Lösung, die mittlerweile durch Computerprogramme bestätigt wurde. Die Lösung wird möglich, indem man zwei Strategeme, Zugzwang und Dreiecksmanöver – beide eigentlich Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts – kennt und miteinander kombiniert:
Aus dem Manuskript des Abu’l-Fath Ahmad al-Sinjari, 12. Jh.
Schwarz ist am Zug, Weiß gewinnt
1…Kd5 2.Kb4 Sofortiges 2.Ka2? Kc4 ergibt nur ein Unentschieden, da entweder beide Wesire fallen oder der weiße vom schwarzen König ewig verfolgt wird. 2…Kd6 3.Kc4 Ke6 4.Kd4 Kf6 5.Kd5 Kf7 6.Ke5 Kg7 7.Ke6 Kg8 8.Kf6 Kh8 9.Kg6 Kg8 10.Wd2! Nachdem der König an den äußersten Rand des Brettes gedrängt wurde, gewinnt der Wesir ein wichtiges Tempo. 10…Kf8 Falls der schwarze Wesir versucht, mittels 10…Wb2 zu fliehen, folgt 11.Kf6 Wa3 12.Wc3 Kf8 13.Ke6 Ke8 14.Kd6 Kd8 15.Kc6 Kc8 16.Kb5 nebst 17.Ka4 und der Wesir wird erobert. 11.Wc1 Ke7 12.Kf5 Kd6 13.Ke4 Kc5 14.Kd3 Kb4 15.Kc2 Ka3 16.Kb1 und nun wird der schwarze Wesir erobert und die Partie durch Beraubung gewonnen. Etwas später wurde mit Computerhilfe eine hartnäckigere Verteidigung für Schwarz gefunden: 7…Kf8! 8.Kd6 Ke8 9.Kc6 Kd8 10.Kb6 Kc8 11.Kc5! Kd7 12.Kb5 Kc7 13.Kc4 Kd6 14.Kb4 Ke5 15.Ka3 Kd5 16.Kb3! Damit ist wieder die Ausgangsstellung – nach dem ersten schwarzen Königszug – erreicht, allerdings mit Schwarz am Zug. Nun verliert Schwarz nach 16…Kc5, da Weiß den Wesir nach c1 und den König nach b1 überführt: 17.Kc2 Kc4 18.Wd2 und 19.Kb1. Eine weitere Möglichkeit ist 16…Ke4 17.Ka2 Kd3 18.Wb4 Kc4 19.Wa3 und das Problem ist gelöst, da der schwarze König den weißen Wesir nicht mehr angreifen, gleichzeitig aber...