Vorwort zur 6. Auflage (2015)
Das ungebrochene Interesse des Publikums an der bekanntesten rheinischen Unterschichtenfigur Johannes Bückler, genannt Schinderhannes, ist heute immer noch dem Spielfilm von 1957 mit Curd Jürgens in der Rolle des fröhlich-kecken Räuberhauptmanns geschuldet.
Mehr und mehr setzt sich aber die Kenntnis durch, daß die tatsächliche Figur alles andere als ein fröhlicher und harmloser Draufgänger war, sondern es sich bei Bückler um einen der brutalsten Serienschwerverbrecher handelte. Das Quellenmaterial dazu ist durch diese Forschungsarbeit in den vergangenen 22 Jahren weitgehend bearbeitet, vor kurzem konnten noch weitere 600 Urteile der französischen Militargerichtsbarkeit in Köln, Koblenz und Mainz sowie die in Paris liegenden Akten der damaligen Geheimpolizei eingesehen werden. Die wichtigsten Erkenntnisse dazu sind in dieser neuen Auflage enthalten. Da aber die Lesbarkeit Vorrang vor der Darstellung aller Quellen hat, habe ich mich bemüht, den Umfang des Buches wieder nicht über 500 Seiten ansteigen zu lassen.
Zur Person
Der berühmt-berüchtigte Johannes Bückler war ein Kind der Französischen Revolution, die unsere Heimat vor 200 Jahren gesellschaftlich auf den Kopf stellte. Heute nahezu unvorstellbar waren die Umwälzungen, als eine neue Macht aus Frankreich mit den Forderungen von Freiheit und Gleichheit die angeblich von Gott eingesetzten deutschen Fürsten auf der westlichen Rheinseite hinwegfegte.
Bücklers Tod durch das Fallbeil am 21. November 1803 in Mainz markiert dabei den Punkt in der Geschichte, an dem Frankreich die ihm sechs Jahre zuvor zugefallenen linksrheinischen deutschen Gebiete unter seine vollständige Kontrolle gebracht hatte und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation mit seinem Flickenteppich von Kleinststaaten kurz vor dem Zusammenbruch steht. Über elf Jahre lang Krieg oder Kriegereien, Befreiung oder Besetzung, hatten seitdem in weiten Landstrichen am Rhein ihre Spuren hinterlassen. In dieser Zeit, in der Staat, Polizei und Rechtswesen ihre Legitimität einzubüßen drohten, konnten Vagabunden wie Bückler ihr Auskommen finden und durch ihre Taten sogar die Neugier von Romanschreibern wecken.
Was macht aber heute das Interesse an diesem Menschen aus? Es ist der Mythos eines – folgt man dem Film von 1957 und zahlreichen Romanveröffentlichungen – charismatischen Helden, der die Neugier des Publikums findet, auch wenn er sich bereits zu Lebzeiten von der historischen Figur entfernt hatte. Dieses Interesse erklärt, warum die vorliegende neue Auflage seiner Lebensgeschichte wieder viele Erweiterungen durch bislang unbekannte historische Dokumente und bereits in Vergessenheit geratene Sagen erfahren durfte.
Kurzer Abriß zu dieser Forschung
Meine Beschäftigung mit diesem Thema begann mit dem studentischen Filmprojekt „Schinderhannes“ (1993-2000).1 Die fast achtjährige Produktionszeit mit dem Ziel, die tatsächliche historische Person darzustellen, entwickelte sich zu einer etwa 25.000 Seiten umfassenden Quellensammlung, im weiteren Verlauf zu einer juristischen Forschungsarbeit an der Universität Mainz2 und zu einer bis heute andauernden Recherche.3 Man kann dabei die Arbeit an der Rekonstruktion der Lebensgeschichte Bücklers mit einem Puzzle vergleichen, dessen zigtausende verstreute Teile nie vollständig zusammengelegt worden waren. Und oft werden neue Teile dieses Puzzles entdeckt, die man nie vermutet hätte: So meldete sich zum Beispiel eine Nachfahrin Bücklers, deren Vorfahr aus einer Liaison zwischen dem Räuber und einem jüdischen Dienstmädchen hervorgegangen war. Mit ihren Abstammungsdokumenten konnte sogar die Geburtsurkunde dieses Bücklerkindes gefunden werden.4
Ein regionalgeschichtliches Buch in der sechsten Auflage erscheinen zu lassen ist heute sicherlich ungewöhnlich. Gerade auch deshalb, da über Bückler viel geschrieben wurde und auch noch geschrieben wird. Aber erstaunlicherweise wurden seine Lebensgeschichte und sein Täterprofil immer nur aus einzelnen Ausschnitten der historischen Akten zusammengesetzt und dabei viele Quellen übersehen, die zum Beispiel einen Tathergang gänzlich anders beschreiben. Grundlage der vorliegenden Arbeit ist es deshalb, allen historischen Dokumenten nachzugehen, bisher vergessene Quellen wiederzufinden und einzelne Sachverhalte selbst aus Dutzenden weit verstreuter Informationen zusammenzusetzen. Jeder einzelne Nachweis wird in diesem Buch als Fußnote geführt, um deutlich zu machen, daß Ausschmückungen keinen Platz haben und daß immer an den Originalquellen gearbeitet wurde. Für diese Arbeit habe ich in den Gemeinde- und Stadtarchiven zwischen Westerwald im Norden und Schwarzwald im Süden sowie in den Staatsarchiven von Wien, Berlin, Paris, Koblenz, Marburg, Wiesbaden und Darmstadt oder auch vor Ort bei den Nachfahren der Hessen und Hunsrücker in Brasilien recherchiert und darüber hinaus viele interessante Menschen kennengelernt, die mir Familiengeschichten dazu mitteilen konnten. Die Ergebnisse dieser Suche haben zu einem ganz anderen, bisher unbekannten Schinderhannes-Bild geführt. Aber nichtsdestotrotz sieht man vielerorts den Räuber noch immer so, wie er in dem gleichnamigen Spielfilm von 1957 durch Curd Jürgens verkörpert wurde – und zwar als „edlen“ Räuber und harmlosen Halodri. Die Erwartungshaltung vieler Menschen geht also immer noch in die gleiche Richtung und wird durch eine touristische Vermarktung (Schinderhannes-Festspiele, Schinderhannes-Wanderwege etc.) bedient. Zum Unwillen vieler Heimatforscher werden dabei Männer und Frauen übergangen, deren Verdienste für die Heimat eine Würdigung ihres Namens verdient hätten. Das „Spektakel“ zu Bückler macht eine wertungsfreie Arbeit an den zeitgenössischen Papieren schwierig. Man ist versucht, voreilig zu urteilen, ohne vorher alle Quellen zu einem Punkt zusammengetragen zu haben. Fast scheint eine Recherche überflüssig, glaubt man doch, vom Hörensagen alles über ihn zu wissen. Es ist kaum erstaunlich, daß es vor dem Erscheinen dieses Buches keine Forschung gab, in der die historischen Dokumente möglichst vollständig zusammengetragen und ausgewertet wurden. Aber selbst auf die Dokumente des Mainzer Gerichtsverfahren 1802/03 sollte man sich nicht verlassen: Die Richter mußten zum einen aus Zeitdruck ihre Arbeit einschränken, zum andern fehlte es ihnen an der Notwendigkeit, alle Aufzeichnungen auszuwerten – das Gesetz sah bereits für Helfer bei einem mit Waffen ausgeführten Einbruchdiebstahl die Todesstrafe vor. Die Erforschung weiterer Details war also damals schon aus juristischer Hinsicht völlig unwesentlich.
Im vorliegenden Buch war es nicht das Ziel, ein neues Urteil zu fällen, sondern allein mit wissenschaftlicher, wertneutraler Methodik das Aktenmaterial auszuwerten, um ein möglichst vollständiges Bild zu erhalten und Tatsachen von Mythen zu trennen: Dazu gehört es, alle Aussagen zu einem Tathergang gegenüberzustellen und nicht bei einer einzigen Aussage stehenzubleiben. Meist war das eine außerordentlich mühselige Arbeit, aber erst durch sie konnten alle nachweisbaren Straftaten des Räubers zusammengestellt sowie alle Mittäter und Opfer genannt werden, soweit sie aus dem Aktenmaterial hervorgehen. Es genügt dabei auch nicht, nur mit den bekannten Ermittlungsakten zu arbeiten, die unter anderem in Stadtarchiv und Stadtbibliothek Mainz vorliegen: Denn in diesen Dokumenten wusch sich der Räuber die Weste rein – ein Umstand, der bislang niemandem aufgefallen war. Erst durch die Einbeziehung der Ergebnisse der Mainzer Hauptverhandlung von Oktober/November 1803, die Notizen der Richter, der Presse und anderer Augenzeugen entsteht das wohl authentische Bild dieses Menschen. Für das vorliegende Buch sollte diese Arbeit ein erster Teil sein; ein zweiter war die Ausdehnung der Forschung über die Ortsnachweise und Sagen sowohl links als auch rechts des Rheins. Nicht zuletzt hat auch der kurze Forschungsaufenthalt 2007 in der 1824 entstandenen Hunsrücker und Hessen-Darmstädter Kolonie des brasilianischen Bundesstaates Rio Grande do Sul (Brasilien) Einfluß auf diese Arbeit gehabt. Weitab von jeder Beeinflussung aus der alten deutschen Heimat hielt sich unter den Nachfahren der Ausgewanderten der wohl ursprünglichste Schinderhannes-Mythos – der des Pferdediebs, des Nichtsnutzes, des Kinderschrecks. Keiner kannte ihn als Räuberhauptmann oder gar als Robin Hood, der Armen Gutes tat. Es ist kaum erstaunlich, daß sich gerade diese Angaben mit den historischen Quellen decken. Bückler, oder besser gesagt die Figur mit dem bekannten Rufnamen Schinderhannes, erfuhr viele Zuschreibungen, aber tatsächlich war er nur durch eine Kette von Umständen zu einer heute so mythisch verklärten Figur geworden. Im vorliegenden Buch wird darauf noch ausführlich eingegangen.
Bei der Arbeit an diesem Buch habe ich dankenswerterweise viele Anmerkungen, Ergänzungen und Korrekturen erhalten. Aber nicht nur einmal – da bitte ich um Verzeihung – habe ich Bestürzung bei...